Michel Houellebecq setzt auf direkte Demokratie, Viktor Orbán auf die vier Visegrád-Staaten

Die Debatte über Europa morgen hat gerade erst begonnen: zwei Dokumente aus Frankreich und Ungarn - von einem Starautor und einem umstrittenen Politiker.

Europaparlament

Viktor Orbán in „Heute Abend“ im ungarischen TV (Auszug)

… Wenn Sie sagen, … dass Europa eine neue Politik brauche, Europas Existenz auf dem Spiel stehe, stattdessen sende Brüssel eine Einladung, die Union treibe dahin, sei schwach, unsicher und gelähmt. Also habe Europa eine falsche Antwort auf die historischen Herausforderungen gegeben. Was erwarten Sie dann eigentlich von den führenden Politikern der Europäischen Union, sagen wir von Jean-Claude Juncker?

Der arme Jean-Claude Juncker befindet sich in keiner einfachen Lage, denn der allergrößte Teil der mit der Flüchtlingsfrage zusammenhängenden Entscheidungen liegen im nationalen Zuständigkeitsbereich. Die ungarische Grenze kann also die ungarische Regierung bewachen, die griechische Grenze müsste die griechische Regierung bewachen, doch sie tut es nicht. Die Rolle der Europäischen Union entsteht an dem Punkt, wenn es sich herausstellt, dass es Länder gibt – und Griechenland, ein Land mit dem wir im Übrigen sympathisieren, und die Griechen genießen in Ungarn auch aus historischen Gründen einen großen Respekt, jedoch ist letztlich die Situation doch jene –, dass wenn es ein Land gibt, so wie Griechenland, das einen Vertrag unterzeichnet, sich verpflichtet, seine Südgrenzen zu schützen – dies ist der Schengen-Vertrag –, es nicht macht, sie nicht verteidigt, dann muss man das erzwingen … Wir haben immer gesagt, wenn die Griechen ihre Landesgrenzen nicht verteidigen können, dann sollten wir gemeinsam dort hinuntergehen und sie verteidigen. Ich habe gesagt, wir müssen nicht von den Türken Sicherheit erbetteln, uns dadurch ausliefernd, sondern wir müssen die Grenzen Griechenlands verteidigen. Das Geld sollte man nicht den Türken geben, sondern den Griechen, damit sie ihren Grenzschutz ausbauen, und wenn sie dazu nicht bereit sind, dann muss man es den Bulgaren geben und muss es den Mazedoniern geben – eine zweite Verteidigungslinie aufbauend. Ungarn hat also ständig Vorschläge im Interesse einer Einwanderungs-, einer Migrantenpolitik ganz anderer Art gemacht. Diese unsere Vorschläge sind alle vom Tisch gefegt worden.

… Wenn Sie darüber sprechen, dass Europa eine neue Politik braucht, woran denken Sie dann genau?

Man muss jäten, also ausfiltern. Es gibt Gesetze, über die sich herausgestellt hat, dass man sie nicht einhalten kann. Dublin ist ein solches. Dublin ist tot. Das Schengen-Abkommen würde ich nicht ausfiltern, das muss man behalten, und man muss es schützen. Ohne das Schengen-Abkommen gibt es keine freie Bewegung und keine freie Wahl des Arbeitsplatzes in Europa. Es ist im Interesse jedes ungarischen Menschen, dass die Möglichkeit zur freien Bewegung und zur freien Wahl des Arbeitsplatzes erhalten bleibt. Dieser Vertrag muss meiner Ansicht nach verteidigt werden, doch können gleichzeitig nur jene Mitglieder dieses Vertrages sein, die ihn auch einhalten; jene, die ihn nicht einhalten, auch noch zugeben, dass sie ihn nicht einhalten, entweder weil sie es nicht können oder wollen, müssen aus diesem Vertrag hinaus gebeten werden. Und in erster Linie ist eine Veränderung der Denkweise notwendig. Ich wiederhole es noch einmal: Wenn die führenden Brüsseler Politiker davon ausgehen – und heute ist die Lage immer noch diese, heute, am Montagabend stehen die Dinge noch so –, dass ihrer Ansicht nach die Einwanderung eine gute Sache ist durch die ein jeder nur gewinne, obwohl die Einwanderung eine schlechte Sache ist, ein jeder verliert durch sie, das sehen wir jetzt schon, aber wenn es nicht zu diesem gedanklichen Wechsel in den Köpfen der führenden Politiker kommt, dann werden wir mit ihnen nicht vorankommen.

… Was muss also geschehen, damit sich das Denken … verändert? In erster Linie das Denken der führenden Politiker, denn in ihren Händen konzentriert sich die Macht und das Recht der Entscheidung.

Ich habe das Gefühl, dass jetzt schon der Abstand zwischen den Erwartungen, der Denkweise, dem Werturteil der europäischen Menschen und der führenden europäischen Politiker auf ein unerträgliches Maß angewachsen ist. Also niemand hat die führenden europäischen Politiker dazu ermächtigt, Hunderttausende hierher unkontrolliert hereinzulassen, sie hier hereinzutransportieren, überhaupt diese Einwanderungspolitik zu verfolgen. Und die Menschen, denn die europäische Politik, die bei weitem nicht fehlerlos, jedoch grundsätzlich in ihren Zellen – zumindest in ihren Stammzellen – doch eine demokratische Politik ist, kann über einen längeren Zeitraum keinen so großen Unterschied zwischen den Wählern, ihrem Instinkt, ihrem Denken, ihren Ansprüchen und der Denkweise der führenden Politiker vertragen. Deshalb glaube ich, dass es eine Frage der Zeit ist, jedoch wird das Volk, die Menschen, das europäische Volk, die Bürger der europäischen Nationen die gewählten Führer Europas auf ihre Seite ziehen. Die Frage ist nur, wie viel Zeit hierfür notwendig ist.

… Sie erwarten … von den führenden Politikern der Europäischen Union, dass sie dies einsehen?

… Die Politik besitzt ihre Gesetzmäßigkeiten, die europäische Kultur hat ihre Gesetzmäßigkeiten, und die werden sich mit der Zeit Geltung verschaffen. Ich glaube also, dass es Veränderungen geben wird. Die Frage ist nur, wann dies geschieht. Ich gehöre zu denen, die diese schon immer als eine verfehlte Richtung ansahen, und ich habe darauf gedrängt, dass die Veränderung so schnell wie möglich eintreten. Deshalb machen wir ständig in der Europäischen Union Vorschläge zur Veränderung. Bis jetzt sind wir immer in der Minderheit geblieben, ja es kam vor, dass wir allein blieben. Meiner Ansicht nach werden wir in der folgenden Zeit bessere Chancen haben. Wir wollen nicht passive Akteure und Betrachter der europäischen Politik sein, Ungarn macht ständig Vorschläge auf europäischer Ebene. Wir wollen uns also nicht gegenüber Brüssel verteidigen, Brüssel sind wir selbst auch. Europäische Union ist nicht etwas, das außerhalb von uns läge, weil auch wir Teil der Union sind. Wir machen also einen Vorschlag für die europäische Politik, wie sich die Dinge in Europa ändern sollen. Wir schmollen also nicht, weisen nicht ab, verteidigen uns nicht – manchmal ist auch das nötig –, sondern wir ergreifen die Initiative und wollen die europäische Politik verändern. Ich weiß, dass dies von einem Land mit zehn Millionen Einwohnern als ein vielleicht ungewohnte und zu ambitionierte oder einen zu großen Bogen beschreibende politische Aktion oder Plan zu sein scheint, doch müssen wir meiner Ansicht nach, besonders mit den anderen mitteleuropäischen Ländern, den Polen, den Tschechen und Slowaken zusammen Anstrengungen zur Veränderung der gesamten europäischen Politik unternehmen.

… Doch muss man hier nicht praktisch das Denken der 28 Mitgliedsstaaten verändern? Denn die 28 Mitgliedsstaaten bilden ja die Europäische Union …

… Die baltischen Staaten teilen unseren Standpunkt, die Finnen haben schon dem Quotensystem nicht zugestimmt, auch die Rumänen haben nicht dafür gestimmt. Die Österreicher bauen schon einen Zaun, aber wir können die Frage des größten europäischen Staates nicht umgehen, weil der Schlüsselstaat letztlich doch Deutschland ist, und ich bin davon überzeugt, dass es die Deutschen nur einen einzigen Satz kosten würde, und dieser Flüchtlingsstrom würde zu Ende gehen. Heute gehen die Menschen, übrigens mit Menschenschlepperei, unterstützt durch Menschenschlepper sowie politischen Aktivisten, besonders unterstützt durch die Aktivisten des Soros’schen Netzwerkes, sie gehen aus dem Grunde aus ihrer Heimat los, weil, soviel sie wissen, und die Ereignisse bestätigen dies auch, sie in Deutschland erwartet werden. Solange die Deutschen nicht klar sagen – ich weiß, dass dies eine sehr schwierige Entscheidung ist, ich bringe sie also nicht mit einer kritischen Tendenz zur Sprache, sondern beschreibe es als Tatsache –, solange die Deutschen nicht klarstellen, dass es das gewesen war, Ende, sie empfangen keine weiteren Menschen, solange wird dieser Flüchtlingsstrom nicht abreißen. Aber ich sage es noch einmal: Ich sehe die Chance für eine Veränderung.

Worauf wartet Angela Merkel?

Ich weiß es nicht. Wir hatten auch mehrere Verhandlungen. Zum Teil im Kreis der EU 28, zum Teil auf bilateraler Grundlage. Was ich Ihnen jetzt gesagt habe, das habe ich auch im Laufe dieser Gespräche und Verhandlungen gesagt. Also das, was wir im Interesse der Veränderung der deutschen Politik tun können, oder die Gesichtspunkte, die wir der deutschen Politik anbieten konnten, damit es jenes eigentümliche, am Tor zum Balkan existierende ungarische System von Gesichtspunkten beachte, das hier aus unserem Leben zusammengetragen werden konnte, das haben wir auf den Tisch der Deutschen gelegt, jedoch entscheiden müssen sie sich.

… Was wird das nächste Forum sein … und mit wem?

Wir warten jetzt darauf, was geschehen wird, ob Brüssel eine neue Beratung zusammenruft, es werden sehr intensive Konsultationen zwischen den vier Visegrád-Staaten geführt. Also Zusammenarbeit der geheimdienstlichen Organisationen, Zusammenarbeit der Innenministerien, gemeinsame Arbeit der Ministerpräsidenten. Dies ist das Wichtigste, ich glaube, dass heute Mitteleuropa eine gesunde, auf Grund guter Lebensinstinkte wirkende Region Europas ist. Es geht nicht nur darum, dass wir einen Großteil des Wirtschaftswachstums der Europäischen Union produzieren, also dass Mitteleuropa auch eine wahre Wirtschaftslokomotive ist, sondern es beginnt sich auch in den politischen Diskussionen abzuzeichnen, es bildet sich ein Erscheinungsbild in solchen Fragen heraus wie zum Beispiel in der Flüchtlingsfrage, hinsichtlich des Quotensystems, des Grenzschutzes, es bildet sich also eine mitteleuropäische politische Kultur und ein dieses verkörpernde regelmäßige, gemeinsame Auftreten in Europa heraus. Ich knüpfe hieran Hoffnungen. Ich knüpfe nicht nur mitteleuropäische, sondern auch gesamteuropäische Hoffnungen daran.

Aus dem Interview von Anett Szabó mit Viktor Orbán in der Sendung „Heute Abend“ („Ma este”) des öffentlich-rechtlichen Fernsehens „m1“ am 16. November 2015.

Über die Einstellung vieler Bürger in Mittel- und Osteuropa auch unser Beitrag von Daniel Kaiser aus Prag:

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