Ein Blick zurück auf Ralf Dahrendorf

2002 eine konservative Wende, Freiheit muss ihre Grenzen kennen. Für die Belehrungen der Realität hatte Dahrendorf stets ein gutes Gehör.

© Frank Barratt/Keystone/Getty Images
3rd October 1974: Director of the London School of Economics and Political Science Ralf Dahrendorf.

Franziska Meifort hat gerade ein Buch über Ralf Dahrendorf vorgelegt (Beck Verlag München). Dafür gebührt ihr Anerkennung, schon vor der Lektüre. Denn der Protagonist  besaß lange einen klingenden Namen in Wissenschaft, Politik, Medien und Öffentlichkeit. Heute löst er eher verlegene Fragezeichen aus – ja, wer war das noch?

Das Politische war ihm 1929 in die Hamburger Wiege gelegt worden: sein Vater Gustav saß seit 1927 für die SPD  in der Hamburger Bürgerschaft und 1931-32 im Deutschen Reichstag. Zum weiteren Kreis der Verschwörer des 20. Juli 1944 gehörend, kam er wegen Mangels an Beweisen mit einer Gefängnisstrafe davon.

Mit 23 Jahren promoviert Sohn Ralf in Philosophie mit einer Arbeit über Karl Marx und dessen „Begriff der Gerechtigkeit“, die den künftigen Soziologen schon ahnen lässt. Ein Postgraduate in London begründet die Wahlverwandtschaft mit den angelsächsischen Ländern. Danach, in Saarbrücken, Assistent und Habilitation in Soziologie über „Soziale Klassen und Klassenkonflikt“. 1958 erste Berufung, nach Hamburg auf den Lehrstuhl an der Akademie für Gemeinwirtschaft. Schon 1960 in Tübingen das erste Universitätsordinariat für immerhin sechs Jahre, bevor er in Konstanz die neue Universität mit begründet und bis 1969 weitere drei Jahre in Forschung und Lehre wirkt. Nun greift er gedanklich und politisch in die schwelenden Konflikte der sechziger Jahre ein.

Als Soziologe (einer damals noch kleinen, geradezu familiären Disziplin) macht er sich mit zwei Begriffen populär. Er konstruiert zuerst den „Homo Sociologicus“, einen Menschen, der sich ständig von den Rollen-Zumutungen der Gesellschaft bedrängt, bedrückt und genötigt sieht. Diese ein wenig paranoide Soziologie berührt das Lebensgefühl vieler Intellektueller, das Büchlein avanciert zu einer Art sozialwissenschaftlicher Mao-Bibel, deren Weisheiten man gern im Munde führt (Nebenbei gesagt, wird es einer von lediglich drei soziologischen Bestsellern der Bundesrepublik, nach Helmut Schelskys „Soziologie der Sexualität” von 1957 und Ulrich Becks „Die Risikogesellschaft“ von 1980). Noch tiefer bohrt Dahrendorfs Auffassung von Konflikt und Kampf um Macht, die er zu einem schöpferischen Moment im sozialen Leben erhebt; unlösbar zwar, aber doch zu regeln. Damit begibt er sich auf ein Minenfeld. Überall brodelt es schon unterirdisch, die Adenauer-Ära geht ihrem Ende entgegen, aber in der Öffentlichkeit wird nach wie vor ein harmonisches, ja gemütliches Bild des Landes gezeichnet. Abweichler vom Konsensus werden übel beschimpft, bis hin zum „Pinscher-Vorwurf“ von Bundeskanzler Ludwig Erhard (Heute heißt es wenigstens höflicher: „Sie spalten die Gesellschaft!“, wenn jemand politisch unkorrekt argumentiert). Da kommt Dahrendorfs Furioso gerade recht, um so mehr, als sein wissenschaftlicher Zugriff gekonnt zwischen den Extremen von konservativer Systemtheorie (Luhmann) und revolutionärem Postmarxismus (Frankfurter Schule) manövriert, also akademisch salonfähig ist. Und Dahrendorf darf sogar der NS-Diktatur bescheinigen, nicht nur finstere Reaktion gewesen zu sein, sondern zur Modernisierung Deutschlands kräftig beigetragen zu haben („Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“)

Akute Ignoranz
Politisch gewollte Staatsverwahrlosung
, Jetzt wagt er den Sprung vom Hörsaal in die große Politik. Er tritt 1967 der FDP bei, die gerade die harten Oppositionsbänke in Bonn besetzt. Auf dem Stuttgarter Dreikönigstreffen 1968 fühlt sich bereits jeder Delegierte bemüßigt, auf „Professor Dahrendorfs“ Ausführungen hinzuweisen. Legendär wird die Debatte, die er im gleichen Jahr auf dem Dach eines VW-Transporters mit Rudi Dutschke führt. Dahrendorf macht aus seiner Abneigung gegen die Außerparlamentarische Opposition keinen Hehl, sie war ihm nie eine verfassungsgemäße Kraft und anders als Dutschke, den heute nicht wenige wie einen deutschen Messias verehren, lässt er sich niemals zu einer pauschalen Kapitalismusschelte hinreißen.

Die politische Karriere des Seiteneinsteigers ist kurz, aber heftig. Von 1968 bis 1974 im Bundesvorstand seiner Partei, wird er umgehend Abgeordneter der neuen sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt und Walter Scheel, avanciert zum parlamentarischen Staatssekretär im Auswärtigen Amt, danach zum Mitglied der Kommission für Bildung und Forschung bei der Europäischen Gemeinschaft.. Nach polemischen Attacken (in der „Zeit“) auf die Praxis der europäischen Institutionen unter dem netten Pseudonym Wieland Europa ist die Geduld seiner Parteifreunde erschöpft und seine gleichfalls. Er verabschiedet sich von der politischen Bühne. FDP-Mitglied verbleibt er noch bis 1988.

Somit beginnt ein neuer Lebensabschnitt, den er in seinen Lebenserinnerungen mit Understatement bilanziert. „Ich wurde dann Engländer“. Ein Vierteljahrhundert lang wirkt er als Leiter berühmter Bildungsstätten in London und Oxford. 1982 geadelt, 1988 Zuerkennung der Staatsbürgerschaft, 1993 Mitglied des Oberhauses. Eigentlich unvorstellbar, denkt man an die totale Niederlage Deutschlands von 1945.

In seinem Herkunftsland bleibt er präsent durch permanente Mitarbeit in diversen Presseorganen, besonders der „Zeit“, in Diskussionen in Rundfunk und Fernsehen und auf Konferenzen. Er erhält fünfzehn oder mehr Preise bzw. Auszeichnungen, darunter 1974 das Bundesverdienstkreuz. 1999 wird er Ehrensenator der Universität Hamburg, die 2002  sein 50-jähriges Doktorjubiläum mit einem akademischen Festakt begeht. Was den streitbaren Ralf Dahrendorf aber nicht davon abhält, als Mitglied einer Kommission zur Strukturreform dieser Universität mit der – erfolglosen – Empfehlung anzuecken, das Fach Soziologie abzuschaffen.

Kaum beachtet, vielleicht sogar totgeschwiegen, wird die radikale Revision seiner früheren Schriften. Schon 1979 stehen nicht mehr Konflikt, Herrschaftszwänge und sozialer Wandel im Mittelpunkt seiner Überlegungen. Gesellschaft schaffe Zugehörigkeiten, Bindungen und Bezüge („Ligaturen“), nur innerhalb derer dem Einzelnen „Lebenschancen“ zuwachsen würden. Protestgestus und Gesellschaftsphobie sind völlig verschwunden, nun geht es Dahrendorf um die Möglichkeiten, das Soziale sinnvoll zu gestalten. Das steigert sich 2002 in einer letzten Vorlesungsreihe zur Frage, wie in einer haltlos gewordenen Welt einigermaßen stabile Ordnungen bewahrt und produktiv weiterentwickelt („Optionen“) werden können. Eine konservative Wende, die auch dem politischen Separatismus eine deutliche Absage erteilt. Freiheit muss ihre Grenzen kennen. Für die Belehrungen der Realität hat Dahrendorf anscheinend ein gutes Gehör gehabt, und sein Mut ließ ihn auch theoretisch neu beginnen.

Dahrendorf starb 2009. Der Wanderer zwischen den Welten (zuletzt hatte er Wohnsitze in London und im Schwarzwald) fand seine letzte Ruhe auf dem Hamburger Friedhof Ohlsdorf, neben seinem Vater.


Rainer Waßner ist Dozent i. R., hat mehrere Bücher zur Geschichte der Hamburger Soziologie veröffentlicht.

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Kommentare ( 6 )

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Bernhard K. Kopp
6 Jahre her

Nur nebenbei: welche intellektuellen, politischen und rhetorischen Kaliber sind heutzutage ‚Parlamentarischer Staatssekretär‘ wie Dahrendorf es einmal war ? Man muss die Heutigen nicht mehr namentlich kennen. Man glaubt kaum, dass es sich noch um das gleiche Land handelt.

shadman
6 Jahre her

irgendwie beschleicht mich bei dem Artikel das Gefühl, dass der frühere Liberale noch komplexere Ziele hatte, als Handlanger einer Lobby zu sein und eindimensionale Klientelpolitik zu betreiben, indem man Steuersenkungen für eben diese fordert. Ach ja, als Mehrheitsbeschaffer unterschiedlich gefärbter Regierungen versteht sich der Liberale ja auch noch… Mehr von der Sorte Dahrendorf in der FDP und ich würde morgen einen Mitgliedsantrag bei Der FDP stellen – was mich jedoch freilich nicht von meinem definitiven Entschluss abbringen würde, dieser Partei bei Wahlen nie wieder eine Stimme zu geben.

shadman
6 Jahre her

irgendwie beschleicht mich bei dem Artikel das Gefühl, dass der frühere Liberale noch komplexere Ziele hatte, als Handlanger einer Lobby zu sein und eindimensionale Klientelpolitik zu betreiben, indem man Steuersenkungen für eben diese fordert. Ach ja, als Mehrheitsbeschaffer unterschiedlich gefärbter Regierungen versteht sich der Liberale ja auch noch… Mehr von der Sorte Dahrendorf in der FDP und ich würde morgen einen Mitgliedsantrag bei Der FDP stellen – was mich jedoch freilich nicht von meinem definitiven Entschluss abbringen würde, dieser Partei bei Wahlen nie wieder eine Stimme zu geben.

Heinz Brunner
6 Jahre her

Vielen Dank, Herr Waßner. Ich „kannte“ Herrn Dahrendorf leider lediglich von sehr ruhigen, sachlichen Ausführungen zu Ökonomiethemen im Wirtschaftsteil einer Finanzzeitung.

Heinz Brunner
6 Jahre her

Vielen Dank, Herr Waßner. Ich „kannte“ Herrn Dahrendorf leider lediglich von sehr ruhigen, sachlichen Ausführungen zu Ökonomiethemen im Wirtschaftsteil einer Finanzzeitung.

Poco100
6 Jahre her

Ja soll man sagen, für mich war Ralf Dahrendorf der letzte bekannte Liberale. Danach nach bis zum heutigen Tag nur krass gesagt FDP bla,bla,bla, Namen hierzu wären Schall und Rauch….