Energieproteste in Prag: Zehntausende demonstrieren gegen Untätigkeit der Regierung

In Prag fand am Samstag eine Großdemonstration gegen steigende Energiepreise und die EU-Ukraine-Politik statt. Die von Rechten, Linken und freien Bürgern organisierte Kundgebung könnte zum Modell einer deutschen Protestbewegung werden.

IMAGO / CTK Photo

„Es gibt vieles, was Prag beunruhigt und was angegangen werden muss“, schreibt Alexandra Udženija (ODS), Bürgermeisterin von Prag 2 in der tschechischen Wochenzeitung Echo und meint damit Themen wie den stagnierenden Wohnungsbau oder eine Verkehrspolitik, die inzwischen von ähnlichen Experimenten geplagt scheint wie in den grün regierten Großstädten Deutschlands, von Fehlplanungen und dem programmierten Verkehrsinfarkt. In Prag sind bald Kommunalwahlen. Doch die jüngste Demonstration griff weit über solche Themen hinaus und wandte sich einem derzeit viel diskutierten Angel- und Knackpunkt europäischer Politik zu, der Verknüpfung von Energiepolitik und internationaler Diplomatie im Zeichen der Ukraine-Krise.

An die 100.000 – laut offiziellen Zahlen: 70.000 – Menschen kamen am Samstag auf dem langgestreckten, von prachtvollen Gebäuden umstellten Wenzelsplatz zusammen, um unter dem Motto „Die Tschechische Republik zuerst!“ gegen steigende Energiepreise und für eine Auflösung des Gas-Patts zwischen Russland und seinen westlichen Nachbarn zu demonstrieren.

— Elvira Böhler (@BohlerElvira) September 4, 2022

Tschechische Fahnen flattern im Wind. Die Demonstranten fordern den Rücktritt der erst im Dezember angetretenen Regierung aus mehreren liberal-konservativen Parteien und den „liberalprogressiven“ Piraten bis zum 25. September. Andernfalls werde man weitere „Mittel“ ergreifen. Einen Tag zuvor hatte diese Regierung ein Misstrauensvotum aufgrund eben dieses Themenbündels überstanden. Die Opposition hatte den Koalitionsparteien Untätigkeit im Kampf gegen die Inflation vorgeworfen. Nun las man auf den Transparenten Aussagen wie diese: „Das Beste für die Ukrainer und zwei Pullover für uns“. Angespielt wird so auf die Kälte der tschechischen Wohnungen im kommenden Winter. Die Frage des Tages ist: Frieren für die Ukraine, ja oder nein?

Die EU-Sanktionen gegen Russland sollen fallen. Daneben sollen Verhandlungen mit anderen Gaslieferanten geführt werden. Auch die militärische Neutralität Tschechiens wurde gefordert. Grundanliegen der Demonstranten, deren politische Ausrichtung von ultralinks bis ganz rechts reicht: Der Anstieg der Strom- und Gaspreise, der heute praktisch alle europäischen Länder zwischen Bug und Pyrenäen betrifft, müsse gestoppt werden. Andernfalls drohe im Herbst die Zerstörung der tschechischen Wirtschaft.

Premier Fiala: Ganz auf der Linie des „European Green Deal“

Für Premierminister Petr Fiala von der (mittelblau) liberal-konservativen Demokratischen Bürgerpartei (ODS) stehen am Ursprung der Demonstration „prorussische Kräfte“, die zudem noch „Extremisten“ nahestehen. Also alles, was man als „Demokrat“ im heutigen EU-Europa nicht sein darf. Der Premier reiste im Rahmen des Kommunalwahlkampfs durch Mittelböhmen, wo er auch diese Worte aussprach.

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Früher war die ODS „klausistisch“, also im Sinne des ehemaligen Präsidenten Václav Klaus europaskeptisch. Fiala scheint dieses Gepäck von Bord seines Moldau-Dampfers vollends abwerfen zu wollen. Er sieht die „Abhängigkeit von russischer Energie“ als Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen generell und folgt so den teuren Träumereien von einem European Green Deal – oder auch den Utopien der radikalen FFF-Demonstranten, die ganz ähnliche Vorschläge machen. Mit dem Verzicht auf russisches Erdgas strebt er zugleich eine „Dekarbonisierung“ an.

Doch im Zuge des Ukraine-Kriegs wird aus vielen Themen ein großer, auch neuer Zusammenhang – und der hat eine andere Pointe, als die „Dekarbonisierer“ es sich träumen lassen. Für die Prager Demonstranten ist eindeutig, dass auch die EU-Großen mit ihrem Green Deal, für einige wohl auch die Nato eine Mitschuld an der aktuellen Misere haben. Und sie ziehen beide Bündnisse, für die die regierende Koalition engagiert ist, zur Verantwortung. Die Vereinten Nationen und die Weltgesundheitsorganisation WHO treten teils noch hinzu. In Prag scheint einer der Kippunkte zu liegen, an dem die Angst vor der russischen Expansion mindestens gleich groß ist wie die Befürchtung, in diesem Winter durch ein eisiges Tal der Wut und in der Folge durch einen wirtschaften Niedergang sonders gleichen schreiten zu müssen – mitsamt Arbeitslosigkeit und allem, was noch dazugehören könnte.

Die tschechischen Strompreise sind schon im Steigen begriffen. Am 28. September ist der nächste große Protestzug geplant. Wieder dabei ist dann auch die national-populistische Opposition um Andrej Babiš’ dunkelblaue konservativ-liberale Protestbewegung ANO 2011, aber auch die unreformierte „Kommunistische Partei Böhmens und Mährens“ (KSČM), die am Leninismus festhält, derzeit allerdings nur eine EU-Abgeordnete stellt. Aber auch Bürgerinitiativen und regierungskritische Organisationen hatten zu der Demonstration vom Samstag aufgerufen und werden Ende September sicher auch wieder zur Stelle sein.

Ein Thema entzieht sich dem Extremismus

Die informelle Koalition vom Wenzelsplatz erinnert an die jüngsten Überschneidungen zwischen rechter AfD und Linkspartei, die der Regierung gleichermaßen einen „heißen Herbst“ ankündigen. Sogar etablierte Gewerkschaften wie Verdi drohen inzwischen mit Protesten wegen der hohen Energiepreise. Das Thema rückt gerade gesamteuropäisch aus dem Bereich von (rechtem) Extremismus heraus, in den insbesondere die regierenden Sozialdemokraten um Olaf Scholz und Nancy Faeser es gerne eingenordet hätten. Für den heutigen Montag sind mehrere Demonstrationen oder Kundgebungen gegen die steigenden Energiepreise in Leipzig angesagt, die teils von der Linkspartei, teils von der Sammlungsbewegung „Freie Sachsen“ organisiert werden, die mehr Autonomie für ihr Bundesland fordern, auch mit einem „Säxit“ liebäugeln – dem Austritt Sachsens aus der Bundesrepublik –, wenn dies der Mitbestimmung und dem Schutz elementarer Rechtsgüter dienlich wäre.

Das deutsche Polit-Establishment ist seit längerem auf die Möglichkeit von Energieprotesten und Inflation vorbereitet. So kann Annalena Baerbock die „Volksaufstände“ angesichts steigender Preise offenbar kaum noch erwarten, um sich flugs in die Pose der „demokratisch gewählten“ Politikerin zu werfen, die den schlimmen Populisten standhaft Paroli bietet. Das scheint eine fixe Idee der Niedersächsin zu sein. Man wird sehen, wie gut ihr und anderen diese Pose bekommt.

Die tschechische Regierung wirkt bereits lädiert. Ein ODS-Mitbegründer hält die derzeitige Regierung für ebenso „inkompetent“ und schlecht „wie unter Babiš“. Jiří Kobza von der rechtsnationalen SPD – kurz für Svoboda a přímá demokracie („Freiheit und direkte Demokratie“) – sieht die tschechische Position in der EU bei Echo24 als „unglaublich unterwürfig“, ja sogar „grundsätzlich antitschechisch“, zum Beispiel in Sachen der geplanten Mehrheitsentscheide auf EU-Ebene. Daneben äußert Kobza Kritikpunkte, die auch hierzulande vertraut sind: Der erste Programmpunkt Fialas für die tschechische Ratspräsidentschaft sei der Wiederaufbau der Ukraine gewesen. Wenn der Premier unbedingt ukrainische Politik machen wolle, „dann lassen Sie Herrn Fiala in die Ukraine ziehen“.

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