Vor der Corona-Video-Konferenz: Die Kanzlerin wird „brachial“

Merkel ist offensichtlich nicht bereit, das zentrale aktuelle Politikfeld der Pandemiebekämpfung und die Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung, die dafür als Lohn winkt, den Länderregierungschefs, geschweige denn irgendwelchen Landräten und Bürgermeistern zu überlassen.

imago Images/poliitical moments

Das Wort passt nun ganz und gar nicht zum öffentlichen Image von Angela Merkel: „Brachial durchgreifen“ wolle Merkel, das habe sie, so RTL, im CDU-Präsidium am Montag mit Blick auf die heutige Videokonferenz mit den Länderregierungschefs angekündigt. Die Wortwahl der Kanzlerin ist oft nicht gerade messerscharf und treffend. Aber, wenn es denn so gesagt wurde, dann offenbart dieses Adjektiv, das meist im Zusammenhang mit Gewalt verwendet wird, wie entschlossen Merkel ist, in der Corona-Politik ihren Machtanspruch durchzusetzen. 

„Es muss in Berlin was passieren“, wurde die Kanzlerin zitiert. Sie habe, so heißt es in Medienberichten, Zweifel, dass die Berliner Landesregierung angesichts stark steigender Infektionszahlen in der Hauptstadt ernsthaft versuche, Maßnahmen gegen die Ausbrüche einzuleiten. 

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Damit mag sie Recht haben. Doch aus ihrem Munde ist ein solcher Satz ein erstaunlicher Vorgang im föderalen Staat Bundesrepublik. Zum zweiten mal in diesem Jahr schon drückt die Kanzlerin damit überdeutlich ihr Missfallen an der Politik einzelner Bundesländer aus und mischt sich damit in Entscheidungen ein, die sie verfassungsmäßig eigentlich nichts angehen. Das erste mal war sie damit bekanntlich sehr erfolgreich, als sie aus Südafrika dekretierte, dass die Wahl Thomas Kemmerichs zum Ministerpräsidenten in Thüringen ein „unverzeihlicher Vorgang“ sei, der „rückgängig“ gemacht werden müsse. Und so geschah es dann ja auch. Nun fordert sie von der Berliner Landesregierung, etwas zu tun, was nach der föderalen Verfasstheit der Bundesrepublik ebenso in deren Verantwortlichkeit liegt wie die Wahl eines Ministerpräsidenten. 

Die Landespolitiker in Thüringen und alle Bundesparteien haben sich das widerspruchslos gefallen lassen – mit Ausnahme der AfD natürlich, aber die war ja in dem Fall politisches Objekt, nicht Subjekt. Warum also sollte Merkel es nicht nochmal versuchen? Rechtlich festgeschriebene Zuständigkeiten sind schließlich nur dann machteffektiv, wenn sie auch in Anspruch genommen werden. 

Merkel bringt also nicht nur ihre konkreten Vorschläge mit in die Videokonferenz, sondern vor allem ihren Anspruch, über die Länderzuständigkeit hinweg die Leitlinie der Corona-Politik selbst zu setzen. Warum eigentlich? Eine Kanzlerin, die bei der nächsten Bundestagswahl nicht mehr zur Wahl antritt, könnte sich eigentlich auf eine ausgleichende, vermittelnde Position zurückziehen. Gerade angesichts der immer mehr sich durchsetzenden Erkenntnis, dass die Pandemie regional sehr verschieden stark wütet und daher Länderregierungen und Kommunen vermutlich tatsächlich schneller und zielführender handeln können als die Bundesregierung. 

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Aber Merkel ist ganz offensichtlich nicht bereit, das aktuell wichtigste Politikfeld der Pandemiebekämpfung und die Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung, die dafür als Lohn winkt, den Länderregierungschefs oder geschweige denn irgendwelchen namenlosen Landräten und Bürgermeistern zu überlassen. Der bisher relativ glimpfliche Verlauf der Pandemie in Deutschland zahlt aufs Wählerkonto der Bundes-CDU und nicht zuletzt Merkels selbst ein. 

Nach ihrer Thüringer Erfahrung und angesichts der offenkundigen Schwächen aller ihrer potentiellen Nachfolger in den Unionsparteien (von der SPD ganz zu schweigen) sieht Merkel offensichtlich keinen Grund zur Zurückhaltung. In den Länderregierungen scheint die Entschlossenheit zur Wahrnehmung ihres verfassungsmäßigen Anteils an der politischen Entscheidungsgewalt nicht besonders ausgeprägt.

Da ist Merkel aus anderem Holz geschnitzt. Wenn es um die Macht geht, wird sie „brachial“. Vielleicht werden wir dahingehend auch noch einen Gesinnungswandel erleben, wenn es um die Frage der Kanzlerkandidatur geht.

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