Das schwierige Schreiben der Wahrheit in der DDR

Nur vordergründig ist er ein Umweltroman. Im 1981 erschienenen „Flugasche“ beschreibt Monika Maron eindrucksvoll die Not einer Journalistin, die sich gerade wegen ihres Glaubens an den Sozialismus nicht mit dem ihr auferlegten Zwang zur Doppelzüngigkeit arrangieren kann. Von Peter J. Brenner

Die DDR war weltweit einer der ersten Staaten, die ein eigenes Umweltministerium schufen, so wie sie ebenso zu den ersten Ländern gehörte, welche das Wort „demokratisch“ in ihre Staatsbezeichnung aufnahmen. Beides hatte wenig zu bedeuten. Genauso wie auf den Mauerbau nicht verzichtet wurde, blieb der Schwefeldioxidgehalt in der „demokratischen“ DDR-Luft einer der höchsten der Welt.

Auch in der sozialistischen Gesellschaft reifte schon sehr früh die Einsicht, dass das ungesunde Verhältnisse waren, aber es ließ sich wenig dagegen tun. Angesichts der ökonomischen Ineffizienz sozialistischer Planwirtschaft konnte man sich Umweltschutz schlicht nicht leisten. Die Umweltverschmutzung im Chemiedreieck zwischen Bitterfeld, Leipzig und Halle war auf europaweitem Rekordniveau. Den Leuten dort blieb jedenfalls nicht verborgen, dass in den 1950ern jährlich 1,5 Millionen Tonnen Asche auf ihren Häuptern niederging.

Das ist der Angelpunkt von Monika Marons Romanerstling „Flugasche“, der 1981 in der Bundesrepublik – und nur dort – erschien. Die Ostberliner Journalistin Josefa Nadler erhält den Auftrag, eine Reportage in „B.“ zu schreiben, der „schmutzigsten Stadt Europas“. Zweimal begibt sie sich ins Herz der industriellen Finsternis, in die ruinöse Industrielandschaft der spät- und staatssozialistischen DDR. Sie spricht mit offiziellen und weniger offiziellen Beschäftigten in dem gigantischen Industriewerk. Vom Pressesprecher Alfred Thal und dem Heizer Hodriwitzka erfährt sie einiges über die gesundheitsschädlichen Emissionen und Arbeitsbedingungen im völlig veralteten Kraftwerk und weiß von vornherein, dass ihr Bericht darüber nicht gedruckt werden wird.

Erzähltechnisch gesehen ist das Umweltthema nicht das Zentrum, sondern nur der Auslöser der Handlung. Der Roman handelt in seinem Kern von den Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. Die Notwendigkeit einer sozialistischen Gesellschaft wird von Josefa Nadler nicht infrage gestellt, dafür stehen die Erinnerungen an den von den Nationalsozialisten ermordeten polnischen Großvater Pawel, dafür stehen auch der von seiner KZ-Haft gebrochene Chefredakteur Rudi Goldammer und die überzeugte Antifaschistin Luise.

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»Flugasche« – der Roman, der in der DDR nicht erscheinen durfte
Aber die Journalistin kann sich gerade wegen ihres Glaubens an den Sozialismus nicht arrangieren mit dem ihr auferlegten Zwang zur „Doppelzüngigkeit“. „Flugasche“ ist auch der Roman einer Vereinsamung inmitten der sozialistischen Kollektivgesellschaft. Nicht ohne Grund schließlich erschien die westdeutsche Taschenausgabe bei Fischer in der Reihe „Die Frau in der Gesellschaft“. Es geht auch um die Position der Frau in der sozialistischen Gesellschaft, ihre berufliche Rolle und ihre privaten Beziehungen.

Kampf mit der Partei

Der Roman endet, aus staatsozialistischer Perspektive, sogar versöhnlich. Josefa Nadler gibt ihren Beruf resigniert auf, aber der Schlussabsatz des Romans verweist auf die Selbstheilungskräfte der sozialistischen Gesellschaft: Zugunsten der Volksgesundheit und zuungunsten der Volkswirtschaft wird das Kraftwerk abgeschaltet. Aber die Journalistin ist unter die Räder geraten. Den Machtkampf mit der Partei, vertreten durch deren Sekretär Siegfried Strutzer, hat sie erwartungsgemäß verloren. Davon handelt der zweite Teil des Romans.

Monika Marons „Flugasche“ ist ein vielschichtiges Buch. Wenn man nur auf die verhältnismäßige Verteilung der Themenbereiche achtet, wird man „Flugasche“ nicht als Umweltroman bezeichnen können. „Flugasche“, so heißt es im DDR-„Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ von 1977, sei eine „feine Asche, die bei der Verbrennung in Großfeuerungsanlagen anfällt und von den Rauchgasen mitgerissen wird“ – ein hochgradig technischer Begriff also, der aber im Roman veredelt wird. Denn das Wort hat hochpoetische Qualitäten, welche die Fantasie beflügeln, die Fantasie des Lesers vielleicht weniger als die der Erzählerin. Der Roman ist durchsetzt von Flug- und Flucht-, aber auch von Angst- und Vernichtungsfantasien, in denen sich die Erzählerin aus ihrem Alltag herausträumt. Die Handlung ist komplex, und der Roman verfügt über viele stilistische Register, von einer poetischen, anspielungsreichen und oft surrealen Sprache bis zum einfachen Reportage-Ton.

Um 1980 hatten die Debatten über die Kehrseite des technischen und industriellen Fortschritts auch die DDR erreicht. 1982 erschien gleich in vier Auflagen das schmale Erzählbändchen „Swantow“ des heute längst vergessenen DDR-Autors Hanns Cibulka im Mitteldeutschen Verlag. In eine idyllische Zweierbeziehung in einem entlegenen Bauerndorf auf Rügen, das der Erzählung den Titel gibt, bricht die Realität in unvermuteten Assoziationen ein. Das im Bau befindliche Kernkraftwerk im nahen Lubmin bei Greifswald wird flüchtig gestreift, auf seine potenziell zerstörerischen Spaltprodukte wird hingewiesen, ebenso auf die Verschmutzung der Ostsee und der Weltmeere im Allgemeinen: „Die Natur schlägt zurück“, heißt es. Das sind alles nur beiläufige und halb versteckte Hinweise, aber sie reichen, um Cibulka ins Visier der Verteidiger des sozialistischen Fortschritts geraten zu lassen.

„Follow the Science“

Ende der 1970er löste der Roman „Krabat“ des sorbischen Schriftstellers Jurij Brězan in der DDR eine Debatte aus. Ihr Gegenstand war die gerade in West wie Ost sich etablierende Gentechnik, die wissenschaftsmoralische Fragen neuer Art aufwarf, in die bald auch die Atomkraft einbezogen wurde. Den vorsichtig fragenden Schriftstellern, darunter Hanns Cibulka, wurde „Wissenschaftsfeindlichkeit“ vorgeworfen, mit der sie nicht nur den sozialistischen Fortschritt hemmten, sondern damit auch den SED-Staat infrage stellten. Es ist kein Zufall, dass das „Follow the Science“-Dogma von einer ehemaligen DDR-Physikerin in die Klima- und Corona-Politik eingeführt wurde.

Zwischen Realismus und surrealer Parabel
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Und mehr noch: 1974 erschien im Rowohlt-Verlag ein Gesprächsband, in dem der Lektor und spätere SPD-Politiker Freimut Duve einen kritischen Dialog mit dem orthodox-marxistischen DDR-Philosophen und notorischen Dissidenten Wolfgang Harich über einen „Kommunismus ohne Wachstum“ führte. Harich plädierte für eine nordkoreanisch anmutende Logik des staatlich erzwungenen Verzichts, für die seine Kritiker den Begriff „Öko-Stalinismus“ fanden. Harichs Vorschläge lesen sich wie eine frühe Blaupause jener ökologischen Transformation der Gesellschaft, die sich fünf Jahrzehnte später durchzusetzen beginnt – gleich im ersten Satz des Buches findet sich übrigens das Wort „Zeitenwende“.

Mit der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl wurde das Thema 1986 brisant. Die in Ost und West gleichermaßen prominente Schriftstellerin Christa Wolf hat der Katastrophe eine vielbeachtete Erzählung gewidmet: „Störfall“ erschien 1987 im Aufbau Verlag, ein Jahr später in Westdeutschland. Die namenlos bleibende Erzählerin ist von einem doppelten Störfall betroffen: Neben dem globalen steht das private Unglück, die gleichzeitig stattfindende Operation zur Entfernung des Gehirntumors des Bruders. Beides, der Reaktorunfall wie die am Ende geglückte Operation, laden zur Reflexion über das Janusgesicht des Fortschritts ein, der heilen und zerstören kann. Das bleibt ziemlich unverbindlich; den politischen Kern des Themas umgeht Christa Wolf vorsichtig.

Monika Marons „Flugasche“ sieht da schon schärfer hin. Der Roman beschreibt eine untergegangene Welt, aber die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit sind geblieben. „Flugasche“ ist eines jener Werke, von denen man sich wünschen würde, dass sie 40 Jahre nach ihrem Erscheinen nicht mehr so aktuell wären, wie sie es sind.

PETER J. BRENNER studierte Philosophie, Germanistik und Komparatistik sowie Erziehungswissenschaft. Von 1991 bis 2009 war er Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität zu Köln, von 2009 bis 2019 an der TU München.

Monika Maron, Flugasche. Roman. Hoffmann & Campe, 256 Seiten, 24,00 €.


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