Vom Suchen und Wiederfinden des Westens

Die Toleranz der westlichen Zivilisation ihren erklärten Feinden gegenüber ist oft nur Bequemlichkeit und pure Haltungslosigkeit. Wenn der Westen glaubt, andere Kulturen nicht kritisieren zu dürfen, kann er die eigene nicht mehr verteidigen. Den Sonntagsreden von der Wertegemeinschaft muss das Eintreten für sie von Montag bis Samstag folgen.

An Voltaire führt kein Weg vorbei

Um das verminte Gelände von Homosexualität und Religionen, „Regenbogenfamilie“, „Zoophilie“,  Kundgebungen und Mahnwachen, wie Fernsehen und Printmedien damit umgehen, geht es im Kapitel „Alles so schön tolerant hier“. Kissler formuliert das nicht so, aber den roten Faden darf ich wohl öffentliche Naivität nennen. Im nächsten Kapitel „Wechselseitig unsere Dummheiten verzeihen“ signalisiert schon der Untertitel scharfe Klarstellungen: „An Voltaire führt kein Weg vorbei“.

Kissler erinnert an den Grundsatz von Roms Senat und Volk: „Beleidigungen, die den Göttern widerfahren, müssen die Götter rächen.“ Was der Atheist Voltaire dazu sagt, zur Toleranz in der jüdischen Geschichte und anderer Religionsbetrachtung, hat Kissler hier zusammengetragen: „Voltaire will die Geschichte der Menschheit als eine Abfolge von Epochen vorführen, in der trotz brutaler und brutalster Widerwärtigkeiten die Flamme der Toleranz nie verlosch und nie ganz unbekannt war.“ Ein Schnellkurs in Voltaire und doch mit Tiefgang kulminiert im Satz des zu tausend Peitschenhieben und zehn Jahren Haft verurteilten saudi-arabischen Bloggers Raif Badawi: „Meinungsfreiheit ist die Luft, die jeder Denker zum Atmen braucht, der Zündstoff für das Feuer seiner Ideen.“ Gegen das „Fundamentalismusfieber“ des Wahabismus schrieb Badawi. Kissler merkt an, der Wahabismus sei sicher auch verantwortlich für das Verbrechen an dem Blogger: „Prinzipiell aber ist die duldende Toleranz für Andersmeinende, Andersglaubende im Islam theoretisch schwierig und praktisch sehr selten.“

John Locke mit seinem „Brief über Toleranz “ von 1689 steht im Zentrum des Kapitels „Ketzer müssen sein“. Kissler verweist auf Lockes Mahnung, jede Kirche sei „sich selbst orthodox, anderen irrgläubig oder ketzerisch“, die Gläubigen sollten sich also nicht zuviel auf den eigenen Glauben einbilden und mit jenem der anderen pfleglich umgehen. Der Staat aber dürfe weder über Glaubensfragen entscheiden, noch das Glaubensleben seiner Bürger reglementieren. Ein Schnellkurs in Locke, der auch alle Stichworte liefert, die Bismarck später gegen die Katolische Kirche brauchte. „Toleranz ohne Grenzen“, sagt Kissler, „ist und bleibt nur Ignoranz“ und weiß da Lockes Forderung nach einem definierten Bezugsrahmen an seiner Seite. Auf das Naturrecht berufen sich Locke und Voltaire wie zuvor schon Cicero, den Kissler hier mit ins Spiel bringt und aus „De republica“ zitiert, was seiner Meinung nach auch ein Papst unseres Jahrhunderts nicht schöner sagen könnte: „Wer ihm (Gott) nicht gehorcht, wird vor sich selbst auf der Flucht sein, da er die menschliche Natur verleugnet, eben dafür schwerste Buße bezahlen, auch wenn er allen übrigen vermeintlichen Strafen entronnen ist.“

Der Koran als das authentische Alte und Neue Testament

„Hamas, Hamas, Juden ins Gas!“ skandierten Muslime auf einer Demonstration in Gelsenkirchen im Sommer 2014. Um den muslimischen Antisemitismus geht es im Kapitel „Jude, Jude, feiges Schwein“, wie in Berlin gerufen wurde. Wie sich der Antisemitismus seit 1945 neu ausbreitete, wie groß der muslimische Anteil daran ist, wie wenig überzeugend dagegen angetreten wird, braucht für eine nicht vollständige Darstellung trotzdem 30 Seiten. Ob sich Islam, Judentum und Christentum überhaupt auf Augenhöhe begegnen können, ist zu bezweifeln, wenn der festverwurzelte Glaube des Islam gilt: „nach dem die originalen Offenbarungen des Alten und Neuen Testaments authentisch seien, sie aber systematisch von unwürdigen Sachwaltern (jüdischen und christlichen) deformiert worden seien. Dahr mussten die biblischen Schriften vom Koran abgelöst werden.“ Kissler nennt das die Korruptionsthese: „Mohammed kam demnach in die Welt, um den Juden und Christen eine Lektion in Texttreue zu erteilen, sie vom Joch verderbter Überlieferung zu befreien. Darum wird er auch das Siegel der Propheten genannt. Er hat in allem das letzte, authentische Wort.“

Ohne Blick in die Antike kein Verstehen der Geschichte

Kisslers Kapitel „Abendland, abgebrannt?“ beginnt mit Goethe: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ Goethe, sagt Kissler, „wirbt für jenen ebenso schöpferischen wie hartnäckigen Umgang mit der Vergangenheit, der die Souveränität oder Selbstvergessenheit einer Zivilisation ausmacht.“ Was ist der Westen anderes, fragt unser Autor und antwortet mit dem Historiker Fernand Braudel: „vor allem ein Raum, ein kultureller Bereich“. Westeuropa hat „gemeinsame sprachliche Wurzeln im Lateinischen und Griechischen und eine auf den ‚Lehren eines Juden aus Nazareth‘ beruhende Religion sowie Mathematik, Astronomie, Technologie ‚aus dem Orient'“, fasst Kissler Ferguson zusammen: „Westen hieß also Aneignung, Anverwandlung.“ Um was ist der Westen geht es in diesem Teil des Buches.

Kissler: Mit dem Privatrecht schufen die Römer zugleich das Individuum, „ein Entwicklungsschritt, den der Islam nicht nachvollzog“. Er zitiert den Philosophen Phillippe Nemo: „Als später die politischen Philosophen Englands die Ausdrücke der Einzigartigkeit des Westens government of law, not of men und rule of law prägen, formulieren sie das alte staatsbürgerliche Ideal Griechenlands lediglich in ihrer eigenen Sprache neu.“ Und: „Der Fortschritt, den Rom dem Recht zugedeihen ließ, hat die Menschheit endgültig aus dem Stammesdenken befreit. Der Westen wird diese Errungenschaft zur gleichen Zeit aufnehmen wie das griechische Verständnis vom Bürger. Der Osten indes wird sie ignorieren.“

Der Westen ein Prinzip, der Islam eine Ideologie

Intellektuellen Pluralismus, so die Conclusio Kisslers aus einer Galerie von Denkern, gibt es nur im Westen:  „Es gab eine indische, chinesische, japanische und arabische Wissenschaft. Doch das Fehlen einer wirklichen Freiheit zur Kritik war für sie fatal.“ Von dem „im besten Fall symphonischen Zusammenklang von Wissenschaft, Rechtsstaat, Privateigentum, Demokratie, Geistesfreiheit und Rationalität“ – dieser „Einzigartigkeit des Westens“ müsse „jeder heute so beliebte Kulturrelativismus abprallen“ ist Kisslers Credo: „Der Westen ist ein Prinzip, der Islam erscheint als Ideologie.“

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