Das Fasten der Zukunft

Unser Leben ist komplex geworden. Wir werden von Erwartungen und Informationen überflutet. Oft sehnen wir uns danach, auszubrechen. Dieser Sehnsucht nachzuspüren und zu erkennen, was uns verloren gegangen ist, auch dafür bietet die nun beginnende Fastenzeit gute Gelegenheiten.

Vor einiger Zeit habe ich mit meinem Handy einen Sonnenuntergang fotografiert. Ich hätte auch gar nicht anders gekonnt. Denn in exakt dem Augenblick, als mein Auto den höchsten Punkt des Weges erreicht hatte, ging die Sonne unter. Ein unwiderstehlicher Anblick. Vor mir breitete sich das Berg-Panorama des südlichen Schwarzwalds aus – und über der nahen Schweiz die große orangerote Kugel aus Licht.

Als ich das Foto nachher betrachtete, musste ich laut auflachen. Denn wenige Tage zuvor hatte ich das Display meines Smartphones auf Schwarzweiß umgestellt. Dies ist eine der Maßnahmen, die ich mir für den Anfang des Jahres selbst verordnet habe. Zusammen mit einer 4-wöchigen Abstinenz von Social Media. Das Posten von Bildern, Vorträgen und Texten gehört seit Jahren fest zu meiner täglichen Routine, es ist Teil meiner Arbeit. Umso schwerer fällt es mir, die Freizeit davon freizuhalten.

Auch das beinhaltet die neue Konstellation von Kreativität und Entspannung im digitalen Zeitalter: den Arbeitsplatz kann man nicht ohne weiteres absperren und nach Hause gehen. Denn wir nehmen ihn überall hin mit: in unserer Hosentasche. Das Problem: dadurch ist der Alarmzustand immer nur eine SMS, einen Anruf und eine Mail entfernt. Wer hält es denn wirklich aus, nicht nachzusehen, wenn dieses Ding piept, vibriert oder eine rote Zahl aufleuchtet?

»Ich habe Weiß immer Weiß genannt.«
Eine kleine Geschichte des modernen Menschen
Doch auch das positive Gegenteil gibt es. Mit dem Smartphone ist die nächste willkommene Ablenkung immer nur einen Griff entfernt. Jedes Auffinden einer neuen Information, jede Kontaktaufnahme, jedes Aufblinken verpasst dem Gehirn eine kleine Dosis des Motivationshormons Dopamin. Das Kritische daran ist die Gewöhnung, die dadurch auf neuronaler Ebene entsteht. Die Sucht nach der nächsten Ablenkung. Obwohl wir erschöpft und müde sind, suchen wir uns die neuen Informationen, unter denen wir eigentlich leiden. Innerer Lärm, den wir freiwillig in unsere Leben holen.

Bevor all dies zu sehr nach kulturpessimistischem Lamento klingt: die Digitalisierung hat gewaltige Vorteile. Und sie wird unser Leben ohnehin immer weiter prägen. Umso wichtiger aber ist das Erlernen eines gesunden Umgangs damit. Ich glaube, dass digitale Abstinenz das Fasten der Zukunft ist. Wir sollten es einüben und bereits unsere Kinder lehren. Tatsächlich habe ich den Trick mit den Graustufen von meiner Tochter gelernt, die ihrem Gehirn auf diese Weise ein bißchen weniger Dopamin zukommen lässt (denn farbige und bewegte Bilder fesseln uns mehr als graue).

Wirklich Spaß macht das nicht. Die Nachrichten auf schwarz-weiß lesen. Und die Social-Media-Apps sind von meinem Handy gelöscht, sodass ich automatisch weniger oft auf den Bildschirm blicke. Ein bißchen mehr Langeweile in meinem Leben, aber dafür auch ein bißchen mehr Langsamkeit. Ich merke, dass mir diese Tage guttun. Auch dieses Jahr werde ich das Mobiltelefon nicht mit in den Urlaub nehmen. Echte Sonnenuntergänge gibt es nur in der Realität. Genau so wie Gerüche, Berührungen und echte Begegnungen. Auf einmal kommt mir die Welt wieder farbiger vor.

Dieser Beitrag von Johannes Hartl erschien als Tagesposting in der Printausgabe von Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.

Mehr vom Autor:
Johannes Hartl, Eden Culture. Ökologie des Herzens für ein neues Morgen. Herder, Hardcover mit Schutzumschlag, 304 Seiten, 24,00 €.


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Kommentare ( 2 )

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2 Comments
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Gabriele Kremmel
2 Jahre her

Nicht nur, aber gerade im Urlaub mache ich die schönsten Erinnerungsbilder mit meinem smarten, handlichen und unaufdringlichen Mobiltelefon. Man muss sich ja nicht zum Knecht der Mitteilungen machen, hatten wir ja früher auch nicht in der Form. Sobald man zuhause ist, vielleicht an die Wohnung gebunden, mit sich alleine, untätig weil krank oder anderweitig verhindert, einen Trauerfall hat oder sonstige deprimierende Phasen, dann sind die Bilder auf dem Handy Gold wert. Es weckt die Erinnerung an die schönen Momente, Eindrücke, an Orte und Begegnungen mit Menschen, die man damit festgehalten hat, und erinnert sich der besseren Zeiten im Leben und… Mehr

Alter Schwede2222
2 Jahre her

Ein Wink mit dem Zaunpfahl.
Ich werde sogar noch weiter gehen, wie schon 2016 wo ich irgendwann sämtliche Informationsquellen, auch TE für ein halbes Jahr „abgeschaltet“ habe.
Ich merke heute, dass es nicht sein kann alle zehn Minuten das Handy und mich zu quälen, ob es was Neues an der Corona- oder Kriegsfront gibt.
Sie können mir glauben, mir ging’s damals im
„Tal der Ahnungslosen“ erheblich besser.