Das berühmteste Weihnachtslied der Welt soll auch wirklich erst am Heiligen Abend gesungen werden. Das fordert die „Stille Nacht Gesellschaft“, und man möchte sie dafür küssen. Eine Schimpftirade gegen die Dauerbeschallung.
picture alliance / dpa | Horst Galuschka
Adventsgedudel. Man verzeihe mir den despektierlichen Ausdruck, aber besser kann man ihn halt nicht umschreiben, den permanenten Anschlag auf unser Innenohr.
Der öffentliche Raum wird geflutet mit vermeintlich festlicher Weihnachtsmusik. Schon seit Mitte Oktober geht das so, da war der Heilige Abend beim besten Willen noch nicht einmal ansatzweise am Horizont zu sehen. Aber zu hören.
Überall wird der arglose, unschuldige Passant mit Weihnachtsmusik bombardiert: in Supermärkten und Kaufhäusern, in Shops und Boutiquen, in Restaurants und Cafés und selbstverständlich in Fahrstühlen. Die sind berüchtigt für Zwangsmelodien in Endlosschleife, die Angelsachsen haben dafür extra ein eigenes Wort erfunden: „elevator music“, Fahrstuhlmusik eben.
Die akustischen Opfer nennen es: Gedudel.
Und schon weit vor der Adventszeit wird der geplagte moderne Mensch mit den üblichen, bei der GEMA-Gebühr günstigen und daher schlecht gespielten instrumentalen Cover-Versionen irgendwelcher Hits traktiert, also eben mit Adventsgedudel.
Fahrstuhlmusik soll grenzwertig klaustrophobische Benutzer beruhigen. Wer ihr ausgesetzt ist, wird allerdings die Vermutung nicht los, dass das niemanden beruhigt, sondern höchstens aggressiv macht. Supermärkte erhoffen sich von der Beschallung einen erhöhten Kaufreflex ihrer Kunden. Wer nicht komplett taub oder abgestumpft ist (oder beides), bei dem löst es in Wahrheit einen ganz anderen Reflex aus: den Fluchtreflex.
Physisch schmerzhaft wird die Sache, wenn irgendwann im Spätherbst im Supermarkt die ersten Schoko-Nikoläuse in den Regalen stehen, neben den ersten Lebkuchen und Dominosteinen, und dazu dann eine erbärmliche Kopie von „Santa Claus is coming to town“ ertönt. Nicht selten sitzen zur selben Zeit noch Menschen an den Tischen in den Straßencafés. Draußen, versteht sich.
Auch bei nasskalten fünf Grad und Sprühregen im Gedränge der Fußgängerzone entsteht festliche Stimmung ganz sicher nicht dadurch, dass Bing Crosby schmalzig von einer weißen Weihnacht träumt oder Mariah Carey einem „All I want for Christmas is you“ in den Gehörgang trötet.
Was ist bloß los mit unserer verfetteten Konsumgesellschaft, dass wir noch nicht einmal mehr feste Daten im Kalender abwarten können? Ich sag’s ja nicht gerne, aber der Moslem ist in dieser Hinsicht eindeutig disziplinierter. Niemand, der auf den Koran schwört, käme auch nur im Traum auf den Gedanken, schon Wochen vor Beginn des Ramadan zu fasten.
Den Gedanken zu Ende gedacht hat jetzt ein gewisser Josef Bruckmoser. Der Mann ist Österreicher, doch bevor wir uns unseren ablehnenden Vorurteilen hingeben, weil Deutschland mit aus Österreich importierten Ideen nur so mittelgute Erfahrungen gemacht hat, sollten wir ihn anhören.
Im Kölner Domradio hat Herr Bruckmoser nämlich vorgeschlagen, dass das Lied „Stille Nacht“ wirklich nur am Heiligen Abend gesungen und auch gespielt wird.
„Stille Nacht“ ist das erfolgreichste Weihnachtslied der Welt. Die UNESCO hat es im Jahr 2011 zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt. Herr Bruckmoser ist Zweiter Vorsitzender der „Stille Nacht Gesellschaft“. Die hat ihren Sitz im kleinen Örtchen Oberndorf, keine 15 Kilometer von Salzburg entfernt. Dort haben am 24. Dezember 1818 der Komponist Franz Xaver Gruber und der Dichter Joseph Mohr das Lied erstmals vor Publikum vorgetragen: in der Schifferkirche von St. Nikola. Die ist irgendwann eingestürzt, an ihrer Stelle steht heute die Stille-Nacht-Kapelle.
Das Lied, das der Kapelle ihren Namen gab, ist ein echter Welthit. In sage und schreibe mehr als 320 Sprachen und Dialekte ist es übertragen worden. Der schon erwähnte Bing Crosby spielte 1934 die englischsprachige Version („Silent Night“) ein und machte dadurch das deutsche Volkslied international bekannt.
„Stille Nacht“ hat im Wortsinn Geschichte gemacht: Beim historischen „Weihnachtsfrieden“ 1914, mitten im Ersten Weltkrieg, stellten deutsche und britische Soldaten am Heiligen Abend für eine Nacht das Kämpfen ein und sangen das Lied gemeinsam. Mitten im Zweiten Weltkrieg, 1941, trällerten US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premierminister Winston Churchill im Garten des Weißen Hauses das Lied gemeinsam vor der Weltöffentlichkeit.
Dieses Lied hat es einfach nicht verdient, als verkaufsfördernder Ohrenschmalz missbraucht zu werden.
Normalerweise sind Verbote aller Art ja immer irgendwie eine Art von Zensur. Für ein „Stille-Nacht“-Verbot vor Weihnachten würde das natürlich ebenso gelten. Aber ausnahmsweise, ganz ausnahmsweise, könnte man sich mit dieser autoritären Idee doch anfreunden. Oder etwa nicht? Im Text heißt es ja nicht umsonst: „Alles schläft…“. Könnten nicht mal die Lautsprecher schlafen – für die „himmlische Ruh‘“?
Und bei der Gelegenheit hätte ich noch eine persönliche Bitte: Könnten alle Radiosender nur für ein einziges Jahr auch komplett auf George Michael und „Last Christmas“ verzichten? Das wäre ganz reizend. Danke im Voraus.

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Für mich ist Weihnachten der reinste Seelenterror. Am meißten stört mich, daß schon im September Weihnachtsartikel im Supermarkt angeboten werden.
Sehr schön ist das in einer Folge von Stenkelfeld beschrieben, zum schreien komisch!! https://www.youtube.com/watch?v=gPZjJrFCJX0
Ich kann die Vorweihnachtserfahrungen von Autor Heiden Satz für Satz, Wort für Wort unterschreiben. Unfassbar tumb, das Pack.
Wenn ich ergänzen darf. Im Land, dass uns den Braunauer geschenkt hat, ists nach meinen Erfahrungen genauso übel. Im deutschsprachigen Raum ragt allein die Schweiz ein bisserl aus dem Elend heraus, ohne sich aber wirklich abzugrenzen.
Last Chrismas – könnte ja auch ein Hinweis sei, in dem Zustand in dem dieses Land, die westliche Welt sich befindet. „Last“, wird nicht mehr lange dauern bis wir Islamfeste feiern, dann hat dieses „Gedudel“, dass eigentlich nur mehr eine Kommerzunterstützung ist und mit einer stillen, besinnlichen Zeit nichts mehr gemein hat, sowieso ein Ende. Also, wer will genießt dieses „Last“- egal wie oft noch, es wird ein „Last“ werden!
Mir tun auch immer wieder Angestellten in Supermärkten oder Kaufhäusern leid, die sich den ganzen Tag meistens schon ab Mitte November die ewig selbe Playlist anhören kann. Ich hoffe, Sie bekommen eine Erschwerniszulage.
Zur Klarstellung: Ich für meinen Teil mag Weihnachtslieder. Allerdings erst ab dem 23. Dezember, wenn ich den Baum schmücke. Und dann höre ich bewusst hin. Für mich gehört das einfach dazu. Und über Geschmack lässt sich ja bekanntlich nicht streiten.
Wenn es nicht schon wieder ein Verbot wäre, könnte ich mich damit anfreunden.
Ich kann mich nicht daran erinnern, früher jemals vor Heiligabend Stille Nacht gesungen zu haben. Nicht einmal andere Weihnachtlieder sangen wir schon weit vor Weihnachten.
Dieses amerikanisierte Weihnachten, wie es heutzutage ist, gefällt mir ohnehin nicht.
Also ich treffe zunehmend auf Leute, die ohne App nicht wissen, wo ihr eigenes Klo ist. Und für die ist diese „Musik“ bestimmt sehr hilfreich.
Sonst wissen die ja gar nicht mehr, warum sie „in Stimmung“ sind. Die denken nämlich wie bereits gewohnt, daß die Kälte vom Klimawandel kommt. Man kann aber durchaus auch durcheinander kommen, wenn dem Zuckerfest neuerdings mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, als dem Geburtstag von diesem Dings. Äh wie hiess der nochmal…?
Zum Thema Klimawandel:
Heute Morgen auf hr1: „Wir werden wohl keine weiße Weihnachten haben“! Laut Moderator liegt das aber „nicht nur“ am Klimawandel. In unserer Region gab es die letzten „weißen Weihnachten“ im Jahr 2010 und davor, man höre und Staune: 1981(!) Fazit: Der menschengemachte Klimawandel wütet schon seit 44 Jahren!
Dieses Dings ist übrigens die Weihnachtsperson! Nonbinär oder so…
Ich dachte es sei Gretas Geburtstag…
Ach, seufz, wie lange wünsche ich mir das schon!! Mir geht es GENAU SO!! Die ewige Beschallung mit amerikanisierten „Weihnachtsliedern“ löst ebenfalls einen Fluchtreflex aus und dieses ewige „Last Christmas“ (wer ist denn dieser Lars Krismes?), ich kann! es! nicht! mehr! hören!!! Deswegen vermeide ich Christkindlmärkte grundsätzlich und versuche, alles Weihnachtliche mindestens vor dem Advent zu ignorieren!! Ganz abgesehen davon, daß es den ADVENT in seiner eigentlichen Bedeutung sowieso schon lange nicht mehr gibt und alles nur ein hohles, leeres Theater ist. Man kann nur selbst versuchen, die eigentliche Bedeutung wieder zu finden und mit Inhalt zu füllen.
Und wenn der angebliche Weihnachtsmann mit “ Ho ho ho“ daherkommt, ist es in Wirklichkeit der amerikanische Santa Claus, ein kitschiger Werbeträger.
Vor einigen Jahren waren mein Schlittenhund und ich am Bargeldautomaten in der Bank unmittelbar am Weihnachtsmarkt. Draußen setzt an einer der Buden laute Weihnachtsmusikbeschallung ein.
Mein Hund legt seinen Kopf in den Nacken und heult dagegen an.
Der Kunde hinter mir sieht mich fragend an.
Ich erkläre: Sie tut das immer, wenn ihr das Programm nicht gefällt, damit man das Stück nicht so hört.
Kunde: DAS kann ich SOO nachvollziehen!
Das eine sind Weihnachtslieder, die verkaufsfördernd eingesetzt werden. Das andere ist die Vorweihnachtszeit, die mich dazu einlädt, sie zu genießen, indem ich Weihnachtslieder oder auch Winterlieder höre. Diese Zeit ist kurz genug. Dieses Genießen lasse ich mir weder durch Ihren Artikel verderben, noch durch Orte, die verkaufsfördernd beschallt werden.
Verbote? Passt in die Zeit. Immer der einfachste Weg, sich mit etwas auseinanderzusetzen. Und unwirksam. Dadurch wird das Lied auch nicht heiliger.