Die Gäste von Anne Will stochern zum Ukraine-Krieg im Nebel

1.300 Kilometer liegt Kiew von Berlin entfernt. Die Debatte um den Ukraine-Krieg in der Show von Anne Will ist noch weiter entfernt vom Geschehen – und sorgt für den Verdacht, dass es der deutschen Politik genauso geht.

Screenprint: ARD / Anne Will

Anne Will hat Martin Schulz ausgekramt. Das wirft Fragen auf: Wo war er die ganze Zeit? Was macht er heute? Oder interessiert das einen überhaupt? Zumindest die letzte Antwort drängt sich auf und lautet: eigentlich nein. Nun spricht Martin Schulz über den Ukraine-Krieg. Genauso viel würde es einem bringen, wenn der Dirk oder der Rainer dazu an der Theke was erzählen würden. Aber dann hätte man wenigstens einen Schoppen vor sich stehen.

Nach acht Monaten Krieg. Nach dutzenden Sendungen scheint Anne Will die Lust an dem Thema und an der Vorbereitung verloren zu haben: China hat bisher nicht auf Russland eingewirkt. Oder vielleicht gibt es doch Anzeichen dafür. „Man weiß es nicht genau“. Frau Weisband, sagen sie doch mal was dazu. Nun ist Marina Weisband Publizistin, Politikerin der Grünen, aber vor allem so eloquent, dass sie 90 Sekunden gut volltalken kann, auch wenn sie den Ball so derart lustlos zugespielt bekommt.

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Spannend wird die Talkshow eher zufällig. Die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann plaudert aus, dass sie spannende Informationen erhalte. So erführe sie einiges durch den britischen Geheimdienst. Durch den britischen? Also, der gebe seine Informationen über die Medien weiter und so komme sie daran. Das ist spannend. So oder so. Entweder hat sich die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag gerade um Kopf und Kragen geredet und verraten, dass die deutschen Abgeordneten vom britischen Geheimdienst gefüttert werden. Oder eine hochrangige deutsche Politikerin ist auf britische Medien angewiesen, um sich zu informieren. Beides wäre bemerkenswert.

Hinweise, dass Deutschland nur schlecht über Russland informiert ist, dafür gibt es Hinweise. Allen voran die Tatsache, dass BND-Präsident Bruno Kahl vom Kriegsausbruch in Kiew buchstäblich überrascht wurde. Ein Sonderkommando musste den obersten deutschen Geheimdienstler rausholen. Deutschland hat sich demnach energiepolitisch und somit auch wirtschaftspolitisch von einem Land abhängig gemacht, das es nachrichtendienstlich vernachlässigt hat. Blindflug im doppelten Sinn.

Und wenn denn der Staat blindfliegt, wieso soll es da sein Fernsehen besser machen? Der amerikanische Präsident Joe Biden hat vor einem „Armageddon“ gewarnt, also dem Weltuntergang, leitet Will ein. Verbal ein wenig Gas gegeben auf einem Dinner, das dem Eintreiben von Spenden dient. Dann habe er es wieder zurückgenommen, sagt Will. Was gelte denn nun? Und Wills Gäste reden darüber, was sie glauben, dass die Amerikaner es glauben, und warum die Amerikaner glauben, was die Gäste glauben, dass sie es glauben. „So richtig wissen wir das nicht“, sagt Strack-Zimmermann als führende Expertin. Die Zeit wäre sinnvoller an der Theke verbracht – mit Dirk und Rainer und einem Schoppen vor sich.

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Strack-Zimmermann lässt sich keine Talkshow entgehen. Aber das andere Spitzenpersonal scheint die Lust an dem Thema zu verlieren. Deswegen muss Anne Will Martin Schulz ausgraben und Sarah Pagung. Sie ist Expertin. Heißt es. Sie sagt, es gebe in Russland keine Kriegsmüdigkeit. Woher sie das wisse? Aus russischen Meinungsumfragen. Talkshow-Redaktionen haben ein Faible für Expertinnen, weil diese das selbst gesetzte Frauenquotenziel zu erfüllen helfen. Aber nach diesem Beitrag nimmt Will Pagung weitgehend aus dem Geschehen. Sie darf nachher nochmal Strack-Zimmermann Recht geben, wenn die zur Kriegsentschlossenheit aufruft.

Dann hat Will noch einen speziellen Gast eingeladen: den Schriftsteller Viktor Jerofejew. Offensichtlich entschlossen, die Pöbel-Lücke zu füllen, die der geschasste ukrainische Botschafter Andrij Melnyk hinterlassen hat: „Das Wort Gesellschaft lässt sich auf Russland nicht anwenden.“ Die gebe es nicht. Aber das gefällt dem Poeten noch nicht. Er legt nach: „Bringen wir das Land auf die Intensivstation oder in das Leichenschauhaus. Ich bin der Meinung, es ist schon im Leichenschauhaus. Wie eine Leiche, die zerfällt.“ Yeah. Das melnykt.

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Russland funktioniere nicht, sagt Jerofejew. Es habe viele Niederlagen erlebt. Im Russisch-Japanischen-Krieg, im Ersten Weltkrieg. Kriege, die Russland gewonnen hat, fallen ihm nicht ein. In Berlin sitzend. In Berlin-Adlershof. Im Osten der Stadt. Zu Wladimir Putin hingegen fällt ihm das Wort „Gopnik“ ein. Der Dolmetcher übersetzt es mit „Hinterhofschläger“. Das trifft es nur bedingt. Die GOP war eine Siedlungsgesellschaft, die im Kommunismus Häuser für Arbeiterfamilien baute. Die proletarischen Viertel waren harte Pflaster, Männer mussten sich durchprügeln, wer stark war, galt als Kerl – daher Gopnik. Jerofejew erklärt es nicht. Vielleicht geht es auch in der Übersetzung verloren. Aber er betont das Wort „Gopnik“. Er wiederholt es. Und das hat auch einen guten Grund: Sein neues Buch heißt „Der große Gopnik“. Darauf weist Will auch hin. Also man kann sein Buch kaufen. Wäre auch das Geheimnis hinter diesem Gast geklärt.

Jerofejew darf sein Buch bewerben und über Putins Charakter mutmaßen. Aber das tun die anderen Gäste auch. Das mit dem Mutmaßen: Wir müssen seine Drohung mit Atomwaffen ernst nehmen, dürfen uns aber nicht einschüchtern lassen, auch wenn wir akzeptieren, dass die Menschen Angst haben, dürfen uns aber nicht einschüchtern lassen, auch wenn … das klingt schon in der Zusammenfassung endlos öde. Und ist als Show so schwer zu schlucken wie ein 17. oder ein 23. Schoppen.

Es bleibt an Weisband, das Klügste zu sagen: Es bringe gar nichts, ständig darüber zu philosophieren, was Putin meint und was nicht. Der Staat müsse schlicht und einfach handeln: Putin verstößt gegen eine Regel, gegen ein Gesetz. Also muss das bestraft werden. Durch Sanktionen oder durch Waffenlieferungen. Es braucht keine Minute, um das zu erklären. Doch es lässt sich kaum argumentieren, wozu die anderen 59 Minuten von Anne Will gut waren.

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Kommentare ( 63 )

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63 Comments
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hoho
1 Jahr her

Also wenn wir jeden bestrafen wollen, der gegen Regel verstoßen hat, dann muss man sich entschieden, mit wem wir als nächstes anfangen. Also nach dem Endsieg. Die Liste ist lang und man konnte sogar ein Paar Grüne Politiker aus D. da finden. Ich bin gespannt. Es ist natürlich wahr, dass D. in dem heutigen Zustand weiter in dem Krieg teilnehmen wird, auch wenn das kinetisch wird und auch wenn am Ende Massenmorde und ethnische Säuberungen der Ukrainer auf das Licht kommen. Das muss jeder erkennen der hier lebt. Wir sind nicht souverän. Wir tun alles was USA auch von uns… Mehr

RMPetersen
1 Jahr her

„Putin verstößt gegen eine Regel, gegen ein Gesetz. Also muss das bestraft werden.“ Herr Thurnes, man mag das bedauern, aber es ist so: Für Weltmächte mit erheblichen Atomwaffenarsenalen gelten offensichtlich andere Regeln. Sie überfallen souveräne Staaten, wie die USA zB den Irak, bombardieren nach Belieben Staaten wie Serbien, Syrien und Libyen (- kleine Auswahl). Und deren dokumentierten Kriegsverbrechen und andere Verbrechen gegen Menschlichkeit und Völkerrecht bleiben unbestraft. Warum das für Russland grundsätzlich anders sein soll als mit den USA, müsste begründet werden. Ich bin gegen die russische Invasion, für die sich die Putin mit seinen Beratern entschieden hat, um die… Mehr

Kassandra
1 Jahr her
Antworten an  RMPetersen

Vielleicht verändern die midterms die Machtverhältnisse, so dass bald Ruhe einkehren kann. Denn auch die USA können es sich nicht leisten, auf Dauer Milliarden in die Ukraine zu transferieren, der es nicht möglich ist, sich von alleine zu unterhalten, geschweige denn einen Krieg zu führen.

hoho
1 Jahr her
Antworten an  RMPetersen

Das Bestrafen Russlands ist mit dem Glauben begründet, dass wir Russland bestrafen können. Das ist ein gerichtlicher Zweikampf, durch den man ein Gottesurteil erreicht.
Ethik und andere Dinge haben damit gar nichts zu tun. Wie auch?

Jatoh
1 Jahr her

So, so.
Russland hat schon viele Niederlagen erlebt.
Und wie war das mit Deutschland?
Es eilte von Sieg zu Sieg.
Zumindest in der Propaganda.
Wie heute auch.

Brotfresser
1 Jahr her
Antworten an  Jatoh

Die kommenden Siege zählen aber auch schon: Wir werden die ersten sein, die den Klimawandel besiegen! Dafür werden wir soviel hungern und frieren, dass wir die steigenden CO2-Emissionen der restlichen Welt (inkl. China) mit wegkompensieren werden! Wie? Sie meinen, wir in Deutschland könnten gar nicht soviel einsparen, wie China an jährlichem Zuwachs habe? Bitte verwirren Sie mich und meine grünen Freunde nicht mit Fakten oder gar der Realität! Hinweis für Raucher: „Fakten können Ihre Illusionen schädigen!“ Weiterhin werden wir weltweit Armut, Hunger und Krieg besiegen, indem wir dafür sorgen, dass alle Erdenbürger, die mühselig und beladen sind, bei uns einen… Mehr

Georg J
1 Jahr her

Weisband: „… Also muss das bestraft werden. Durch Sanktionen oder durch Waffenlieferungen.“

  • Was für eine „Bestrafung“ soll das sein, wenn die Sanktionen uns mehr schaden als Russland und die Waffenlieferungen, kaum im Einsatzgebiet angekommen, zerstört werden?

Im Ukrainekrieg gilt das Gleiche wie bei Corona und Klima: die Debatte wird weitgehend faktenfrei und nur „narrativgetrieben“ geführt. Deswegen auch die Ratlosigkeit wenn die Realität stärker als das Narrativ ist.

Weiss
1 Jahr her
Antworten an  Georg J

Schade ist, dass die Sendung wenig zur Faktenlage beigetragen hat. Auf eine nüchterne Aufklärung kann man im BRD-TV deshalb eher lange warten. Leider werden ja nie beiden Seiten der Medaille dargestellt. Meistens hat man es eher mit einseitiger westlicher Propaganda zu tun. Auf die russische Sichtweise wird so gut wie gar nicht im BRD-TV eingegangen. Frau Weisband hätte allerdings faktenorientiert in der TV-Sendung schon sagen können, dass es in der NATO Probleme mit der Munitionsbeschaffung gibt. Wird vom Pentagon aktuell hier eingeräumt: https://www.foxnews.com/politics/us-signals-slowdown-high-end-munitions-deliveries-ukraine Wie will da die NATO bei der anstehenden russischen Großoffensive Rußland ernsthaft auf dem Schlachtfeld begegnen können… Mehr

Kassandra
1 Jahr her
Antworten an  Weiss

Man hat es sich seit 2014 auf Steuerzahlers Kosten ja im Westen auch etliche Milliarden kosten lassen: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Auslandshilfen_f%C3%BCr_die_Ukraine_seit_2014
Dass das auf Dauer so weiter gehen könnte, gerade, wenn die midterms die Machtverhältnisse verändern, wird unmöglich sein.
Aber vielleicht hat man inzwischen auch genug Geld über den Weg „Ukraine“ in andere Kanäle geleitet und ist jetzt bereits mit dem, was über Co², Klima, Energieverknappung und der damit zusammenhängenden Energiekostenerhöhung in die Kassen kommt, vollst zufrieden?

Endlich Frei
1 Jahr her

Deutschland ist mitten drin im Krieg und man macht sich vor, es sei nicht so.

Kassandra
1 Jahr her
Antworten an  Endlich Frei

Hinsichtlich Migration ist bei uns Krieg. Aber das auszusprechen wäre ein Sakrileg! Im Burgenland stürmen sie die Grenze und einer spricht von „segensreichem Weitertransport“ – statt eine Verteidigung von Grenze und Land anzuregen.
„Es werden 8 bis 10 Millionen Flüchtlinge kommen und wir werden sie alle aufnehmen“, so Baerbock am Wochenende in Bonn: https://twitter.com/ZhangDanhong/status/1581464508257931264?cxt=HHwWgMDQ-evlvvIrAAAA

StefanB
1 Jahr her

Weisband: „Der Staat müsse schlicht und einfach handeln:…“

Ja, aber nicht der deutsche, denn er führt mit Russland keinen Krieg. Deshalb hat er weder Waffen irgendwelcher Art zu liefern, noch ukrainische Soldaten auszubilden. Ukrainischen Flüchtlingen kann er, soweit es solche sind, helfen – und zwar in den nicht umkämpften Gebieten der Ukraine. Nicht mehr und nicht weniger. Klar, Deutschland hat das nicht selbst zu bestimmen, da es seit WKII nicht souverän ist.

Don Martin
1 Jahr her

Ganz ohne Geheimdienst:

  • China fordert seine Bürger auf, die Ukraine so schnell wie möglich zu verlassen. Zu den Ländern, die vor Kurzem ihre Botschaften geschlossen und/oder ihre Bürger aufgefordert haben, die Ukraine zu verlassen, gehören neben China auch andere:
  • Kasachstan, Kirgisistan,Usbekistan, Turkmenistan,Tadschikistan, Weißrussland, Ägypten,Indien

Warum wohl? Da müsste man jetzt wieder 007 fragen.
Vielleicht hat ders auch gelesen…. Oder im Radio (Weltempfänger) gehört, nach den ersten 3 Tönen von Beethovens Neunte. ;))
Oder war das doch Rachmaninovs 29te. Ich bin schon ganz durcheinander. Wann ist Stammtisch?

Kassandra
1 Jahr her
Antworten an  Don Martin

radio.garden übers www – und man kann alle Radiostationen der Welt ansteuern!

moorwald
1 Jahr her

Immer wenn es ans „Psychologisieren“ geht, wid es Zeit, abzuschalten.
Genauso wenig erfaßt man das Geschehen, wenn man nur in den Kategorien von Moral und Recht denken und beurteilen kann.
Wie es immer ein Fehler ist, zu vernachlässigen, was Macht in dieser Welt bedeutet.

Deutscher
1 Jahr her

Strack-Zimmermann kennt nicht mal die grundlegendsten Zahlen und Fakten. In einem Radio-Interview hat sie vor zwei Wochen behauptet, in der Ukraine gäbe es täglich Tausende von Opfern durch den Krieg. Dabei lag die Gesamtzahl laut Angaben von UN und ukrainischer Regierung Ende August bei 15.000 Soldaten und Zivilisten.

Last edited 1 Jahr her by Deutscher
Nun ja
1 Jahr her
Antworten an  Deutscher

Tausende ist natürlich Unsinn, aber die 15.000 genauso. Die ukrainische Armee hat wesentlich höhere Verluste erlitten. Umgekehrt ist aber auffällig, das die Zivilisten durch die russische Kriegsführung bisher erstaunlich wenig gelitten haben.

Kassandra
1 Jahr her
Antworten an  Nun ja

Wenn man Putin wie Lawrow insbesondere seit Februar 2022 zugehört hat ist das nicht erstaunlich. Sie wollten so vorgehen, dass so wenig wie möglich zerstört und so wenig wie möglich verletzt werden.
Seltsamerweise hört man so fast gar nicht, was in Restselenskyjland nach der Zerstörung der 3 Röhren von Nordstream und dem Angriff auf die Kerschbrücke durch den „Rückschlag“ der Russen in die Binsen ging. Wenn es stimmt, dass die Energieversorgung darniederliegt, müssten das Satellitenbilder aus dem All bei Nacht bestätigen.

Teide
1 Jahr her

„So erführe sie einiges durch den britischen Geheimdienst.“
Aus den Medien. Natürlich. Steht jeden Tag in der „Welt“ was sich der britische Geheimdienst do ausgedacht hat.