Das Vermächtnis der Angela Merkel

Die CDU ist - anders als die CSU - keine Partei des Königsmordes, namentlich dann, wenn es keine vorzeigbaren Kronprätendenten gibt, und so wird man das Ende ihrer Amtszeit in Ruhe abwarten müssen. Das langsame Verblassen ihrer Macht ist allerdings alternativlos.

© Adam Berry/Getty Images

Kanzlerdämmerungen gleichen in Deutschland zuweilen skandinavischen oder nordrussischen Sommernächten; noch lange ist am Horizont ein fahles Licht erkennbar, auch wenn es schon auf Mitternacht zugeht. Ähnlich sieht es mit dem sich langsam, sehr langsam nähernden Ende der Kanzlerschaft der Angela Merkel aus. Sehr vieles spricht dafür, dass sie 2017 noch einmal als Spitzenkandidatin der Union oder zumindest der CDU antreten wird, und mit hoher Wahrscheinlichkeit wird sie anschließend noch einmal an der Spitze einer Koalitionsregierung stehen, nur dass es diesmal wohl eher eine schwarz-grüne oder – noch wahrscheinlicher – eine schwarz-grün-gelbe und keine große Koalition sein wird.

Desungeachtet hat Merkel das politische Glück verlassen, das Endspiel hat für sie begonnen, mag es auch ein langer letzter Akt werden und der Vorhang erst in zwei oder drei Jahren fallen. In Wahlkämpfen ist sie für die eigene Partei zur Belastung geworden und die bayerische CSU ist auf einen Dauerkonfrontationskurs zu ihr gegangen. Stabilisiert wird ihre Macht einstweilen noch durch den Umstand, dass faktisch kein anderer CDU-Politiker als Nachfolger bereit steht. Schäuble ist zu alt, und v. d. Leyen verkörpert selber den Linksruck in der CDU, den Merkel eingeleitet hat, noch stärker als die Kanzlerin selber, das wäre keine Lösung. Da brauchte man schon eine Art Sebastian Kurz (ÖVP) in der CDU, aber den gibt es eben nicht. Indes, die Autorität Merkels schwindet in dem Maße, wie man in der Union über die Nach-Merkel-Zeit nachdenkt und sich dafür in Stellung bringt. Von daher bietet es sich an, schon jetzt auf ihre noch nicht ganz beendete Regierungszeit zurückzublicken und Bilanz zu ziehen.

Bilanz

Vielen sehen in Merkel mittlerweile eine Gescheiterte. Das ist ein zu hartes Urteil und berücksichtigt zu wenig die Frage, was eigentlich das zentrale Ziel ihrer Politik all die Jahre war; dabei lässt sich diese Frage relativ leicht beantworten: Es ging darum, in Zeiten, in denen eine Mehrheit für schwarz-gelbe Koalitionen immer unwahrscheinlicher zu werden schien – 2009 war aus Merkels Sicht, die sich im nachhinein dann ja auch als ganz richtig erwies, wohl nicht mehr als ein überraschender Ausreißer ohne strukturelle Bedeutung – der SPD den Weg ins Kanzleramt zu versperren. Das ist in der Tat dauerhaft und wirksam gelungen, wenn auch in paradoxer Weise. Mit dem Auftauchen der AfD, die ihren Aufstieg wesentlich auch Angela Merkel verdankt, wird eine Mehrheit für eine Rot-Rot-Grüne Koalition auch mittelfristig sehr unwahrscheinlich, denn die AfD gewinnt ihre Stimmen ähnlich wie entsprechende Bewegungen im Ausland eben auch zu einem erheblichen Teil auf Kosten der linken Parteien (außer auf Kosten der Grünen).

Sicher bleibt die Möglichkeit, dass die AfD plötzlich wieder von der politischen Bühne verschwindet, aber danach sieht es zur Zeit nicht aus. Der Wähler, oder bestimmte Wähler verzeihen der Protestpartei bis auf weiteres wohl nahezu alles: unappetitliche interne Querelen und Intrigen, ein offenes Flirten (wenn es nicht sogar mehr als nur ein Flirt ist) mit dem völkischen Rechtsradikalismus und einen deutlich sichtbaren Mangel an Professionalität. All das spielt keine Rolle, weil man in der AfD in einer Reihe von zentralen Fragen das einzige Gegengewicht zur faktischen Einheitsfront der Etablierten sieht, aus der nur die außerhalb Bayerns nicht wählbare CSU und bisweilen, ein wenig verhalten die freilich von den Meisten nicht mehr so recht ernst genommene FDP ausbrechen. Zu diesen Fragen gehört die Immigrationspolitik, aber auch das umstrittene Bekenntnis zu einer radikal multikulturellen Gesellschaft ohne eigenen Traditionskern, die den schon im Land Ansässigen – so zumindest wird es von nicht wenigen wahrgenommen – immer größere, den Immigranten aber wenig oder gar keine Zugeständnisse abverlangen will, und natürlich auch die Europapolitik.

Der Preis, den die CDU für Merkels Erfolg gezahlt hat, ist also hoch, denn selbst in guten Jahren wird sie in Zukunft kaum noch die Schwelle der 35 % bei Wahlen überschreiten und in schlechten Jahren mögen es dann auch schon einmal etwas weniger als 30 % der Stimmen werden. Das ist bitter, obwohl sich diese Konstellation eigentlich schon 2005 und 2009 angekündigt hatte, lange bevor es die AfD gab. Nur dass 2005 die SPD vielleicht zum letzten Mal in ihrer langen Geschichte noch mehr als 30 % der Stimmen erhielt, was man sich heute kaum noch vorstellen kann, genauso wenig wie die fast 15 % für die FDP 2009.

Radikaler Vertrauensverlust

Noch problematischer nimmt sich das Vermächtnis Merkels freilich aus, wenn man auf den Wandel der politischen Kultur in der Bundesrepublik blickt, der sich während ihrer Kanzlerschaft vergleichsweise rasch vollzogen hat. Bei vielen Bürgern macht sich ein radikaler Vertrauensverlust bemerkbar, ihr tiefes, mittlerweile zum Teil fast grenzenloses Misstrauen gilt sowohl der politischen Klasse insgesamt als auch zunehmend dem Staat selber. Man könnte sagen, dass Deutschland sich im europäischen Vergleich damit einfach nur normalisiert, denn wenn man auf Südeuropa blickt, etwa auf Griechenland oder Italien, oder sogar auf ein westeuropäisches Land wie Frankreich hat es dort diese Kultur des Misstrauens gegenüber Politikern und staatlichen Institutionen immer schon gegeben, verbunden dann freilich mit einer Tradition sei es des quasi anarchischen Widerstandes gegen die Regierenden, mag man sie auch selbst gewählt haben, oder einer Tendenz dem Staat, wo immer es geht, ein Schnippchen zu schlagen, etwa bei der Zahlung von Steuern oder bei der Beachtung lästiger Vorschriften. Diese Angleichung Deutschlands an die politische Kultur seiner Nachbarn könnte also durchaus als ein Normalisierungsprozess verstanden werden, gewissermaßen eine notwendige Folge der europäischen Einigung und ihrer Tendenz zur Homogenisierung der nationalen Kulturen.

In der Tat war die eigentliche Botschaft der seit 2010 mit viel Nachdruck betriebenen Eurorettung, dass in einer Währungsgemeinschaft, deren Regeln im Ernstfall alle zur Disposition stehen, derjenige der Dumme ist, der sich dennoch an diese Regeln hält. Den Deutschen war zwanzig Jahre lang von ihren Politikern versprochen worden, es würde nie zu einer Transfergemeinschaft kommen, jetzt haften sie und sei es auf dem Umweg über die zahlreichen Rettungsschirme und die nahezu unbegrenzten  Anleihenkäufe der EZB nun eben doch für die Schulden Italiens oder Portugals, von Griechenland ganz zu schweigen.

Nicht jeder wird diese Zusammenhänge verstanden haben und die geringe Arbeitslosigkeit so wie die enormen Exportüberschüsse überdecken ja auch manche Krisenerscheinungen, aber eine nachhaltige Erschütterung der bisherigen EU-Gläubigkeit, die in Deutschland fast den Status einer Zivilreligion erlangt hatte und immer noch ein wesentliches Glaubensbekenntnis aller etablierten Parteien bildet, ist durch die Euro-Krise in Deutschland dennoch eingetreten. Da keine der älteren Parteien sich dieses Themas annahm, auch die FDP nicht, die dafür prädestiniert gewesen wäre, hatte auch dies schon gravierende Konsequenzen für die Parteienlandschaft und bereitete damit dem Aufstieg der AfD den Weg.

Kurslos

In wie weit Merkel für die problematische Bewältigung oder eben auch Nicht-Bewältigung der Euro-Krise persönlich haftbar gemacht werden kann, ist eine andere Frage. Die Fehlkonstruktion des Euro wurde ihr von ihrem Vorgänger als Vorsitzender der CDU jedenfalls vererbt. In den langen nervenzehrenden Krisensitzungen zur Eurorettung wurden sowohl ihre unbestreitbaren Stärken als auch ihre Schwächen sichtbar. Zu ihren Stärken gehört eine enorme Beharrlichkeit und die Fähigkeit auch bei heftigsten Anfeindungen von Seiten eines korrupten Populisten wie Berlusconi oder eines selbstgerechten linken Demagogen wie Tsipras nicht die Nerven zu verlieren, zu ihren Schwächen gehört jedoch ihre Unfähigkeit, auch einmal wie ein Poker-Spieler größere Risiken einzugehen oder gar zu bluffen, ein Talent, das ihr Vorgänger als Kanzler durchaus besaß.

Wann immer Frankreich in der Eurokrise den Einsatz deutlich erhöhte wie bei der ersten oder dritten Griechenlandkrise, stieg Merkel am Ende aus dem Spiel einfach aus, passte und überließ den Gegenspielern Deutschlands das Schlachtfeld. Die Lage war sicherlich keine einfache, weder politisch noch mit Blick auf die Finanzmärkte, aber wenn etwa Draghi heute Deutschland als eine quantité negligeable bei seinen Entscheidungen behandelt, dann ist das letzten Ende eben doch auch dem Eindruck geschuldet, dass Merkel nie bereit war, die roten Linien, von denen sie zuvor gesprochen hatte, mit aller Kraft zu verteidigen.

Schwerer wiegt aber dennoch der Kurs Merkels in der Flüchtlings- und Immigrationspolitik. Auch hier kann man ihr zu Gute halten, dass sie von Ereignissen, die zumindest in erheblichem Umfang außerhalb ihrer Kontrolle lagen – in Syrien bestand ja wirklich eine humanitäre Notlage größten Ausmaßes, auf die man reagieren musste – , anfänglich fast zwangsläufig überrollt wurde, und überdies auf einen Koalitionspartner Rücksicht nehmen musste, der gerade angesichts dauerhaft katastrophaler Meinungsumfragen leidenschaftlich einen der letzten verbliebenen Identitätskerne der eigenen Partei, eine liberale Immigrationspolitik, erbittert verteidigte. Einfach war auch diese Situation nicht, es wäre ungerecht dies zu leugnen.

Aber was ihr in der Eurokrise noch gelang, sich rhetorisch, aber eben auch bis zu einem gewissen Grad im politischen Handeln von der SPD abzugrenzen, die bereit schien, jede Form von Schuldenvergemeinschaftung rückhaltlos zu unterstützen, um sich damit als standhafte und erfolgreiche Verteidigerin nationaler Interessen zu inszenieren: Das gelang ihr in der Flüchtlingskrise nicht mehr, ja sie versuchte es nicht einmal. Dadurch geriet sie in den Sog der politischen Philosophie der postmodernen Linken, die sich auf den Nenner „no nations, no borders“ und einer grundsätzlichen Ablehnung jedes positiven Blicks auf die europäische Geschichte und Kultur bringen lässt.

Wer in jedem Bekenntnis zu spezifisch europäischen Traditionen, sei es nun die Aufklärung oder eines durch die Geschichte geläuterten Christentums nur Arroganz und Anmaßung, wenn nicht gar Rassismus zu erkennen vermag, der wird gerade eine Zuwanderung von Menschen, die dieser europäischen Kultur oft recht fremd und manchmal eben auch auf Dauer eher feindlich gegenüberstehen, begrüßen müssen. Denn eine solche Zuwanderung bietet vermeintlich die Chance, Europa von sich selbst und seiner „vergifteten“ Geschichte zu erlösen.

Standortlos

Natürlich denkt Merkel selber so nicht, dies zu behaupten wäre vollständig absurd. Aber indem sie bis in die jüngste Vergangenheit jede Kritik an einer Politik der offenen Grenzen vehement ablehnte und durch ihre  Altmaiers, Taubers, und Kauders geradezu tabuisieren ließ, schien sie doch auf einen Kurs einzuschwenken und ihm fast willenlos zu folgen, dessen Richtung von sehr viel radikaleren Kräften bestimmt wurde. Statt zuzugeben, dass die einsetzende Masseneinwanderung ernsthafte Probleme verursachte, hielt sie allzu lange an dem Zweckoptimismus des „Wir schaffen das“ fest.

In der Eurokrise blieb Merkel vielleicht gar nichts anderes übrig, als die Probleme konsequent zu verharmlosen und klein zu reden, denn die Finanzmärkte hätten auf jede gegenteilige  Äußerung mit einer Panikattacke reagiert. Die Wahrheit war einfach zu gefährlich, um sie auszusprechen. Aber Merkel machte den Fehler, diese scheinbar so erfolgreiche Taktik auch auf die Flüchtlingspolitik zu übertragen und ganz in den Chor der undifferenzierten Willkommenskultur einzustimmen, ja ihn anzuführen. Diese Strategie erwies sich als falsch.

Die Bürger bemerkten, wie rasch sich ihre Umwelt veränderte. Viele gewannen den zumindest subjektiven Eindruck, angesichts einer Reihe von unerfreulichen oder bedrohlichen Vorfällen in Schwimmbädern, öffentlichen Verkehrsmitteln oder an anderen Orten wie auf der Kölner Domplatte, der öffentliche Raum sei sehr viel unsicherer geworden als in der Vergangenheit. Denen einzureden, all dies seien nur Hirngespinste und auch die Sicherheitslage bei der Abwehr des Terrorismus habe sich in keiner Weise verschlechtert, war riskant; diese Taktik musste früher oder später zu einem Glaubwürdigkeitsproblem führen.

Man kann Wählern durchaus auch einmal Märchen erzählen, schließlich ist es die vornehmste Aufgabe von Politikern, mit der Wahrheit als einem kostbaren Gut sparsam umzugehen, das wird keiner bezweifeln, aber wenn das das einzige Mittel ist, um sie ruhig zu stellen, wird das irgendwann scheitern.

Symbolfogur des Staatsversagens

Mittlerweile ist Merkel nicht ohne erhebliches eigenes Zutun zur Symbolfigur für eine Politik geworden, die zumindest von gut der Hälfte der Bevölkerung, darunter viele potentielle CDU-Wähler, wenn nicht  sogar der klaren Mehrheit teils versteckt, teils offen abgelehnt wird. So wie sie in der Eurokrise selbst beim dritten Griechenlandpaket nicht den Mut hatte, sich der Konfrontation mit ihren europäischen Gegnern zu stellen, so tat sie in der Flüchtlingskrise alles, um die Koalition mit der SPD konfliktfrei über die Runden zu bringen und sich zugleich den Weg für eine Zusammenarbeit mit den Grünen 2017 offen zu halten. Sie akzeptierte dabei aber am Ende, dass ihr Kabinett nur als der verlängerte Arm jener Kräfte erschien, die im besten Fall politische Rationalität durch bloßen Idealismus und unbefangene Naivität – die am Ende auch nur eine besondere Form des Zynismus ist –  ersetzen wollen.

Auch wenn nun faktisch die Zahl der Flüchtlinge und Immigranten, die nach Deutschland kommen, deutlich gesunken ist, muss man sich dennoch fragen, was passieren würde, wenn das fragile Abkommen mit der Türkei, für das man ohnehin einen hohen moralischen Preis zahlen muss, doch noch scheitert. Was geschieht, wenn sich zugleich die Balkanroute, die zur Zeit von Ländern wie Ungarn, Makedonien und Österreich zumindest partiell gesperrt wird, wieder öffnet. Wird Deutschland dann Abwehrmaßnahmen so wie Schweden, Dänemark, die Schweiz oder Österreich ergreifen oder einfach zur Politik des Jahres 2015 zurückkehren? Letzteres muss trotz allem als relativ wahrscheinlich gelten, und das wird von vielen Bürgern als höchst beunruhigend empfunden und es wird sie auch nicht trösten, dass dies zum Teil einfach der Preis für eine in Deutschland besonders stark ausgeprägte Richterherrschaft und den obsessiven Legalismus der deutschen politischen Kultur ist, also nur begrenzt von der jeweiligen Regierung zu verantworten ist.

Die Linken gehen Merkel von der Fahne
Merkel: Der Abgesang hat begonnen
Es wird Merkel in ihrer verbleibenden Amtszeit jedenfalls kaum noch gelingen, das Vertrauen in den Staat und die politische Klasse, das in den letzten Jahren bei vielen Menschen verloren gegangen ist, wieder herzustellen. Dazu ist ihr auch die Zusammenarbeit mit einer politischen Linken, die sich weigert, diesen Vertrauensverlust überhaupt als ernsthaftes Problem zu begreifen, und unvoreingenommen nach seinen Ursachen zu fragen, zu sehr nicht nur zur Gewohnheit, sondern auch fast zur Herzensangelegenheit geworden. Eine andere Machtoption als die Zusammenarbeit mit den Grünen oder der SPD hat die CDU freilich auch nicht, heute weniger denn je. Da ist es dann auch schwierig, sich gegen die Partner abzugrenzen, zumal wenn man bedenkt, dass die CDU ihre Identität immer schon vor allem daraus bezog, dass sie sich als natürliche Regierungspartei definierte, während demgegenüber programmatische Forderungen eher eine sekundäre Bedeutung besaßen.

Heute ist das ideologische Profil der Partei freilich endgültig verloren gegangen und daran ist Merkel mit ihrem Kurs der scheinbar alternativlosen „Modernisierung“ einer Partei, die zu sehr an ohnehin aussterbende konservative und konfessionelle Milieus gebunden zu sein schien, keineswegs unschuldig. In gewisser Weise ähnelt ihr Schicksal dem von David Cameron. Cameron suchte gesellschafspolitisch nicht ohne Erfolg den Anschluss an das liberale oder auch linksliberale Bürgertum Londons und anderer urbaner Zentren, zahlte dafür aber einen hohen Preis, da ein großer Teil der Parteibasis und der konservativen Kernwählerschaft ihm auf diesem Weg nicht folgten. Das Resultat war ein Aufstand zahlreicher Hinterbänkler gegen seine Europapolitik, der kombiniert mit dem Angriff von UKIP auf die etablierten Parteien zur Niederlage Camerons beim Brexit-Referendum führte.

Wer konservativ für rechtsradikal erklärt, kriegt die Quittung

Soweit wie Cameron ist Merkel noch nicht, zumal es in Deutschland keine Volksabstimmungen über Fragen der Bundespolitik gibt, aber die Luft wird für sie dennoch immer dünner. Im Rückblick wird man über ihre Kanzlerschaft vermutlich sagen, dass während ihrer Regentschaft  sich die politische Kultur der alten Bundesrepublik, die schon nach der Wiedervereinigung fragiler geworden war, endgültig auflöste. Wäre es vor drei Jahren denkbar gewesen, dass eines Tages im Bundestag eine Politikerin sitzen würde, die „völkisch“ für eine ganz normale, sogar positiv besetzte Vokabel der politischen Rhetorik hält und das auch noch offen sagt? Wohl kaum, aber unvermeidlich wenn man einen bürgerlichen Konservativismus, der vom Nationalstaat  und seinen Grenzen als Grundlage der Politik und von einer gewissen Anpassungspflicht von Immigranten zu sprechen wagt, schon als eine Art Rechtsradikalismus brandmarkt. Diese Ausgrenzungsstrategie der politischen Linken hat sich die Merkel-CDU eben zuletzt kaum noch in den Weg gestellt. Da darf man sich nicht wundern, wenn es zu einer gewissen Destabilisierung und Polarisierung kommt. Am Ende manifestieren sich die Forderungen eines eben weiterhin durchaus präsenten konservativen Milieus ähnlich wie in den USA und in manchen europäischen Ländern mangels anderer Möglichkeiten sich zu artikulieren vor allem in Provokationen und bewussten Tabubrüchen. Diese reichen aber durchaus, um auch den anderen Parteien die Diskussion über bestimmte Themen, der sie so gern ausweichen würden, aufzuzwingen – und genau das ist es, was viele Wähler sich dann eben auch wünschen.

Diese Entwicklung hat viele, auch strukturelle Gründe, wie ja auch der Blick auf das Ausland zeigt, wo schon seit längerer Zeit ähnliche Veränderungen zu beobachten sind. Merkel hat sie in ihrem politisches Kalkül weder jemals antizipiert noch hat sie versucht, unzufriedene konservative Wähler außer durch bloße Beschwichtigungsformeln wieder stärker zu integrieren. Die Politiker innerhalb der CDU, denen dies vielleicht hätte gelingen können, gerade weil sie keine Ministerämter in Berlin inne hatten und damit auch nicht ständig den Schulterschluss mit der SPD suchen mussten, hat sie, und das war vielleicht ihr schlimmster Fehler, als aufsässige Rebellen bewusst marginalisiert oder in die Wüste geschickt, egal ob sie nun Bosbach, Willsch oder anders hießen und sich statt dessen auf Gestalten wie den großartigen und immer gut gelaunten Armin Laschet, verlassen.

Dieser Fehler lässt sich jetzt nicht mehr ungeschehen machen und er wird mit dazu beitragen, dass ihr Nachfolger oder ihre Nachfolgerin in zwei oder drei Jahren an der Spitze eines Landes stehen wird, das immer schwerer zu regieren sein wird. Es wird   wohl nicht mehr jener Stabilitätsanker Europas sein, als der es heute noch angesehen wird. Das heißt nicht, wie manche Historiker oder Politikwissenschaftler jetzt warnend meinen, dass aus Berlin ein neues Weimar werden wird. So dramatisch haben sich die Dinge ja in Wien, Bern, Den Haag, Stockholm oder Paris auch nicht  zugespitzt. Die etablierten Parteien werden damit leben müssen, dass eine radikale und chaotische Protestbewegung ihnen in Krisenzeiten, und diese werden von jetzt an der Normalzustand sein, immer wieder die Themen diktieren wird.

Ein Trost bleibt dennoch, die Bundesrepublik wird bei Wahlen weiter über exzellent klebende Briefumschläge verfügen können, was ja in Europa nicht überall der Fall ist. Was Merkel selber betrifft, so ist die CDU anders als die CSU keine Partei des Königsmordes, namentlich dann, wenn es keine  vorzeigbaren Kronprätendenten gibt, und so wird man das Ende ihrer Amtszeit in Ruhe abwarten müssen. Das langsame Verblassen ihrer Führungskraft und ihrer Macht ist wie so vieles andere in ihrer Karriere allerdings alternativlos.

Ronald G. Asch ist Historiker und lehrt an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

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