Ideologie auf dem Teller oder Vom Leitbild deutscher Esskultur

Nicht erst seit die deutsche Jugend nichtvegane Nahrung als Klimakiller identifizierte, hat die Nation ein neurotisches Verhältnis zum Essen. Begeben wir uns auf einen aufschlussreichen Streifzug durch Geschichte und Gegenwart der deutschen Küche.

Die Esskultur spiegelt die Mentalität eines Volkes. Natürlich wandelt sie sich, hat sich immer gewandelt, die Kartoffel ist schließlich kein heimisches Gewächs. Aber das Fremde wird stets zum Eigenen. Esskultur gehört zur Leitkultur. Debatten ums Essen sind politisch und auch ideologisch. Die Auseinandersetzung um Agrarwende und Fleischverzicht zeigen es. Das war schon immer so.

Der namhafteste der wenigen deutschen Küchenphilosophen, Carl Friedrich von Rumohr, wetterte Mitte des 19. Jahrhunderts gegen die französische Überfeinerung der Kochkunst. Er führte deutsche Werte – Klarheit, Einfachheit, Natürlichkeit – gegen die französischen Maximen ins Feld: Verfeinerung, Aufwand, Verkünstelung. Sein Gegenspieler als Gastrosoph, der Franzose Jean Anthelme Brillat-Savarin, behauptete hingegen, ein echter Feinschmecker könne anhand der Beinmuskulatur des gerade verspeisten Rebhuhns erkennen, auf welchem Bein es zu schlafen pflegte. Ein deutscher Feinschmecker sollte das, falls er es überhaupt erkennen kann, besser für sich behalten, um nicht für einen Snob gehalten zu werden und in die Fallen des Neids und der Gleichmacherei zu tappen.

Genetische Typen
Für jeden ist eine andere Ernährung gesund
Wenn heute deutsche Spitzenköche mit französischen Kollegen auf Augenhöhe wetteifern, liegt das daran, dass seit der Nouvelle Cuisine, die die Deutschen in den 70er-Jahren mit Inbrunst nachahmten, auf einmal aus dem Nachbarland deutsche Werte zurückkamen. Nun waren Übersichtlichkeit auf dem Teller, Einfachheit und Bekömmlichkeit wichtiger als Verfremdung und Virtuosität. Aus Frankreich kam nun das für die Kochkunst, was das Bauhaus für die bildenden Künste gewesen ist.

Einst wie heute bevorzugt der deutsche Bürger schlichte Hausmannskost. Nicht nur mangels Sinn für Raffinesse, sondern geradezu als patriotische Pflicht. Die Franzosen hatten in der großen Revolution nur den Adel um einen Kopf kürzer gemacht. Ihre Köche dagegen gründeten Restaurants, und das Bürgertum erhob die Grande Cuisine zu einem wesentlichen Bestandteil der eigenen kulturellen Identität. Deshalb ist eine so lustfeindliche Debatte wie die um Fleischverzicht in Frankreich undenkbar. Dort schämt sich niemand, der lebendig gesottene Hummer und gestopfte Gänseleber mag.

Die Deutschen brachten keine Revolution zustande und lange auch keine Hochküche. Wer darauf nicht verzichten wollte, orientierte sich am Erbfeind. Das höchste der Gefühle blieb der Braten aus dem Rohr mit Beilagen zum Sattwerden. Die Feinschmecker sind in Deutschland eine Minderheit, in Frankreich dagegen spricht niemand von Feinkost – weil sie Normalität ist.

Der Grund dafür ist auch in der idealistischen deutschen Philosophie zu finden. Sie spaltet den Menschen in ein niedriges, sich ernährendes Wesen und in ein höheres Wesen geistiger Vernunft. Deshalb gelten selbst wahre Kochkünstler bestenfalls als Kunsthandwerker, nicht wie in Frankreich als Musikern und Malern ebenbürtige Künstler.

Traditionelle Rezepte
Wo bleibt der Speck?
Aus dem Gegensatz von Leib und Seele erwächst die verhängnisvolle Spaltung von Moral und Genuss. Der Franzose ist, was er isst. Der Deutsche ist, worauf er verzichtet, und das schlechte Gewissen sitzt schon lange mit an deutschen Tischen. Genau genommen, seit niemand mehr darben muss. Früher hatten die Deutschen Angst vor dem Mangel, heute vor dem Überfluss.

Kant zum Beispiel behauptete, ein Geschmackserlebnis könne niemals Erkenntnisgewinn sein. Er aß wie die meisten deutschen Geistesriesen zwar auch gern und viel, schätzte es aber gering. Hegel glaubte an eine Hierarchie der Sinne, hielt die Fernsinne Sehen und Hören für wertvoller als die Nahsinne des Berührens und Schmeckens, weil die dem Körper verhaftet und nicht unabhängig seien. Das ist ideologischer Unsinn. Brillat-Savarin meinte dagegen, nur derjenige erhalte vollen Genuss, der die Sinneswahrnehmungen auch geistig reflektieren könne.

Ein Verlust an Alltagsbezug zeigt sich in der Geringschätzung der Küche. Adorno verwendete das Adjektiv „kulinarisch“ als abwertende Bezeichnung. „Kulinarisch“ hieß oberflächlich, bloß unterhaltend. Im Gegensatz dazu galt ihm etwa klassische Musik als geistig, „weil sie sich nicht derart buchstäblich genießen lässt wie eine Kalbshaxe“. Anders formuliert: Wenn der Deutsche denkt, hat der Genuss nichts mehr zu melden. Der Kochkunst hat es in Deutschland geschadet, dass sie den Bauch beschäftigt und nicht nur den Kopf. Der Bauch steht für Materialismus. Und der ist in Deutschland verpönt.

Es geht nicht nur um die gehobene Küche. Beispiel: Brot. Zu Recht sind die Deutschen auf ihre Brotkultur stolz, wenn sie auch für ihren Erhalt wenig tun. Die handwerklichen Bäcker fallen billigen Backshops zum Opfer. Der Deutsche ist wie sein Brot: aus echtem Schrot und Korn und reich an ideologischen Ballaststoffen. Vollkornbrot wird für urdeutsch gehalten. Aber erst die Lebensreformbewegung der romantischen Urgrünen propagierte Brot aus geschrotetem Getreide.

Von der Vielfalt des Wurstigen
Es geht um die Wurst – eine deutsche Kulturgeschichte
Die Nazis hielten es später für das der Herrenrasse angemessene Grundnahrungsmittel und gründeten eine Behörde: den Reichsvollkornbrotausschuss mit 45 Dienststellen. Einmal im Monat sollte auf Wunsch der Nazis auch der Sonntagsbraten durch Eintopf ersetzt und die gesparte Summe dem Winterhilfswerk überwiesen werden. Diese Solidaritätsabgabe wurde von den Blockwarten überwacht. Nicht nur Notmaßnahme, sondern gelebte Ideologie. Das sozial­nationalistische Volk sollte sich schlicht und solide ernähren. Selbst im schönen Begriff „Hausmannskost“, Leitbild deutscher Esskultur, schwingt das mit: Tugendhaftigkeit statt welscher Dekadenz.

In dieser Tradition steht zweifellos der Kult um die Currywurst. Kulinarisch gesehen handelt es sich um von scharfer Soße übertünchte Fleischabfälle. Auch sie sind ideologisch aufgeladen: „Currywurst ist SPD“, so plakatierte 2012 die Ex­Volkspartei in ihrem Stammland NRW. Ihr mögen die Arbeiter ausgehen, aber nicht die Currywürste. Die müssen vor allem billig sein. Und sie symbolisieren das moderne Deutschland, denn die Currywurst ist Multikultiwurst, vermählt sie doch das Nächste, nämlich Wurst, mit dem Fernsten, nämlich Curry, wie es Uwe Timm in seinem Bestseller „Die Entdeckung der Currywurst“ beschrieben hat. Nahrungsaufnahme meist im Stehen unter freiem Himmel auf Pappe passt natürlich besonders in die neue alte Hauptstadt, wo selbst Besserverdienende in zerrissenen Jeans und Sneakers in die Opernpremiere schlurfen. Den großen Widerspruch dabei hat noch niemand artikuliert.

Nicht mal Hardcore­Grüne fordern ein Verbot der Currywurst, obwohl das Schwein nur ein armes sein kann, das zum essbaren Symbol sozialer Gerechtigkeit verwurstet wird. Offenbar steht die „Seelenwurst“ („FAZ“) der Deutschen unter einem besonderen Schutz. Ihr mangelnder Wert, ökologisch wie kulinarisch, ist ein Tabu.

Der Zeitgeist ist auf dem Teller zu besichtigen: Nicht der Mangel, sondern der Überfluss schafft heute Unbehagen. Die Deutschen waren immer Feinkostverächter, aber nun halten sie das auch noch für ihre moralische Pflicht. Deshalb wird auch die Debatte ums Tierwohl nicht kulinarisch geführt, sondern ideologisch.

Wolfgang Herles, Vorwiegend festkochend. Kultur & Seele der deutschen Küche. Penguin, 416 Seiten, zahlreiche Farbfotos, 29,00 €.


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Kommentare ( 24 )

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WandererX
4 Jahre her

Typisch 68er Selbsthass! Die Bäcker gehen verloren, weil deren Söhne lieber Fussballstars und Ärzte werden oder eine 38 Std. Woche haben wollen und der Ausdehnung der Öffnungszeiten auf 12 Std., und nicht weil die Leute am Brot sparen wollen – dasselbe gilt für selbstständige Metzger. Also bitte nicht so stänkern! Ressentimentgeladen ist es auch, die tradierte deutsche Küche schlecht zu reden. Klimatisch bedingt gab es Einschränkungen beim Gemüse, aber sonst ist sie so reichhaltig wie eine französische oder spanische . Außer für Brot sind die deutschen weltweit berühmt für Bier, Würste, Klöße, Würste, Maultaschen, Sauerkraut, Kuchen, Torten, riesige Vielfalt an… Mehr

P.Reinike
4 Jahre her

Der Gedanke zur Nouvelle Cuisine ist nachvollziehbar. Allerdings gehen dann die Nuancen verloren. Es gibt auch in D einen gewichtigen Unterschied. Die katholischen Regionen haben eine Kochkultur hervorgebracht, die protestantischen blieben bei simpler Küche. Daher muss die Perspektive auf Königsberg anders sein wie die auf Kempten.

Auch ist die Generalisierung für Frankreich nicht mehr in der Form gültig. Die meisten Franzosen greifen mittlerweile zu ausländischer Küche, was mich während meines Studiums in Südfrankreich anfangs erheblich irritiert hatte. Ich musste immer erheblich drängen, mal zusammen im Restaurant eine Pate zu verspeisen. Ansonsten: Lass uns zum Chinesen gehen…!

Politkaetzchen
4 Jahre her

Nicht der Mangel, sondern der Überfluss schafft heute Unbehagen.

Nicht Umbehagen, Übersättigung. Nur in einer überfressenen Gesellschaft konnte so ein Quatsch wie Vegan entstehen. Der vollgefressene Fettkloss schiebt den Teller weg, während das Kind vor vollgedeckten Tisch in Essen rumstochert und sagt, dass es ihn nicht schmeckt

StefanB
4 Jahre her

Auch die Esskultur ist selbstverständlich ein Ergebnis der Sozialisierung. Und in Deutschland wird nunmal gelebt, um zu arbeiten, während in Frankreich gearbeitet wird, um zu leben. Daraus ergibt sich die unterschiedliche Zwecksetzung hinsichtlich des Essens und folglich resultieren daraus völlig entgegengesetzte (Ess-) Kulturen. Hier fehlt ganz klar eine EU-Esskultur-Verordnung, welche die unterschiedlichen Esskulturen gleichmacht! 😉

Heimatland
4 Jahre her
Antworten an  StefanB

Hier fehlt ganz klar eine EU-Esskultur-Verordnung, welche die unterschiedlichen Esskulturen gleichmacht! ? Werd ich dann ein Schneckenstocherer und Froschschenkelfissler oder setzt sich der Schweinsbraten durch, man kann noch hoffen.

Schelli
4 Jahre her

„Deshalb wird auch die Debatte ums Tierwohl nicht kulinarisch geführt, sondern ideologisch.“ Aber was denn bitte sonst? Darf im Namen der persönlichen, kulinarischen Vorlieben jede Abartigkeit wie Gänsestopfleber gerechtfertigt sein? Resultiert der Wunsch nach Abschaffung von qualvollen Haltungsmethoden für Nutztiere nur darin, daß sie besser schmecken? Und das sollen dann konservative Positionen sein???

Toeh
4 Jahre her

Deutschland und Frankreich sind soooo gegensätzlich – nicht nur bei Tisch! Umso verstörender – um ins Politische zu wechseln – sind die Initiativen von Merkel und Macron seit 2018, den Deutschen Bundestag und das französische Parlament zusammenzurühren.

Sehr schön und fast genau zum Thema auch das Gespräch zwischen Gero von Böhm und Vicco von Bülow (1986): https://www.youtube.com/watch?v=t-RltVPXZyQ

Harry Krishna
4 Jahre her

Eine spezifisch deutsche Kulinarik jenseits der Currywurst ist schlicht nicht identifizierbar und der Grund dafür ist auch in der idealistischen deutschen Philosophie zu finden.

Schon klar, aber war Hitler jetzt vegetarischer Eintopfesser wegen Kant oder Hegel? War Adorno wirklich ein gustatorischer Nazi?

Wie auch immer, eines ist gewiß:
In der größten Not schmeckt die Wurst auch ohne Brot.

Albert Pflueger
4 Jahre her
Antworten an  Harry Krishna

Das ist nicht wahr. Meine Mutter lehrte mich beispielsweise, wie Rotkohl zubereitet wird. Er wird vor dem Kochen bereits mit einem Schuß Essig gewürzt. Dazu kommen: Zimt, Nelken, Lorbeer, eine Speckschwarte, etwas Zucker und Salz. Das ist nicht simpel, es ist verfeinertes Geschmackserlebnis. Allein die verschiedenen Varianten von Knödeln, die Sie in der deutschen Küche finden, sind Ausweis differenzierter Kochkunst. Ein Sauerbraten ist auch nicht simpel, sondern elaboriert.

Es ist völlig falsch, diesbezüglich unser Licht unter den Scheffel zu stellen. Die deutsche Küche ist nicht Currywurst, genausowenig wie die französische Pommes frites.

Frau Z.
4 Jahre her
Antworten an  Albert Pflueger

Pommes frites kommen ursprünglich aus Belgien. Kleine Besserwisserei, die Sie mir verzeihen mögen. 🙂

Albert Pflueger
4 Jahre her
Antworten an  Albert Pflueger

Ach- da hab ich was vergessen: Rosinen kommen noch rein, eventuell -statt dessen oder zusätzlich- ein geriebener Apfel und ein Schuß Rotwein, falls es jemand nachmachen will. Am Besten im Druckkochtopf.

Wittgenstein
4 Jahre her

Lieber Herr Herles, ich habe das große Glück und Vergnügen an einem Ort zu leben, an dem sich mir in einem Umkreis von vielleicht 1000 Metern die ganze Welt kulinarisch eröffnet, fast die ganze Welt jedenfalls. Und da sich in dieser relativ gut situierten Umgebung Menschen aus aller Herren Länder aufhalten und sie auf einer Strecke von einigen hundert zurückgelegten Metern viele Sprachen und Gesichter dieser Welt treffen können, stimmt ihre Beschreibung nicht mehr für alle Teile unseres Landes. Ob spanisch, japanisch, türkisch, italienisch, griechisch, amerikanisch, thailändisch, chinesisch, mexikanisch oder selbst Deutsch; und das zum Teil auch in verschiedenen regionalen… Mehr

Johann Thiel
4 Jahre her

Lecker Essen und trinken schmeckt gut.

H. Priess
4 Jahre her

Nouvelle Cuisine? Na geh mir wech! Riesen Teller und nix drauf! Eine „Entenbrust an Königenkartoffeln“ entpuppt sich auf dem Teller, min. 30cm Durchmesser, als 4 kleine Scheiben Entenbrust und an jeder Ecke des Tellers ein hingespritzer Klecks Kartoffelpüree! Etwas Gemüse dazu und schon kostet das 25Euro! Man steht hungrig vom Tisch auf und fragt sich: Wo ist die nächste Imbißbude? Ich koche gern und oft, Hausmannskost und spare nicht mit Butter wenn sie dran gehört, Speck gehört scharf angebraten und natürlich Zwiebeln dazu mit viel Fett. Wenn ich selbstgemachte(Mutti) Bratheringe mit Stampfkartoffeln mache. Mhm, leider muß ich noch bis zum… Mehr