Flucht nach vorne: Die EU ist die … ja, was noch einmal?

In der real existierenden EU geht eine fast ungebrochene Monopolstellung der linksliberalen Ideologie in Medien, Bildung, Verwaltung und Politik einher mit einer immer unverhohleneren Hexenjagd auf „konservativ“ – unisono als „rechtsradikal“ verschrien und marginalisiert. Teil 7 einer TE-Serie zur Zukunft der EU.

IMAGO/photothek

Die Katze ist aus dem Sack: Bundeskanzler Scholz möchte sich für eine sukzessive Aufhebung des Einstimmigkeitsprinzips innerhalb der europäischen Institutionen einsetzen, ein Vorschlag, der ganz in dieselbe Richtung zielt wie die angeblich durch spontane Konsultation der Bürger entstandenen „Empfehlungen“ der „Konferenz zur Zukunft Europas“. Erstaunlich ist das für einen SPD-Politiker nicht; pikant ist allerdings das Timing jener Aussage inmitten eines sich hinziehenden europäischen Krieges, einer hoffnungslos entzweiten EU und einer sich abzeichnenden gewaltigen Wirtschaftskrise, welche allesamt nicht zuletzt der ideologischen Verantwortung eben jener Parteien entsprungen sind, die gegenwärtig an der Macht sind.

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In der Tat läßt sich behaupten, daß nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa in einer erheblich besseren Situation wären, hätte Bundeskanzlerin Merkel nicht auf massivem Druck von links und grün jene desaströse Energiewende verordnet, die schließlich zur fatalen Abhängigkeit von Rußland und einer nie dagewesenen Preisexplosion für alle Energiekosten geführt hat. Auch, daß Europa weniger solidarisch ist denn je, läßt sich auf eine (SPD-geführte) deutsche Außenpolitik zurückführen, welche seit vielen Jahren bemüht gewesen zu sein scheint, die Sensibilitäten der Nachbarn möglichst arrogant zu verletzen und dabei nicht nur das Vereinigte Königreich aus der EU zu jagen und Italien bei jeder Gelegenheit zu brüskieren, sondern auch die osteuropäischen Partner langfristig zu beleidigen. Und selbst der Ukraine-Krieg trüge wohl ein gänzlich anderes Aussehen, falls die Bundesrepublik heute wie damals etwas anderes an den Tag gelegt hätte als rückgratloses Zaudern, das in jeder Hinsicht Vladimir Putin in die Hände gespielt hat.

Nun ist sie halt da, die Mutter aller Krisen, und wie üblich ist die Flucht nach vorne das beste Instrument des Politikers, von der eigenen Verantwortung abzulenken. „Europa ist die Antwort“, schallt es seit Jahren von ungezählten Wahlplakaten auf den Bürger hinab – die dazugehörige Frage ist jetzt gefunden, ja eigentlich erst provoziert worden. Dabei ist der Gedanke, Europa gerade in lebenswichtigen Belangen dynamischer und entscheidungsfreudiger zu gestalten, gar keine so schlechte Idee: Die amerikanische, russische oder chinesische Außen- und Wirtschaftspolitik sähe sicherlich anders aus, wäre sie auf der Notwendigkeit gegründet, zunächst einmal die einstimmige Zustimmung sämtlicher Bundesstaaten, Föderationskreise oder Provinzen einzuholen. Vielleicht wäre eine solche Verpflichtung nicht einmal unbedingt das Schlechteste für den Weltfrieden, aber da es schwierig scheint, in diesen drei Großreichen nunmehr ein föderalisiertes Umdenken herbeizuführen, muß die EU sich wohl oder übel den machpolitischen Gegebenheiten anpassen, wenn sie überleben will.

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Aber – und dieses „aber“ ist fundamental –: Eine solche Aufhebung des bisherigen Vetorechts der Einzelstaaten kann nur dann Sinn machen, wenn innerhalb der gesamten Union auch ein gegenseitiges Vertrauen herrscht, das gegründet ist auf einer bewußt geteilten kulturellen Identität und einer europapatriotischen Solidarität, also dem, was ich „Hesperialismus“ genannt habe. Freilich wird es überall, wo Menschen miteinander verhandeln, Gewinner und Verlierer geben, denn vorgegebene machtpolitische Ungleichheiten lassen sich auch innerhalb des am besten kalibrierten Systems nie ganz wegdiskutieren – selbst der sehr asymmetrische Einsatz des europäischen Vetorechts erlaubt interessante Einsichten in die fundamentalen Ungleichheiten zwischen Mitgliedstaaten (bis 2008 hat Luxemburg im Europäischen Rat nur einmal von seinem Vetorecht Gebrauch gemacht, Deutschland 140-mal). Auch in einer Familie sind die Kleinsten meist nicht gut beraten, dem Vater oder dem großen Bruder allzu oft zu widersprechen, wenn sie weiter in deren Gunst stehen wollen, doch ist diese diplomatische Zurückhaltung immerhin im Zusammenhang eines gegenseitigen Vertrauens und des Wissens verortet, trotz unterschiedlicher Interessen am selben Strang zu ziehen.

Dies ist allerdings in der real existierenden EU weniger denn je der Fall, seit es in den meisten Mitgliedstaaten zu einer fast ungebrochenen Monopolstellung der linksliberalen Ideologie in Medien, Bildung, Verwaltung und Politik gekommen ist; ein Monopol, welches mit einer immer unverhohleneren Hexenjagd auf all das einhergeht, was selbst von ferne „konservativ“ wirkt und dann unisono als „rechtsradikal“ verschrien und marginalisiert wird. Gerade Deutschland stand unter Angela Merkel an der Speerspitze jener zunehmenden Verengung des politischen Korridors und ist mehr als alle anderen Mitgliedsstaaten verantwortlich für die Polarisierung des öffentlichen Diskurses, so daß Scholz’ Prager Beteuerung, „Brücken zu bauen, statt Gräben aufzureißen“, wie blanker Hohn wirkt: Eine Abschaffung des Vetoprinzips ist nichts anderes als der letzte Sargnagel auf dem Weg zur ideologischen Gleichschaltung der EU und ihrer Unterstellung unter die machtpolitische Achse Berlin–Paris – bzw. der Frankreich und Deutschland regierenden Eliten, deren Interessen immer weniger mit denen der Bürger übereinstimmen.

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Man darf zwar fürchten, daß der Vorstoß des Bundeskanzlers auch auf Seiten vieler linksliberal kontrollierten westeuropäischen Staaten auf breite Zustimmung treffen und vielleicht auch hier und da im Osten dank finanzieller Drohkulisse akzeptiert werden wird. Widerspruch ist allerdings aus Polen und Ungarn zu erwarten, welche in Scholz’ Prager Rede ja auch explizit als die eigentlichen Adressaten – oder sollte man sagen: „Opfer“? – jener Reformvorschläge genannt wurden. Freilich: Eigentlich bedürfte die Abschaffung der Einstimmigkeit selbst der Einstimmigkeit. Wie aber, wenn die stetig sich verschlimmernden Sanktionen gegen die konservative Regierung Polens ohnehin schließlich zum vorübergehenden Entzug des Stimmrechts führen sollten? Auch sonst wird man auf den Einfallsreichtum der Brüsseler Eliten vertrauen dürfen, eine „rechtstaatliche“ Lösung finden, um das föderalistische Projekt notfalls auch gegen den Widerstand einzelner Staaten zu ihrem angeblich eigenen Besten durchzusetzen – und auf den EuGH dürfte kaum Verlaß sein, ein Mindestmaß an Neutralität zu zeigen, sollte es hart auf hart kommen …

Die Zeichen stehen also auf Sturm, zumal die anstehenden polnischen Parlamentswahlen vom Jahr 2023 den westlichen Regierungen einen idealen Anlaß bieten werden, durch Sanktionen und mediale Stimmungsmache endlich die polnische Bevölkerung zum „regime change“ zu zwingen und jene verhaßte christlich-konservative Regierung loszuwerden, welche in all den Jahren der Isolation trotzdem weiterhin den Gedanken eines alternativen, subsidiären und kulturpatriotischen Europa hochgehalten hat. Doch auch in Polen rüstet man sich für einen harten Kampf, bei dem Berlin als die treibende Kraft hinter Brüssel wahrgenommen wird, wie die Erneuerung der Reparationsforderungen für die nie abgegoltene, fast vollständige Zerstörung der polnischen Infrastruktur im Zweiten Weltkrieg und die weit fortgeschrittene genozidäre Ausrottung des polnischen Volkes (seit dem ersten Tag der Auseinandersetzung) zeigt.

Diese vor allem innenpolitisch motivierte Forderung ist sicherlich wenig aussichtsreich und stößt auf Seiten der europäischen Konservativen nicht nur in Deutschland eher auf Unverständnis; sie beweist aber immerhin den polnischen Kampfgeist angesichts des neuesten, diesmal linksliberalen Expansionsversuchs nach Osten sowie den Willen, die moralische Überheblichkeit der beständig ihr angebliches „historisches Verantwortungsgefühl“ bemühenden Bundesregierung als das zu entlarven, was sie wirklich ist: blanke Hypokrisie.

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Freilich: Forderungen sollte man aus einer Position der Stärke und nicht der Inferiorität stellen, wenn einem daran gelegen ist, daß sie in einem Geiste der Gleichwertigkeit und nicht als Almosen erfüllt werden – und dies ist fraglos gegenwärtig (noch) kaum der Fall. In einigen Jahren allerdings mag dies anders aussehen, und auch die Bundesregierung ist sich dessen fraglos bewußt: Polen ist auf dem Weg, Deutschland als wirtschaftlicher und politischer Knotenpunkt des Ostens Europas abzulösen, hat durch seinen Einsatz auf ukrainischer Seite enorm an Sympathien seitens seiner Nachbarn hinzugewonnen und schickt sich an, angesichts des Totalausfalls der Bundeswehr durch massive Aufrüstung der eigenen Streitkräfte zu einer der stärksten Militärmächte des Kontinents zu werden (2030 werden allein die polnischen Panzerverbände zahlenstärker sein als diejenigen Großbritanniens, Deutschlands, Frankreichs, Italiens und der Benelux-Staaten zusammen).

Bis dahin dürften sich auch die wirtschaftlichen und politischen Gewichte auf dem Kontinent verschoben haben und der polnische wie europäische Konservatismus – wenn sie bis dahin durchhalten – nicht mehr als das Schmuddelkind der EU gelten, sondern als ein politischer Faktor, den es zu respektieren gilt. Dahin ist es freilich noch ein weiter Weg, den Olaf Scholz mit seinem Reformvorstoß in einem entscheidenden Moment zu blockieren versucht …

 

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Kommentare ( 25 )

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25 Comments
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Martin Buhr
1 Jahr her

Seit jeher schwebte mir eine Europaeische Union nie als eine Wertegemein-schaft als viel mehr eine Respektgemeinschaft vor . Werte kann man per Dekret und Scheinwahlen unter einen Hut bringen , Respekt jedoch nicht , dieser muss wachsen und dieses Wachstum kann man nicht erzwingen , aber foerdern . Es braucht Zeit . In Bruessel wird meines Erachtens zu sehr darauf Wert gelegt , dass sich schnellstmoeglich ein Einheitsbrei verruehren laesst . Ich selbst sehe die Zukunft einer bestaendigen Union eher im Zusammenwachsen verschiedener Voelker , Lebensweisen , Traditionen , Kulturen und Interessen . Aehnlich des Baumbestandes eines Waldes , dessen… Mehr

Wolfgang M
1 Jahr her

Die EU ist eine Fehlkonstruktion. Sie ist absolut undemokratisch. Je kleiner der Staat ist, in dem man wohnt, desto mehr Stimmrecht hat man. Ich wünschte mir eine EU wie die USA. Dort gibt es eine gewählte Zentralregierung, die die USA in der Welt vertritt. Dort gibt es eine Gemeinschaftsarmee. Die 50 Staaten sind freier als die EU-Länder. Jeder Staat hat eigene Abgasvorschriften. Todesstrafe ja oder nein bestimmt jeder Staat für sich. Das sind nur Beispiele. Die USA sind sich einig, dass sie keine Flüchtlinge will. Die Grenze zu Mexiko wird so dicht wie möglich gemacht. Wenn eine EU-Reform in diese… Mehr

Dornier31
1 Jahr her

In der Mehrheit haben die Deutschen gewaltig was an der Waffel. Genderismus, Import von feindlichen Kaempfern, Verneinung des eigenen Volkes, Sozialamt fuer die gesamte Welt usw.

Hoffentlich gibt es fuer diese Elite eine herrliche Bruchlandung. Hoffentlich gewinnt die polnische und ungarische Vernunft gegen diesen marxistischen Moloch.

Sonny
1 Jahr her

Diese europäische Zwangsunterstellung unter grünrot wird Europa so dermaßen zerstören (und dies nicht nur wirtschaftlich), dass die Großmächte der Welt sicherlich mit Vergnügen zuschauen, wenn die Kleingeister in Europa untergehen werden und man deren „Positivkapital“ abschöpfen kann. Die Brosamen werden die liegen lassen. Aber miserabel bezahlte Arbeitsbienen kann jeder brauchen und die Fachkräfte werden dieses Europa sowieso mehrheitlich verlassen. Ist ja jetzt schon so. Aber ob es wirklich so weit kommen wird? Die künstlich hergestellte und propagierte Einigkeit ist in Wirklichkeit nur ein Konstrukt aus Druck, Drohungen und Korruption, die die Waage (noch) etwas zu grünroten Gunsten nach oben schiebt.… Mehr

Last edited 1 Jahr her by Sonny
Silverager
1 Jahr her

Ist nicht für die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips notwendig, dass alle EU-Mitglieder dieser Abschaffung zustimmen müssen?
Wie soll das gehen?

Manfred_Hbg
1 Jahr her

Zizat: „Bis dahin dürften sich auch die wirtschaftlichen und politischen Gewichte auf dem Kontinent verschoben haben und der polnische (…..) Konservatismus – wenn sie bis dahin durchhalten – nicht mehr als das Schmuddelkind der EU gelten, sondern als ein politischer Faktor, den es zu respektieren gilt.“ > Man kann nur hoffen das es Polen – aber auch andere östliche EU-Länder wie z.Bsp Ungarn und vielleicht sogar auch die Baltikum-Staaten – schaffen wird den eingeschlagenen konservativen Weg beizubehalten und zu einem wirtschaftlich starken und gesellschaftlich stabilen Land zu werden. Denn auch wenn ich selber mit Blick auf mein Alter hoffe meine… Mehr

Endlich Frei
1 Jahr her

„Gemeinschaft“, wie sie die EU versteht, fängt mit Geld an und hört mit Geld auf. Deutschland wäre schlecht beraten, sich selbst das Veto zu nehmen, wenn es um sein Budget geht. Was dann passiert, wird bereits in der EZB nahezu täglich demonsriert.

Ananda
1 Jahr her

Als europäisches Land sollte man es sich doppelt und dreifach überlegen dieser durchideologisierten, schon fast selbstmörderisch zu nennenden „Elite“, die absolute Entscheidungsgewalt über das eigene Wohl in die Hände zu legen.Siehe augenblickliches Deutschland. Der Bürger als Fußabtreter der Elite.
Noch eines: Bürger und Länder wurden durch wohlklingende Versprechen in diese völlig außer Kontrolle geratene EU gelockt. Der versprochene Wohlstand wird vernichtet, der Euro ist ausgehöhlt und die Übergriffigkeit und Bigotterie, speziell in Sachen „Rechtsstaatlichkeit“, ähnelt eher einem Hinterzimmer Klüngel Klub.
Ohne das Geld aus dem bankrotten Deutschland wird sich dieses Fehlkonstrukt sowieso nicht mehr lange halten.

RMPetersen
1 Jahr her

Einspruch, Herr Engels:
Nicht die „fatale Abhängigkeit von Rußland“ hat zu „einer nie dagewesenen Preisexplosion für alle Energiekosten“ geführt. Hier wird die für die herrschenden Parteien so wohlfeile Schuldzuweisung an Putin auch von Ihnen benutzt.
Nein, die Gaspreise und die Strompreise sind nicht den Verträgen mit Russland entsprungen, sondern der auf Druck der USA erfolgten Weigerung, mit Russland langfristige Lieferverträge abzuschliessen. Die Auswirkungen zeigten sich schon Mitte 2021, als immer mehr Gaslieferungen am Spotmarkt vereinbart wurden, und dort die Preise stiegen.
Eine Gegenthese:
Die fatale politische Abhängigkeit der Kern-EU-Länder von den USA und deren geopolitischen Maßnahmen ruiniert die EU.

Roland Mueller
1 Jahr her

Was bei der Verweigerung von Stimmrechten passiert, kann man wunderbar am Beispiel vom Europarat und Russland beobachten. Als erstens haben die Russen keine Lust verspürt, für den zugewiesenen Platz am Katzentisch weiter den Mitgliedsbeitrag zu bezahlen und einige Zeit später haben sie die Mitgliedschaft endgültig aufgekündigt. So kann man halt auch Einheitsmeinung herstellen, wenn es einem egal ist, dass der Kreis der Mitglieder kleiner wird.