Genozid oder nicht – wir sind mitschuldig am türkischen Massaker

Wir stehen vor einer Weihnachtswoche, in der die Floskel vom Frieden auf Erden zu einer Farce wird.

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Wo beginnt Völkermord? Ist es schon einer, wenn rund 100 Menschen einer Volksgruppe angehören, die sich weigert, zwangsassimiliert zu werden? Ist es schon Völkermord, wenn mit massiver Militärmacht gegen Anhänger einer Bewegung vorgegangen wird, die zugegeben früher gegen die Befehlshaber der Militärmacht gekämpft hatten, aber sich seit geraumer Zeit an einen Waffenstillstand gehalten und diesen nicht gebrochen hatten? Ist es schon Völkermord, wenn 100 junge Menschen ermordet werden, die nicht mehr als demokratische Selbstbestimmung fordern?

Oder ist es erst Völkermord, wenn Angehörige eines Volkes, denen Illoyalität gegen ihren Staat vorgeworfen wird, aus ihrer Heimat vertrieben, ihre Frauen vergewaltigt und die überlebenden Kinder und Alten in die Wüste geschickt werden, wo sie elendig vor die Hunde gehen müssen?

Verantwortung oder Legitimierung?

In Deutschland sind wir heute so weit, das militärisch und humanistisch nicht zu rechtfertigende Vorgehen des Generalmajors Lothar von Trotha im Kampf gegen die aufständischen Herero und Nama als Genozid zu begreifen. Die Anzahl der damaligen Opfer auf Seiten der afrikanischen Bewohner Südwestafrikas wird zwischen 35.000 und 65.000, vielleicht auch auf 80.000 Menschen geschätzt.

Nur zehn Jahre später folgte auf den deutschen Genozid die jungtürkische Neuauflage des Trotha‘schen Vorgehens – und übertraf ihn in den Opferzahlen um ein Vielfaches. Je nach Schätzung starben zwischen 300.000 und 1,5 Millionen Menschen. Ihre Vernichtung gilt den Vernichtern heute noch als Großtat gegen vorgebliche Verräter. Die Bezeichnung der Volksgruppe steht bei vielen Türken heute noch als Synonym für „Verräter“: Armenier.

Kurden als neuer Staatsfeind Nummer Eins

Seit dem Sommer dieses Jahres hat die türkische Regierung die nächste nicht vorgeblich nationaltürkische Volksgruppe zum Staatsfeind Nummer Eins erklärt. Nicht zum ersten Mal seit dem Genozid an den Armenieren müssen die Kurden den Kopf hinhalten für die religiös-ethnische Irrationalität einer bis vor eintausend Jahren christlich-anatolischen Bevölkerung, die sich in einem Maße an die Kultur der sie überrennenden Herrschaftselite der zentralasiatischen Türken assimilierte, dass sie sich entgegen des genetischen Gegenbeweises heute selbst für Türken hält und die Religion ihrer Eroberer manchmal fast noch militanter als die damaligen Eroberer selbst vertritt.

Die Ursachen dieses aktuellen national-türkischen Feldzuges gegen die kurdische Bevölkerung sind derart absurd, dass man sich schämen muss, sie zu benennen. Denn die kurdische Bevölkerung der Türkei hatte seit geraumer Zeit auf jegliche Handlungen gegen die klerikal-faschistische, türkische Regierung verzichtet und selbst nach mehreren gezielten Provokationen durch die türkische Seite den von ihr verkündeten Waffenstillstand eingehalten.

Zwei kurdische Fehler

Doch die Kurden hatten zwei entscheidende Fehler gemacht. Sie hatten die Liebesbeweise des türkischen Präsidenten nicht angemessen genug erwidert und stattdessen durch die Wahl einer säkularen Kurdenpartei den Durchmarsch der fundamentalislamischen AKP bei den Parlamentswahlen des Sommers 2015 verhindert. Und sie hatten es – trotz des Verzichts auf eine Eigenstaatlichkeit auf türkischem Staatsgebiet – gewagt, nicht nur den von den syrisch-irakischen Fundamentalislamisten massiv bedrängten Christen und Eziden im Nordirak und Nordsyrien zur Hilfe zu kommen, sondern auch die Autonomie der 2003 von der PKK gegründeten PYG (Partei der Demokratischen Union) im nordsyrischen Rojava entlang der türkischen Südgrenze nördlich von Aleppo bis an den Irak aktiv zu unterstützen.

Das Schreckgespenst kurdischer Autonomie

Der türkische Autokrat Erdogan sieht durch diese außertürkischen Erfolge der Kurden seine totalitären Sultanatsideen gefährdet. Gerade erst beschwor er wieder vorgebliche Separatismusbestrebungen in der Türkei als Rechtfertigung seines Gewalteinsatzes.

Deshalb erklärte er sich dereinst bereit, auf Seiten der USA in die vorgebliche Anti-IS-Allianz einzutreten. Denn sie bot ihm die ausgiebig genutzte Möglichkeit, die in die nordirakischen Berge zurückgezogenen PKK-Kämpfer aktiv zu bekämpfen. Gern auch hätte er seine völkerrechtswidrigen Militäraktivitäten gegen die Kurden auf den Nordsyrien ausgedehnt – hier allerdings hat ihn zuerst die Doktrin der USA, sich in Syrien ausschließlich gegen den IS zu positionieren, und nun die Anwesenheit der russischen Armee von der direkten Intervention abgehalten. Seinen völkerrechtswidrigen Vorstoß zum derzeit vom Islamischen Staat besetzten, nordirakischen Mosul musste der Türke in Folge einer US-Intervention abbrechen.

Nun also legt Erdogan seinen Schwerpunkt erst einmal in die noch-türkischen Gebiete Kurdistans. Auf alterprobte PKK-Kämpfer allerdings trifft er dort kaum. Vielmehr auf eine junge Generation, die die Diskriminierung durch die Nationaltürken bis oben hin satt hat. Rund einhundert dieser Menschen hat Erdogan am vergangenen Wochenende ermorden lassen. Es wird erst der Anfang gewesen sein.

Wie 1915 mitschuldig am Völkermord

Denn nicht nur, dass wir – ob Deutsche, Europäer oder Amerikaner – wie 1915 wegschauen und uns mitschuldig machen, weil wir meinen, auf den Massenmörder als Partner gegen ein anderes Übel nicht verzichten zu können. Wir finanzieren ihn sogar noch mit drei Milliarden Euro und der NATO-Rückendeckung, weil uns der Mut fehlt, die von ihm zugelassene und klammheimlich beförderte illegale Einwanderung in die EU beim Namen zu nennen. Von den am Ende dann doch ergebnislos bleibenden Beitrittsgesprächen zur EU soll an dieser Stelle nicht die Rede sein.

Schon jetzt liegen die hundert toten Kurden dieses Wochenende auch in der Verantwortung von Merkel, Steinmeier und Co. Wenn aus diesen hundert – was gegenwärtig kaum auszuschließen ist – in absehbarer Zeit tausende werden, dann sind wir angesichts der Irrationalität der türkischen Politik nicht weit vom nächsten türkisch verantworteten Genozid entfernt. Wir werden uns nicht damit herausreden können, davon nichts gewusst zu haben oder durch eine Kriegssituation am Eingreifen gehindert worden zu sein. Das Versagen des Westens ist offenkundig und mit den Händen zu greifen.

Wir stehen vor einer Weihnachtswoche, in der die Floskel vom Frieden auf Erden zu einer Farce wird.

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