Fleiß – Die unbeliebte Gouvernante

Mit dem Fleiß, mit der Fähigkeit, Dinge durchzuziehen, die einem kein Vergnügen bereiten, verhält es sich nicht anders als mit den anderen Tugenden: wie immer ist alles nur eine Frage der Gewohnheit

YURI KADOBNOV/AFP/Getty Images)

Der Hype um »Tiger-Mamis« ist glücklicherweise wieder verflogen. Dazu beigetragen hat die Erkenntnis, dass Kleinkinder, die in die Fänge von überehrgeizigen Eltern und Privatlehrern geraten, spätestens in ihrer Pubertät zu Monstern und Totalverweigerern mutieren. Wenn extrinsische (also von außen herbeigeführte) Disziplin intrinsische Motivation ersetzt, fällt das Kartenhaus in dem Moment zusammen, in dem das Extrinsische nicht mehr wirkt (die intrinsische Motivationsfähigkeit ist nämlich zu diesem Zeitpunkt meist schon verkümmert). Wie aber erziehen wir unsere Kinder – und vor allem uns selbst – zu intrinsischer Motivation? Zur Fähigkeit, Dinge anzugehen, auf die wir keinen Bock haben?

Die Aufforderung fleißiger zu sein, also dazu, uns abends nicht mehr in Netflix zu verlieren und uns endlich liegen gebliebenen Aufgaben zu widmen, klingt wie die einer nervigen Gouvernante, ähnlich diesem Satz von Marie von Ebner-Eschenbach: »Müde macht uns die Arbeit, die wir liegen lassen, nicht die, die wir tun.« Jaja, das stimmt schon. Aber ist Prokrastination nicht die einzig mögliche Gegenwehr in Zeiten der kompletten Überforderung? Statt dies zu schreiben, müsste ich eigentlich meine längst überfällige Steuererklärung vorbereiten, für meinen Arbeitgeber die Bestätigung meiner Krankenversicherungsausgaben heraussuchen und mich um ein paar dringende Überweisungen kümmern. Stattdessen schreibe ich.

»Jeder Mensch kann beliebige Mengen Arbeit bewältigen, solange es nicht die Arbeit ist, die er eigentlich machen sollte«, schrieb Robert Benchley in seinem 1949 erschienenen Buch »How to Get Things Done«, und wenn man den Satz konsequent zu Ende denkt, folgt daraus eigentlich das exakte Gegenteil eines der wichtigsten Ratschläge aller modernen Anti-Aufschieberitis-Ratgeber: nämlich dem, sich immer nur einer Sache anzunehmen und nie eine lange To-do-Liste vor sich her zu schieben. Die Konsequenz daraus kann im Grunde nur sein, sich möglichst viel vorzunehmen, denn hat man zehn Sachen vor sich, wird man garantiert zwei oder drei davon erledigen (gegebenenfalls jedoch die weniger dringlichen und daher weniger bedrohlichen Dinge, es müssen ja nicht gleich eindeutige Ersatzbeschäftigungen wie Wäschefalten oder Sockensortieren sein). Getreu dem Motto: »If you want something done, give it to a busy man!« Leute, die viel um die Ohren haben, haben in der Regel auch einen ziemlich hohen Output.

Die Kunst des lässigen Anstands
Kollektive Such-Mission nach Tugenden
Der Autor und Astrophysiker Aleks Scholz sagt, er habe in der Zeit, in der er am »Lexikon des Unwissens« (ein hervorragendes Buch!) gearbeitet habe, nicht weniger, sondern mehr Astronomie betrieben. »Arbeit«, sagt er, »ist irgendwie magnetisch. Fängt man einmal damit an, kann man gar nicht mehr aufhören.« So landet der, der sich viel vorgenommen hat, meinetwegen via Wäschewaschen und Sockensortieren, nolens volens irgendwann bei jenen Dingen, die er – meist mit schlechtem Gewissen – lange vor sich hergeschoben hat.

Paul Graham unterscheidet in seinem Essay »Good and Bad Procrastination« zwischen drei Varianten der Aufschieberitis. Erstens: Arbeit vermeiden durch Nichtstun. Das ist sicher die dämlichste Variante. Da bewegt man sich etwa auf dem Niveau jenes Mädels im Tarantino-Film »Jackie Brown«, das auf die Vorhaltung des Waffenhändlers Ordell – »Kiffen und Fernsehen ruinieren jeden Ehrgeiz« – antwortet: »Nicht, wenn Kiffen und Fernsehen dein ganzer Ehrgeiz ist.« Die zweite Variante: Etwas weniger Wichtiges tun. Auf diesem Weg arbeitet man Stück für Stück die To-do-Liste ab und kommt, wenn auch mit Verspätung, irgendwann an die weniger angenehmen Aufgaben. Oder drittens: Man tut etwas, irgendwas, notfalls etwas, das einem Spaß macht. Letztere Form von Prokrastination kann überaus vorteilhaft sein, weil man, wie Kathrin Passig und Sascha Lobo in ihrem Buch »Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin« anhand eindrucksvoller Beispiele nachweisen, ja oft erst im Rückblick feststellen kann, wie wichtig welche Tätigkeit wirklich war: »Die Flickr-Gründer entwickelten die Foto-Sharing-Plattform, die sie später reich machen sollte, nebenbei und zum Spaß, während sie ein heute vergessenes Spiel für ihre ›eigentliche Arbeit‹ hielten. … Isaac Newton vernachlässigte die Arbeit auf der Farm seiner Mutter, weil er lieber Bücher las. Robert Schumann spielte Klavier, anstatt sich seinem Jurastudium zu widmen.«

»Ja. Die Welt ist zu kompliziert«, heißt es in ihrem wegweisenden Buch (in dem sich auch dieses grandiose Aperçu findet: »Jedem Anfang wohnt ein Zaudern inne«): »Es ist kompliziert, sich einen Studienplan zusammenzustellen, es ist kompliziert, einen Router zu installieren, es ist kompliziert, die Papiere für eine Wohnungsanmietung zusammenzustellen, es ist kompliziert, bei der Deutschen Bahn die gesammelten Bonus-Punkte einzulösen, es ist kompliziert, sich eine absetzbare Quittung korrekt ausstellen zu lassen, und für den gesamten Kontakt mit Administration und Apparat muss dringend ein beschreibendes Wort erfunden werden, weil ›kompliziert‹ nicht ausreichend die dahinterstehende Bedrohung für das seelische Wohlbefinden durch bunte Briefe wiedergibt.«

Alltagsüberforderung ist laut Passig und Lobo keine Schande, sondern die Normalität des Menschen im 21. Jahrhundert, und Aufgaben vor sich her zu schieben ist für sie kein Zeichen von Resignation oder Kapitulation, sondern im Gegenteil für viele Menschen die einzige Möglichkeit, überhaupt zu kämpfen – nämlich nicht an allen Fronten gleichzeitig. Wir tun das alle ständig. Unser Arbeitgeber will uns rund um die Uhr mit Haut und Haaren, unsere Familie verlangt das auch, nur mit größerem Recht, wir sind technisch, beruflich, informationell und sozial ständig überfordert – in dieser Situation Dinge aufzuschieben oder zu ignorieren ist schlicht Selbstschutz. Laut Passig und Lobo gibt es – außerhalb von Trappistenklostern – in der zivilisierten Welt überhaupt nur zwei Arten von Menschen: diejenigen, die überfordert sind, und diejenigen, die nicht merken, dass sie überfordert sind. Die verschiedenen Verantwortungsbereiche des Lebens einigermaßen im Griff zu haben erfordert heute ein Höchstmaß an Multitasking-Fähigkeit und distributive Aufmerksamkeit, unser aller Leben ist vergleichbar mit einem Computer, auf dem stets vier bis fünf Fenster gleichzeitig geöffnet sind, in denen wir parallel arbeiten. Dem modernen Menschen in so einer Situation mehr Fleiß einreden und neue Methoden zur Priorisierung aufschwatzen zu wollen ist daher abwegig.

Man kann die Quintessenz sämtlicher Anti-Prokrastinations-Ratgeber, auch der ernsthaften, in einem Ratschlag zusammenfassen: Geh Stück für Stück vor! Mit dem Fleiß, mit der Fähigkeit, Dinge durchzuziehen, die einem kein Vergnügen bereiten, verhält es sich nicht anders als mit den anderen Tugenden, wie immer ist alles nur eine Frage der Gewohnheit, und die kann man trainieren. Zum Beispiel, indem man jeden Tag zehn Minuten Verwaltungskram erledigt, statt einmal im Monat oder seltener den ganzen Stapel. Und indem man kleine Erfolge feiert. Nichts fühlt sich so gut an, wie Dinge bewältigt zu haben, die einem gegen den Strich gehen.

Natürlich sind To-do-Listen hilfreich, die man priorisiert Stück für Stück abarbeitet (wenige Dinge wirken so befreiend wie das physische Durchstreichen von To-do-Punkten, und wenn es nur das besorgte Klopapier ist). Was wir allerdings heute sehr viel dringender benötigen als mehr Effizienz, ist die Einsicht, dass wir alle zu viel auf unserem Teller haben. Wirklich gut gebrauchen könnten wir ein ausgiebiges Durchatmen. Das Beste wäre, wir stellten zunächst einmal unsere Maschinen auf STOP.

Deshalb muss der erste Rat an alle, die wieder ein wenig Disziplin in ihr Leben bekommen und die Dinge wieder so auf die Reihe kriegen wollen, dass die bösen bunten Briefe fernbleiben, paradoxerweise zunächst einmal lauten: Relax! Mein Vater hat mir einmal erzählt, wie er reagierte, als der Ton der Mahnungen und der amtlichen Post zu rau wurde. Er schnappte sich einen der Briefe und schrieb sinngemäß zurück: »Vielen Dank für Ihr Schreiben, et cetera pp., aber wenn Sie so einen groben Ton anschlagen, werden Ihre Schreiben künftig aus der monatlichen Ziehung ausgeschlossen, bei der einer der Briefe ausgelost und bearbeitet wird.«

Ruhe bewahren, das ist heute die erste Bürgerpflicht. Ein indischer Arzt, in London gilt er als Fitnessguru, hat mir einmal gesagt, sein Lebensrezept ruhe auf vier Säulen: Entspannung, guter Schlaf, gute Ernährung und Bewegung. Wobei die ersten beiden die wichtigsten seien. »Früher war das Hauptproblem meiner Patienten schlechte Ernährung oder mangelnde Bewegung, heute ist es Stress. Sie wachen morgens auf und sind von da an gestresst, ab der ersten Minute heißt es ›Go! Go! Go!‹, sie sind ständig in fight-or-flight-mode, ihr System ist randvoll mit Cortisol, aber sie werden nicht von einem Löwen angegriffen, sondern von den Anforderungen des Alltags, sie bringen die Kinder in die Schule, jonglieren dabei ihre verschiedenen Pflichten übers Handy, am Abend, wenn die Kinder im Bett sind, geht’s geradewegs wieder an die E-Mails, und bevor man das Licht ausmacht, gibt es noch einen Blick auf die letzten Nachrichten.«

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Die Regel Nummer eins für jeden, dem es ernst damit ist, sein Leben in geordnete Bahnen zu lenken, muss also lauten, erst einmal wieder Ruhe hineinzubringen. Und zwar systematisch. Jeden Tag. Mein Bekannter, der indische Arzt, empfiehlt täglich mindestens eine halbe Stunde »Ich-Zeit«. Besser noch eine ganze Stunde. Da soll man egoistisch sein, alle Verpflichtungen fallen lassen und »seinen Körper daran erinnern, dass er nicht attackiert wird«. Diese Ich-Zeit soll man täglich fest einplanen, egal, ob man sie in der Badewanne, in einem Kaffeehaus oder auf dem Sofa verbringt und dabei Musik hört. Ein Kollege von mir bei BILD hat jeden Donnerstagabend eine Verabredung mit sich selbst, er geht dann – egal, was kommt – in die Berliner Gemäldegalerie, wo jeden Donnerstag um 18 Uhr einer der ansässigen Professoren eine kleine Führung zu einem Spezialgebiet anbietet. Es ist völlig egal, was man tut, um die Maschinen anzuhalten, nur wirklich Fortgeschrittene kriegen das hin, was dem Bär Paddington gelingt, der sagt: »Sometimes I sits and thinks, and sometimes I just sits.« Um wirklich gar nichts zu tun, muss man schon ein Zen-Meister oder eben Paddington sein.

Faulheit kann große Effizienz bewirken, wenn man gezwungen wird, zwischen »dringlich« und nur »wichtig« zu unterscheiden, ohne Faulheit wäre das Rad nicht erfunden worden. Andererseits ist Faulheit, Trägheit, acedia, wie der Lateiner sagt, eine Urverführung (besonders für Männer). Das Wort acedia bedeutet »Nachlässigkeit, Sorglosigkeit, untätig sein«. Es beschreibt exakt die Haltung Adams, der ja dabei war, als die Schlange Eva verführte (Gen 3,6): »Und sie nahm von seiner Frucht und sie aß. Und sie gab davon auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß.« Er hing also irgendwo unbeteiligt in der Nähe rum, nuckelte an seinem Bier oder daddelte auf seinem Handy, seine Rolle ist jedenfalls dezidiert passiv; es spricht nicht für ihn, dass er später alles auf seine Frau zu schieben versuchte. Hätte er ritterlich gehandelt, wäre es nicht so weit gekommen, er hätte Eva vor der Schlange beschützt, und, wenn schon Sündenfall, dann hätte er sich vor seine Frau gestellt und Verantwortung übernommen. Es wäre interessant gewesen, wie dann die Geschichte weitergegangen wäre, wahrscheinlich wäre die Bibel so kurz geworden wie das Take-away-Menü einer Pizzeria.

Wenn Trägheit zu den zentralen Motiven einer solch archetypischen Geschichte gehört, scheint sie doch ein sehr grundsätzliches Problem zu sein. Das englische Wort für »Faulheit« ist gemeinerweise sloth, was insofern ungerecht ist, als es im Englischen zugleich der Name für das Faultier ist. Diese niedlichen kleinen Viecher haben zwar einen extrem niedrigen Stoffwechsel (sie gehen nur einmal die Woche aufs Klo, weil die Wahrscheinlichkeit, beim Kacken von einem Raubtier erwischt zu werden, so hoch ist) und hängen ihr ganzes Leben in den Bäumen herum, aber sie sind viel zu sympathisch, um den Namen mit einer Todsünde zu teilen. Wenn man sich schon einer Anleihe aus dem Tierreich bedienen will, sollte man Wassergurken nehmen, Holothurien tun ihr ganzes Leben nichts als fressen, rumliegen und das Gefressene wieder ausscheiden. In der Tiefsee bestehen laut Wikipedia 90 Prozent der bodennahen Biomasse aus Wassergurken. Wenn es mit unserer Übertechnisierung so weitergeht, sind wir alle bald auch nur noch Biomasse, und den Rest nimmt uns die Technik ab.

Trägheit ist in unserer hochtechnisierten, durchgeplanten, komplexen Welt jedenfalls verführerischer als zu biblischen Zeiten, nicht nur, weil es mehr eskapistische Verführungen gibt, sondern weil man den Tag voller Termine haben und dennoch träge sein kann. Je weniger freie Zeit man hat, desto mehr wird man auch davon abgehalten, nach den letzten Dingen Ausschau zu halten. Man kann äußerlich höchst aktiv und zugleich geistig und spirituell träge sein.

Grob gesagt, gibt es vier Arten von Faulheit: Die offensichtlichste ist die rein körperliche. Morgens nicht aus den Federn kommen, jede körperliche Anstrengung meiden. Dann ist da die intellektuelle Trägheit. Sie ist weit verbreitet, es genügt heutzutage, sich dreißig Sekunden mit einem Thema zu befassen, um sich ein abschließendes festes Urteil zu bilden, das man dann mit Hashtag versehen kann. Es gibt moralische Trägheit, da wischt man moralische Fragen und Entscheidungen unter den Teppich, geht den Weg des geringsten Widerstands. Unsere relativistische Kultur macht es einem leicht, da ethische Fragen nicht mehr »schwarz und weiß« gesehen werden, wie es so schön heißt. Christen bedienen sich moralischer Trägheit gern, um nicht für die Wahrheiten einzustehen, an die sie eigentlich glauben. Sie ducken sich zum Beispiel bei Themen wie Abtreibung, Pornografie und Promiskuität lieber weg, weil sie nicht anecken wollen.

Die schlimmste Form von Trägheit ist die geistige und spirituelle. Die Seele bleibt ruhelos und leer, wenn sie sich nicht auf die Suche nach Mehr (großgeschrieben) macht. Zu den gängigsten Methoden, um diese Leere zu füllen, gehört der Konsum, das Essen, der Körper- und Selbstverwirklichungskult und der Sex. Wenn man dieser Form von Trägheit verfallen ist, erleidet man vermutlich den schlimmsten Schaden, weil man irgendwann der Suche nach dem Wahren, Guten und Schönen aus dem Weg geht und sich nur noch seiner Selbstverwirklichung widmet.

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Wir benötigen also körperlichen, mentalen und spirituellen Fleiß, damit wir nicht zu Holothurien werden. Obwohl, wenn es nach den Visionären im Silicon Valley geht, wäre das gar nicht so schlimm, weil wir unsere Körper ohnehin bald gar nicht mehr benötigen, weil unser Bewusstsein irgendwann auf Servern gespeichert werden kann, die gut gekühlt in Finnland oder Norwegen stehen. Damit wäre dann der Traum von der körperlosen, weil sorgenfreien Existenz erfüllt, den Alan Turing hegte.

Die Geschichte des Alan Turing ist unendlich traurig. Sie soll nicht ausgebreitet werden. Nur so viel: Der Mann, den viele als Vater der Künstlichen Intelligenz bezeichnen und der während des Zweiten Weltkrieges mit der Entschlüsselungsmaschine »Enigma« bei der Entzifferung der deutschen Funksprüche half, hatte einen konkreten Grund, sich in Gedanken von technischer Biologie zu verlieren. Er wünschte sich selbst weg. Turing litt zeitlebens unter Depressionen und unter seiner Homosexualität. 1952 wurde er wegen »grober Unzucht« verurteilt, er hatte einen Neunzehnjährigen zu sich nach Hause genommen, sein Haus wurde von einem Bekannten des Jungen ausgeraubt, bei der polizeilichen Untersuchung gab Turing den sexuellen Kontakt zu dem jungen Mann zu und wurde – homosexuelle Handlungen waren damals eine Straftat – verurteilt. Er willigte ein, sich einer chemischen Kastration zu unterziehen (es wurde ihm Diethylstilbestrol gespritzt), was seine latente Depression verschlimmerte, zwei Jahre später brachte er sich um. 2009 bat der damalige britische Premierminister Gordon Brown offiziell im Namen der Regierung um Vergebung für die »entsetzliche Behandlung« Turings, 2013 sprach ihm die Queen postum ein Royal Pardon aus, sie gewährte ihm eine Königliche Begnadigung. Man kann die Geschichte der Computertechnologie und des Transhumanismus nicht verstehen, wenn man die persönliche Geschichte Turings nicht kennt, der davon träumte, nur noch Geist, nur noch Maschine, alles, nur kein Körper, zu sein.

Es ist der alte Traum des Alexej Kirillow, einer der Nihilisten in Dostojewskis »Dämonen«, der den Atheismus zu Ende denkt und die These vertritt, dass die einzig logische Folge der Nichtexistenz Gottes die absolute Herrschaft des menschlichen Willens ist. »Wenn Gott nicht existiert«, sagt Kirillow, »dann gehört alles mir«, dann sei man geradezu dazu verpflichtet, der Welt seinen Willen aufzudrücken. Bis hin zum Tod. Deshalb ist er entschlossen, sich selbst zu töten, nur um einen Punkt zu machen: Dass man sich nicht vor dem Tod fürchten muss und dass die Überwindung dieser Angst gleichbedeutend mit der Befreiung von allem Glauben und mit dem Beginn einer Zeit ist, in der der Mensch sich endlich als Gott erkennt. »Die volle Freiheit«, sagt Kirillow in seinem berühmten Monolog, »wird dann sein, wenn es dem Menschen ganz egal sein wird, ob er lebt oder nicht. Das ist das Ziel für die Gesamtheit. (…) Es wird einen neuen Menschen geben, einen glücklichen und stolzen Menschen (…) Der Mensch wird ein Gott sein und er wird sich physisch umgestalten.«

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Die next frontier, der nächste große Dammbruch, wird die Fusion von Mensch und Maschine sein. Der russische Philosoph Nikolai Berdjajew sagte schon 1934 voraus, dass die Kombination aus menschlicher Trägheit und technischem Fortschritt auf einen Endkampf zwischen Mensch und Maschine hinauslaufe. Es werde ein Endkampf sein, bei dem es um die menschliche Seele gehe. In seiner Studie »Der Mensch und die Technik«, er verfasste sie, als Turing gerade junger Student in Cambridge war, heißt es prophetisch: »Die Arbeit des Menschen wird in der technischen Kultur durch die Maschine ausgeführt. Diese Änderung scheint ein Fortschritt zu sein, eine positive Leistung, die das Elend und die Versklavung des Menschen aufheben soll. Die Maschine will sich aber den Forderungen des Menschen nicht unterwerfen und hält ihm ihre eigenen Gesetze entgegen. Der Mensch hat der Maschine gesagt: ich brauche dich, um mein Leben leichter zu machen und meine Kraft zu mehren. Die Maschine hat aber dem Menschen geantwortet: ich brauche dich nicht; ich übernehme die ganze Arbeit, wenn du auch dabei zugrunde gehen wirst. … Die Technik kennt kein Erbarmen dem Leben und allem Lebendigen gegenüber; die Herrschaft der Technik zerstört die menschliche Persönlichkeit. Der Kampf gegen die Herrschaft der Technik geht also um die Rettung des Menschen, der menschlichen Gestalt … Die Technisierung der Kultur hat eine neue Gefahr heraufbeschworen: die Gefahr der Dehumanisierung, der Entmenschlichung des Menschen. Jetzt geht es nicht um die Wahl zwischen dem alten und dem neuen Menschen, sondern um die Existenz des Menschen überhaupt.«

Was ist die Antwort von uns Menschen? Brauchen wir in einer Zeit der Übertechnisierung überhaupt noch Fleiß, nehmen uns die Maschinen mittelfristig die Arbeit nicht ohnehin ab? Die Antwort kommt aus überraschender Richtung. Jack Ma, einer der reichsten und mächtigsten Männer Chinas, er ist Gründer und Vorstandsvorsitzender des Technologiekonzerns Alibaba, wurde einmal gefragt, was er als ehemaliger Lehrer zum Thema Bildung zu sagen habe. Menschen pures Wissen einzutrichtern sei Unsinn, sagte er, in puncto Wissen seien uns Computer schon bald voraus. Stattdessen sollten wir endlich unsere Kinder die Dinge lehren, die uns von Maschinen unterschieden: »Wir können unseren Kindern nicht beibringen, mit Maschinen zu konkurrieren. Maschinen sind schlauer. Lehrer müssen aufhören, lediglich Wissen zu vermitteln! Kinder sollten etwas Einzigartiges lernen, dann können Maschinen sie nicht einholen.« Dann zählte er die Dinge auf, auf die wir bauen sollten: »Zuallererst Werte. Dann Überzeugung, unabhängiges Denken, Teamwork, Mitgefühl – Dinge, die nicht durch reines Wissen vermittelt werden. Wichtig sind Dinge wie Sport, Musik, Kunst. Wir müssen auf die Dinge bauen, die uns von Maschinen abheben!« Fleiß kann auch bedeuten, dass man sich endlich zu grundlegenden Dingen Gedanken macht.


Auszug aus: Alexander von Schönburg, Die Kunst des lässigen Anstands. 27 altmodische Tugenden für heute. Piper Verlag, 368 Seiten, 20,00 €.

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Hadrian17
5 Jahre her

Das, was den Menschen von der Maschine unterscheidet, ist die Fähigkeit, geistige und instinktive Verknüpfungen auf verschiedensten Ebenen herzustellen und auszuwerten. Die „vierte Dimension“ – nicht im Raum, nicht in der Zeit, sondern in Körper und Geist – und das täglich. Da werden Maschinen immer unterlegen sein müssen, weil das nicht programmierbar ist. Die Verknüpfung von Intelligenz, Beharrungsvermögen, Empathie, Antipathie, also „Bauchgefühl“, die Negierung von Effizienz zur Erreichung eines Ziels, die Verarbeitung der Instinkte und deren Abgleich mit der gebotenen Rationalität ist einmalig und immer wieder neu zusammengesetzt.Abarbeiten von Notwendigkeiten? 90 % der Dinge erledigen sich durch Zeitablauf von selbst.… Mehr

Sonny
5 Jahre her

Alles gut und schön, aber Faulheit muss man sich leisten können.
Und ich bezweifle stark, dass die halbe Stunde Faulheit am Tag irgendetwas zum Positiven ändert. Ich wäre eher für den Ausdruck „Innehalten“ (und den Gedanken freien Lauf lassen), und zwar ohne jegliche Ablenkung.