Maaßens Bundestagskandidatur: Chemnitzer Hetzjagd-Legende, Teil II

Mit der Bundestagskandidatur von Hans-Georg Maaßen kommt es zu einer Neuauflage eines grotesken Deutungskampfs: Politiker und Medien verteidigen Glaubenswahrheiten – und bilden dabei eine verpanzerte Kampfgemeinschaft.

IMAGO / ari

Dafür, dass in vier Monaten eine Bundestagswahl stattfindet, gibt es bis jetzt erstaunlich wenig Wahlkampf. Das meiste von dem wenigen konzentriert sich auf einen Bundestagswahlkreis, der bis vor wenigen Wochen noch nie eine Rolle gespielt hatte: Wahlkreis 196 in Südthüringen mit dem langen Namen Suhl-Schmalkalden-Meiningen-Hildburghausen-Sonneberg. Dort tritt der frühere Präsident des Verfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen für die CDU an. Die Personalie wirkt so, als hätte jemand eine Handvoll Sand in das politische Räderwerk geworfen. Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident und Vorsitzende der schleswig-holsteinischen Landes-CDU Daniel Günther rief vor kurzem dazu auf, Maaßen nicht zu wählen. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil erklärte Maaßens Kandidatur zum Problem des CDU-Vorsitzenden Armin Laschet; mehrere Medien meldeten in der vergangen Woche, Maaßen habe „provoziert“. Im Zentrum der Aufregung steht eine Legende, die für viele im politimedialen Betrieb inzwischen den Status einer Glaubenswahrheit besitzt: Die rituelle Wiederholung, es habe im August 2018 in Chemnitz eine Hetzjagd, wahlweise auch Hetzjagden im Plural gegeben – und Maaßen habe dieses Ereignis geleugnet oder „verharmlost“. 

„Er hat rassistische Hetzjagden in Chemnitz verharmlost und wurde deswegen zurecht als Chef des Verfassungsschutzes gefeuert. Als CDU-Bundestagskandidat wiederholt Maaßen seine wirren Thesen. Und was macht Armin Laschet? Er schweigt dazu“, twitterte Klingbeil am vergangenen Freitag. 

Der „Münchner Merkur“ formte aus dem Generalsekretärs-Tweet die fast gleichlautende Überschrift: 

Maaßen hatte in einem von der „Neuen Zürcher Zeitung“ organisierten Streitgespräch zwischen ihm und dem FDP-Politiker Konstantin Kuhle noch einmal festgestellt, das inzwischen berühmte 19-Sekunden-Video aus Chemnitz („Hase, du bleibst hier“) zeige keine Hetzjagd, und es gebe auch keine anderen Belege, dass 2018 eine Hetzjagd in Chemnitz stattgefunden habe. Dem widerspricht Maaßens Kontrahent Kuhle übrigens auch gar nicht. 

Chemnitz
„Man gewöhnt sich dran“
Auch drei Jahre nach dem Mord an einem jungen Mann in Chemnitz durch zwei Asylbewerber und den folgenden Demonstrationen und Ausschreitungen erzeugt der Satz: „Es gab keine Hetzjagden in Chemnitz“ ein mittleres Beben. Die Hetzjagd-Legende ist eine Chiffre für die – um es vorsichtig zu sagen – schwer gestörte öffentliche Kommunikation in Deutschland. Die Falschbehauptung von Bundeskanzlerin Angela Merkel besitzt heute für eine ganze Reihe von Politikern und Journalisten den Status einer sakralen Verlautbarung. Merkwürdigerweise zerbröselt die Glaubenswahrheit aber sofort, sobald sich doch jemand findet, der sie die antastet. Darum geht es in diesem Text. 

Bei seinem Auftritt in der Sendung von Markus Lanz am 12. Mai  äußerte sich der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Daniel Günther auch zur Kandidatur Hans-Georg-Maaßens für den Bundestag: und zwar mit einem Appell, den Parteifreund nicht zu wählen. „Es gibt dort andere demokratische Kandidaten“, meinte Günther mit Blick auf den Wahlkreis 196 in Südthüringen. Und: „Vielleicht wird er“ – also Maaßen – gar nicht gewählt und kommt nicht in den Bundestag. Dann erledigt sich das Problem.“ Normalerweise fällt so etwas unter die Rubrik parteischädigenden Verhalten. Günther lieferte auch eine Begründung: Maaßen habe „seine Regierung falsch informiert“. Dabei meinte Günther offensichtlich die Bundesregierung. Wann und wie genau der frühere Verfassungsschutzpräsident die Bundesregierung in welcher Sache falsch informiert haben soll, sagte Günther in der Sendung nicht. Lanz fragte auch nicht nach. Das erledigte TE mit der Bitte an Günther, seinen Vorwurf zu konkretisieren. Eine Antwort gab es von der Kieler Staatskanzlei nicht; nach zwei Telefonaten meinte der Regierungssprecher, es handle sich eher um ein Parteithema, deshalb habe er die Frage an die Landesgeschäftsstelle der CDU Schleswig-Holstein abgegeben.

Deren Sprecher Max Schmachtenberg antwortete schließlich, er habe Günther nicht dazu sprechen können, aber:

„Ich gehe aber stark davon aus, dass er sich auf den Fall in Chemnitz bezieht. Die Medien hatten ja im September 2018 sehr breit (Die Zeit, Die Welt, Spiegel-Online… ) darüber berichtet, dass Herr Maaßen sich frühzeitig öffentlich dazu geäußert hatte, dass dem Verfassungsschutz keine belastbare Informationen darüber vorliegen würden, dass eine Hetzjagd auf Menschen mit Migrationshintergrund stattgefunden haben und das ein Video dazu im Internet nicht authentisch sei. Ohne dies durch Prüfung seiner Behörde belegen zu können.

Später relativierte Maaßen diese Behauptungen dann.“

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Die Lügen von Chemnitz und die lästige Wahrheit
Mit seinen Ausführungen beantwortet der CDU-Sprecher die Frage nicht, womit Maaßen 2018 die Bundesregierung falsch informiert habe, fügt der Sache aber eine weitere Verdrehung hinzu. Maaßen sagte 2018, als ihn die BILD um eine Einschätzung des 19-Sekunden-Videos aus Chemnitz bat, das die Plattform „Antifa Zeckenbiss“ verbreitet hatte: „Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist.“ Und: „Nach meiner vorsichtigen Bewertung sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken.“ Der damalige Verfassungsschutzchef stellte also fest, das Video zeige keine Hetzjagd – was allerdings jeder Betrachter sowieso feststellen konnte – und der von „Antifa Zeckenbiss“ mitgelieferte kurze Text „#Sachsen Menschenjagd in Chemnitz“ sei eine Falschinformation. Das relativierte Maaßen nie, anders als von dem Parteisprecher suggeriert.

Seine nur vier Sätze lange Einschätzung gegenüber der BILD hatte Maaßen damals mit dem Bundesinnenministerium von Horst Seehofer abgestimmt. Schon deshalb erledigt sich Günthers Vorwurf, der Verfassungsschutz-Chef habe die Bundesregierung „falsch informiert“. Er erledigt sich auch durch die Ermittlungen zu Chemnitz. Am 31. August 2018 bestätigte die damals ermittlungsführende Generalstaatsanwaltschaft Sachsen auf Anfrage: „Nach allem uns vorliegenden Material hat es in Chemnitz keine Hetzjagd gegeben“, so Oberstaatsanwalt Wolfgang Klein. Daran änderte sich auch nach dem Abschluss der Ermittlungen nichts. Klein bestätigte damals, was vorher schon der Chefredakteur der „Freien Presse“ Torsten Kleditzsch festgestellt hatte, dessen Mitarbeiter am 27. August 2018 das Geschehen in Chemnitz beobachtet hatten, während keine überregionalen Teams unterwegs waren: „Eine ‚Hetzjagd’, in dem Sinne, dass Menschen andere Menschen über längere Zeit und Distanz vor sich hertreiben, haben wir aber nicht beobachtet. Wir kennen auch kein Video, das solch eine Szene dokumentiert.“ 

Auf die Frage von TE, worin nun konkret die von Günther behauptete Falschinformation Maaßens bestanden haben sollte, antwortete Parteisprecher Max Schmachtenberg in einem Telefonat, er wolle mit dem Ministerpräsidenten darüber sprechen. Bis jetzt meldete er sich nicht wieder. Schmachtenberg sagte in dem Gespräch, er selbst kenne das „Antifa-Zeckenbiss“-Video gar nicht. 

TE fragte auch SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil per Mail, welche Hetzjagden genau Maaßen verharmlost habe, wann sie stattgefunden haben sollten, und welche Belege er dafür habe. Der Sprecher des Generalssekretärs sagte am Telefon: „Herr Klingbeil gibt ‚Tichys Einblick’ keine Stellungnahme.“

Es spielt sich also im Jahr 2021 mehr oder weniger das gleiche ab wie schon 2018: Die Behauptungen der Hetzjagd von Chemnitz schwebt evidenzfrei im Raum. Wer nachfragt, bekommt ausweichende Textbausteine, oder er stößt auf patziges Schweigen. 

Nach diesem Muster entstand 2018 die Hetzjagd-Erzählung, also das Narrativ über ein Nicht-Ereignis, das eine Kette von realen Ereignisse nach sich zog. 

Spätes Eingeständnis - peinliches Schweigen
War Chemnitz und die Hetzjagd eine Notlüge?
Am frühen Morgen des 26. August 2018 töten die beiden mit Messern bewaffneten Asylbewerber Alaa S. und (der bis heute flüchtige) Farhad Ahmad den 35jährigen Chemnitzer Daniel Hillig, und verletzen zwei andere Männer schwer. Als die Nachricht im Lauf des Tages die Runde macht, kommt es am Nachmittag zu einer Spontandemonstration von etwa 800 Bürgern, zu der auch etwa 50 gewaltbereite Personen aus der rechtsradikalen und Hooligan-Szene gehörten. Von dieser Gruppe wurden mehrere Passanten angepöbelt und bedroht. Auf der anderen Seite sammelten sich auch linke Demonstranten, auch Migrantengruppen. Kurz vor 17 Uhr kam es am Rand des Trauerzuges zu dem, was in Polizeiberichten üblicherweise „Rangelei“ heißt: Zwei Asylbewerber auf Afghanistan rufen einer Gruppe von Demonstranten, so schildert es später Kathrin B. gegenüber TE und bestätigte dies mit eidesstattlichen Versicherungen, „verpisst euch“ zu. Einer von ihnen habe einem der Demonstranten Bier über die Kleidung gekippt. Um 16.52 Uhr beginnt Kathrin B.  mit ihrem Mobiltelefon zu filmen; ihre Aufnahme zeigt die Fortsetzung. Einer der Demonstranten rennt einige Meter auf die beiden Asylbewerber zu, schreit „Haut ab!“, „Was wollt ihr, ihr Kanacken?“ und vollführt eine Trittbewegung. Damit trifft er allerdings nur die Luft: die beiden Afghanen sind schon mehrere Meter entfernt. Zu einer Verfolgung kommt es nicht. Noch am frühen Abend gerät das Video aus bisher noch ungeklärten Gründen aus einer vermeintlich geschlossenen Chat-Gruppe zu der bis dahin unbekannten Plattform „Antifa Zeckenbiss“, die das eigentlich unspektakuläre 19-Sekunden-Video mit dem „#Sachsen Menschenjagd in Chemnitz“-Text einen Deutungsrahmen verpasst, der von dem Bewegtbild gar nicht gedeckt war – aber keine vierundzwanzig Stunden später von der Kanzlerin in den Rang einer regierungsamtlichen Erkenntnis erhoben wurde.

Am Montag, 27. August 2018 traten sowohl Regierungssprecher Steffen Seibert als auch Angela Merkel vor die Presse, um die Ereignisse in Chemnitz zu kommentieren. „Was gestern in Chemnitz  zu sehen war und stellenweise auf Video festgehalten wurde“, so Seibert, „das hat in unserem Rechtsstaat keinen Platz. Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens und anderer Herkunft, (…) das nehmen wir nicht hin.“

Merkel erklärte:

„Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden gab, Zusammenrottungen (…)“

Niemand hatte bis dahin eine Videoaufnahme von einer Hetzjagd gesehen. Aber die Beteuerung nicht nur des Regierungssprechers, sondern der Regierungschefin selbst, „wir“ – also die Regierung – verfüge über entsprechendes Material im Plural („Aufnahmen“, „Hetzjagden“), musste als hochamtliche Bestätigung wirken. Die Berichterstattungsmaschinerie sprang an, deutschland-, europa- und weltweit, und sie rotierte sofort im roten Drehzahlbereich.

Erst auf Nachfrage (unter anderem von Publico) räumt Seibert ein, dass sich seine und Merkels Bewertung ausschließlich auf das verwackelte 19-Sekunden-Video stützte, das „Antifa Zeckenbiss“ im Netz verbreitet hatte – und später auch die Tagesschau. Die Hauptnachrichtensendung der ARD berichte unter der Schlagzeile: „Bundesregierung prangert ‚Hetzjagden’ an.“ Als einziger Beleg in der Sendung diente wiederum nur der Videoschnipsel von „Antifa Zeckenbiss“.

Auch später erklärte die Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage: 

„Die der Großen Anfrage zugrunde liegenden politischen Einordnungen der Bundesregierung fußen – wie bereits in der Antwort auf die Kleine Anfrage auf Bundestagsdrucksache 19/4655 dargelegt – auf der Berichterstattung in den Medien… Der Bundesregierung liegen keine über die Presseberichterstattung hinausgehenden Erkenntnisse vor.“ Es war erkennbar eine Notlüge – Fakten sollten die regierungsamtliche Sicht nicht trüben.

Die Berichterstattung in den Medien aber war anders. Der frühere ZDF-Investigativreporter Harry Reitmaier hatte für TE die Menschen getroffen, die wirklich dabei waren, und sich nicht aus der Ferne etwas zusammendichteten.

Die Wahrheit hat es schwer, sich durchzusetzen. Für die Zeugen begann eine Zeit der Angst und Unsicherheit. Sie tauchten in die Anonymität ab, nur erreichbar für TE-Reporter, die die Personen kennen.

Wenn etwas in der Affäre irreführend und falsch war, dann die Aussagen Seiberts und Merkels. Ihnen lagen zu keinem Zeitpunkt Videoaufnahmen vor, die Hetzjagden in Chemnitz festgehalten hätten. 

Auf Anfrage nahm Seibert Anfang September die Formulierung „Hetzjagd“ sogar zurück. Hier noch einmal das damalige Antwortschreiben auf die Anfrage von Publico:

„Sehr geehrter Herr Wendt,

vielen Dank für Ihre Anfrage.

Regierungssprecher Steffen Seibert hat sich am Montag, 27. August 2018, in der Regierungspressekonferenz zu den Ereignissen in Chemnitz geäußert und die Vorfälle des Vortags politisch eingeordnet. 

Zu diesem Zeitpunkt existierten in den sozialen Medien bereits vielfach verbreitete Schilderungen der Geschehnisse, darunter auch eine Videoaufnahme, die zeigt, wie Demonstranten in aufgeladener Stimmung Migranten mit Sätzen wie „Haut ab!“, „Was wollt ihr, ihr Kanaken“ und „Ihr seid nicht willkommen“ nachsetzen und diese in die Flucht jagen.

Auch die „Freie Presse Chemnitz“ berichtete darüber, dass es aus der Demonstration heraus Angriffe auf „Migranten, Linke und Polizisten“ gegeben habe. 

Die Einordnung der Ereignisse von Chemnitz war schließlich am Montag, 3. September 2018, ein weiteres Mal Thema in der Regierungspressekonferenz. Regierungssprecher Steffen Seibert hat auf die Frage eines Journalisten wie folgt geantwortet:

„Ich werde hier keine semantische Debatte über ein Wort führen. Wenn die Generalstaatsanwaltschaft das sagt, dann nehme ich das natürlich zur Kenntnis. Es bleibt aber dabei, dass Filmaufnahmen zeigen, wie Menschen ausländischer Herkunft nachgesetzt wurde und wie sie bedroht wurden. Es bleibt dabei, dass Polizisten und Journalisten bedroht, zum Teil auch angegriffen wurden. Es bleibt dabei, dass es Äußerungen gab, die bedrohlich waren, nah am Aufruf zur Selbstjustiz. Also da gibt es aus meiner Sicht auch nichts kleinzureden.“

Quelle: „ein Regierungssprecher“ (ohne Namensnennung)“

Aufgeladene Stimmung, nachsetzen, bedrohen, bedrohliche Äußerungen – das kommt allerdings auf vielen Demonstrationen vor – zuletzt etwa bei antiisraelischen Aufmärschen in ganz Europa. Wer sich auf die eigentlichen Aussagen konzentriert, der kann zwischen der oben zitierten Regierungssprecher-Aussage und Maaßens Bewertung des Videos gar keinen wesentlichen Unterschied entdecken. 

Von WhatsApp in die Welt
Tichys Einblick fand die Herkunft des Chemnitz-Videos heraus
Dafür, dass Maaßens Bewertung trotzdem derart skandalisiert wurde, dass sie zur Entlassung des Verfassungsschutzpräsidenten führte, gab es mehrere Gründe. Für einige maßgebliche Politiker in der SPD stellte Hans-Georg Maaßen auch vor Chemnitz ein Feindbild dar: Er hatte in seiner Amtszeit nicht nur das Verbot der rechtsextremen „Old School Society“ durchgesetzt, sondern auch Material für ein Verbotsverfahren der linksextremen „Roten Hilfe“ sammeln lassen, einer Organisation, der der damalige Juso-Vorsitzende und heutige SPD-Vize Kevin Kühnert bis heute nahesteht.

Kühnert war es damals, der die SPD ganz wesentlich dazu antrieb, die Ablösung von Maaßen zur Koalitionsfrage zu machen. Aber das allein hätte nicht genügt. Um die zentralen Begriffe ‚Chemnitz’ und ‚Hetzjagden’ war im September 2018 ein ganz großes Bündnis von Politikern bis zum Bundespräsidenten und Medien entstanden, das eine absolute Deutungshoheit beanspruchte. Ursprünglich ging es Akteuren wie „Antifa Zeckenbiss“ und auch Merkel darum, den Fokus von dem Messermord in Chemnitz und damit der Migrationspolitik wegzuziehen. Was ihnen ja auch gelang. „Heute ist ‚Chemnitz’ ein Symbolwort für die rechtsextreme Gefahr in Deutschland, ähnlich wie ‚Rostock’, ‚Hoyerswerda’, ‚Solingen’“, schreibt beispielsweise der „Tagesspiegel“. Der Messerangriff von Asylbewerbern, einer davon tödlich, zwei mit schweren Verletzungen, kommt bestenfalls noch am Rand vor. Aus dem Video, dem Signalwort ‚Hetzjagden auf Ausländer’ und den tausendfach gezeigten Bildern von Hitlergrüßern aus Chemnitz (bei denen es sich um nicht mehr als ein Dutzend handelte) entstand eine politisch-mediale Schlachtordnung, die an eine Testudo– oder Schildkrötenformation römischer Soldaten erinnert: ein Marschblock verwandelt sich durch eine Wand aus Schildern in einen Panzer auf Beinen. Diese Formation verdankt ihre Stärke dem Zusammenrücken auf engstem Raum. Wer die Medienberichterstattung über Chemnitz 2018 noch einmal betrachtet, der sieht: es ging schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt nicht mehr um die Frage, was eigentlich in diesen August- und Septembertagen in der Stadt passierte. Sondern ausschließlich um die Errichtung eines sogenannten Narrativs, also einer Deutungsmachtfrage. Und jemand, der dieser Deutung nicht folgte, erst recht, wenn es sich um den Chef des Inlandsgeheimdienstes handelte, legte sich automatisch mit einer eng untergehakten und verpanzerten Legion an. 

Die ARD-Tagesschau und deren Faktenfinder unter Patrick Gensing gab den Ton vor, dem damals viele folgten: Sie behaupteten dreist, Maaßen habe das Video als Fälschung bezeichnet.

Sie verbreiteten also eine Falschinformation mit der Behauptung, jemand anderes verbreite eine Falschinformation. Diese Desinformation mit doppelter Drehung zog sich und zieht sich bis heute durch den gesamten Chemnitz-Komplex. Die Plattformen T-Online und Watson etwa behaupteten damals, als die Bilder eines Hitlergrüßers von Chemnitz mit der Tätowierung „RAF“ auf der Hand auftauchten, es handle sich um eine Fälschung; das Kürzel der linksextremistischen Terrorgruppe habe jemand in die Aufnahmen manipuliert. Später (der Hitlergrüßer, ein Alkoholiker aus dem eher linken Milieu stand später samt seiner Tätowierung vor Gericht), mussten T-Online und Watson einräumen, dass ihr Fälschungsvorwurf falsch war.  

Screenprint: t-online.de

Exakt dieses Muster setzt sich heute mit der Rückkehr Maaßens in die Politik fort: Daniel Günther behauptet, der Verfassungsschutzschutz-Chef habe die Regierung seinerzeit falsch informiert – und verbreitet damit eine echte Falschinformation.

SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil wirft Maaßen vor, „Hetzjagden“ verharmlost zu haben, die es nicht gab, und verweigert auf Nachfrage jeden Beleg – weil er über keine Belege verfügt.

Medien empören sich darüber, dass Maaßen wieder provoziert und ein Ereignis leugnet, das es nicht gab. Die schönste Überschrift dazu gelang der „Frankfurter Rundschau“:

„Hans-Georg Maaßen glaubt immer noch nicht an die Hetzjagd in Chemnitz“

In ihr verdichtet sich genau das, worum es geht: um Glauben, um eine sakrale Frage. Folglich begeht jeder, der sie berührt, ein Sakrileg. 

Eine Testudo-Formation bildeten große Teile von Politik und Medien schon nach der Migrationsentscheidung Merkels von 2015. In dem Chemnitz-Komplex rückten sie noch einmal enger zusammen. 

Diskussion verboten?
„Hetzjagd in Chemnitz“: Worüber geht die Diskussion – und worüber nicht?
Sehr oft dürfte es nicht passieren, dass eine Regierungschefin ein von einer linksradikalen Gruppe kommentiertes in Umlauf gebrachtes Sekundenfilmchen in den Rang einer staatlichen Wahrheit erhebt, und Medien wiederum reihenweise ihre Behauptung völlig kritiklos übernehmen. Aber genau das schweißt eben auch zusammen. Für die Situation der Medien ist es bezeichnend, dass nur Publico bei der Generalstaatsanwaltschaft Sachsen nachfragte (die BILD zitierte dann immerhin Publico), und nur TE die Frau fand und mit ihr sprach, die damals das kurze Handyvideo in Chemnitz drehte. Wie schon erwähnt fand das Streitgespräch zwischen Kuhle und Maaßen in der NZZ statt. Ein deutsches Medium kam nicht auf die Idee. 

Die politisch-mediale Schildkrötenformation, die sich permanent im Glaubenskrieg sieht, rückte in Corona-Zeiten noch etwas dichter zusammen: Ganz aktuell und beispielhaft bei der Debatte, ob das Corona-Virus aus der Natur oder einem Labor stammt. Auch hier dreht sich die Debatte zu neunzig Prozent darum, wem welche These nützen und wem schaden könnte, ob die Laborthese die Falschen bestätigt, und in welches politische Lager sich die Protagonisten jeweils einsortieren lassen. Auch hier bemühte sich übrigens die Redaktion eines öffentlich-rechtlichen Senders in vorderster Front, eine parareligiöse Glaubenswahrheit zu errichten, und auch hier marschierten die meisten Medien im Gleichschritt – was sie jetzt zu einer mühsamen, uneleganten Halbwende zwingt.  

Immer häufiger findet sich in den Medien der Begriff „Leugner“, der eigentlich aus der religiösen Sphäre stammt. So verstehen sich mittlerweile viele Medienmitarbeiter zusammen mit untergehakten Generalsekretären und sonstigen politischen Amtsträgern: als Hüter von Glaubenswahrheiten und Kämpfer gegen Häretiker. 

Selbst früher unbestechliche Institutionen beteiligen sich an der Verteidigung der erfundenen Wahrheit, etwa der Presserat. Nachdem sich viele Bürger über die mittlerweile nicht mehr zu leugnenden Falschdarstellungen beschwerten, befand der Presserat: Kein Grund zur Beanstandung. Journalismus ist, wenn die Regierung bestätigt wird. So wird eine Falschmeldung zur neuen Wahrheit erhoben, statt sie zu recherchieren. 

Den Einzug Maaßens in den Bundestag würden sie nicht einfach als Entscheidung der Wähler im Wahlkreis 196 begreifen, sondern als ihre persönliche Niederlage: als würde ein Ketzer auf der Kirchenbank Platz nehmen. 

Die Schildkrötenformation lässt sich übrigens auch anders sehen, nämlich von außen: Ein einziger bisher amtsloser Politiker tritt in einem unspektakulären Wahlkreis an. Und ein ganzes politisch-mediales Establishment duckt sich bis zu den Haarwurzeln hinter einen Schilderwall. 


Hinweis: Einige wenige Hefte mit der Dokumentation zu den „Hetzjagden von Chemnitz“ und den eidesstattlichen Versicherungen können Sie hier noch bestellen. 

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Kommentare ( 112 )

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HBS
3 Jahre her

Ein Hans-Georg Maaßen wird die „Merkel-CDU“ auch NICHT !!! mehr retten.

Jeder der Hans-Georg Maaßen wählt, – der wählt auch Analena Baerbock von den „Grünen“ gleich mit.

Rob Roy
3 Jahre her

Etwa ein halbes Jahr nach den angeblichen Hetzjagden gab die Bundesregierung eine offizielle Erklärung ab, dass es keine Hinweise auf Hetzjagden gab. Ab diesem Moment war es dann auch still bei den Politikern und Medienmenschen, die zuvor permanent sich darüber das Maul zerrissen.
Leider war die Meldung über die Regierungserklärung nur einen Tag lang in den Nachrichten und das auch nur unter ferner liefen. Daher hält sich bis heute in linken Kreisen weiterhin der Mythos dieser Hetzjagden.

Konradin
3 Jahre her

Qualitätsjournalismus allererster Güte! Im Übrigen wird der Furor teutonicus die Testudo früher oder später überrennen. Der Kampf für Wahrheit und Freiheit liegt in der Natur der Deutschen. Heute wie vor 2000 Jahren. Vielleicht gibt es am nächsten Sonntag ein weiteres eindeutiges Signal des wählenden (und nicht mehr draufschlagenden) Volkes, dass wieder mehr Menschen aufgewacht sind und die bedrohlichen Muster erkennen, die hier seit einigen Jahren zunehmend ablaufen. Selbst wenn das linksorientierte Parteienkartell alles erdennkliche tut, um in Deutschland neue demographische Fakten zu schaffen, auf dass diese „Natur der Deutschen“ eingeschläfert und bald endgültig (aus)gelöscht wird – noch verbleiben wenige Jahre… Mehr

Imre
3 Jahre her

Danke für die nochmalige Auflistung der Fakten. Und die sehen nicht gut aus für Klingbeil, D. Günter, Merkel (vergessen wir Steinmeier nicht!) und Co.. Genau jene Mischung an Politikern, die D so nötig wie einen Kropf braucht! Schande über solches Personal!
Verlogenheit und Niedertracht scheinen unabdingbare Voraussetzungen für ein politisches Amt in D zu sein…

CAurelia
3 Jahre her

Nicht nur für die CDU.

G
3 Jahre her

Jemand muß Maaßen verteidigen. Und das schäbige Verhalten dieser Politdarsteller bloßstellen.

Eberhard
3 Jahre her

Das Ganze zeigt nur, wie weit Deutschland immer noch gespalten. Eine Linke Willkür Diktatur verhinderte vierzig Jahre lang ein gemeinsames Leben in einem freien demokratischen Deutschland. Heute sind es schon wieder Linke, vor allen aus den alten Bundesländern, die den Menschen im Osten Deutschlands ihre andere Sicht, auf die selbst erlebte Linke Vorherrschaft zum Vorwurf machen. Auf welche Erfolge linker Politik sind unsere Linken eigentlich heute immer noch so stolz? Etwa auf die vielen Millionen Opfer in der Welt, die linke Diktaturen und Machthaber verursacht haben und deren Aufarbeitung ihrer Untaten sie immer noch verhindern? Um die Millionen Deutsche, denen… Mehr

Imre
3 Jahre her
Antworten an  Eberhard

Sie haben aber schon bemerkt, dass aktuell zwei sogenannte Volksparteien – des Westens – damit beschäftigt sind, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu schleifen? Dazu passen die Grünen, und der Großteil der FDP, beide geprägt im Westen…

J.Thielemann
3 Jahre her

Herr Maaßen glaubt immer noch nicht an die Hetzjagd in Chemnitz? Aufgeweckte Kinder nicht an Osterhase plus Weihnachtsmann und die informierten Bürger schon lange nicht mehr daran, daß wir eine fähige Regierung haben.

willy
3 Jahre her

Der linksgrüne Günther hat in der CDU genauso wenig zu suchen wie die Sarah bei den Kommunisten- sollten ihre Plätze tauschen!

Gisela Fimiani
3 Jahre her

Die Person Maaßen sorgt für zweierlei: in ihm erkennen seine Gegenüber ihre eigenen Laster, Schwächen, ihre Lügenhaftigkeit, Feigheit und Inkompenz. Durch ihn besteht die Gefahr, dass die Bürger dies ebenfalls erkennen. Diejenigen, welche ihn rücksichtslos und mit allen! Waffen bekämpfen, fühlen sich von seinem Mut, seiner Rückgratstärke, seinem Anstand bedroht.