Thilo Sarrazin über Merkels Bilanz der verpassten Chancen

Wie funktioniert Politik? Wie kommen politische Fehlentscheidungen zustande? Warum sind gute Absichten oft nicht vom Erfolg gekrönt? Wo liegen die Gründe für den Erfolg oder Misserfolg von Gesellschaften?

Es ist diesmal ein schmales und gut lesbares Bändchen von gut 150 Seiten geworden, das Thilo Sarrazin vorlegt; sein Thema: Wie funktioniert Politik? Er argumentiert elegant, ohne Zahlenkolonnen und jener Faktenhuberei, der er sich gelegentlich verpflichtet fühlt, weil sonst jede seiner Äußerungen bewusst und verquält skandalisiert und verfälscht wird.

Darüber ist Sarrazin jetzt hinaus. Er hat sich freigeschrieben. Man spürt, dass die ständigen Angriffe ihn nicht mehr treffen und den Falschschreibern allmählich das Schicksal widerfährt, ihrerseits Beobachtungsobjekte Sarrazin’scher Seziertechnik zu werden.

»Wir schaffen das.« Erläuterungen zum politischen Wunschdenken so lautet der programmatische Titel. Merkel schrumpft darin bereits zu einer historischen Fallstudie. Noch agiert sie und doch zieht Sarrazin den Schlussstrich unter ihre Bilanz, reduziert sie auf das aktuellste Fallbeispiel katastrophaler politischer Entscheidungen.

»Wir schaffen das«?
Sarrazin bilanziert das politische Wunschdenken der Ära Merkel
Mit „Die Torheit der Regierenden“ hat die US-Historikerin Barbara Tuchmann eine Studie über die schlimmsten Fälle politischen Versagens vorgelegt; Sarrazin reiht Merkel in diese wahrhaft historische Reihe der Schrecknisse ein:

„Die 16 Jahre währende Kanzlerschaft Angela Merkels liefert mit ihren Brüchen, Wendungen und einer sich zunächst unmerklich vollziehenden grundsätzlichen Kursänderung anschauliche Beispiele für das Irrlichternde und Inkonsequente, das politischen Prozessen häufig anhaftet.“

Am Beginn steht daher ein Rückblick auf Angela Merkels Regierungszeit und eine Einordnung in die Reihe ihrer mehr oder weniger glückhaften Vorgänger; die großen Zukunftsfragen Energiewende, Zukunft der EU, Einwanderung und abnehmende Bildungs- und Innovationskraft seien konzeptionell wie operativ ungelöst geblieben – möglicherweise „Vorboten eines Niedergangs“.

Sarrazin verwendet keine drastischen Begriffe; die gedanklich präzise und konzise Argumentationsstruktur eines Spitzenbeamten preußischer Tradition zieht sich durch sein Werk. Umso gnadenloser sind die Befunde, die vor den Augen des Lesers entfaltet werden, wenn Sarrazin die Linien zieht.

Erläuterungen zum politischen Wunschdenken
Angela Merkel und das Meinungsklima in Deutschland
Aber Merkel ist ja nicht allein. Sie ist umgeben von Helfershelfern, die Sarrazin benennt, von Parteien und einer Medienlandschaft, die Merkel ebenso stützen, wie sie Merkel für ihre Politik des nackten Machterhalts missbraucht.
So entwirft Sarrazin gleichzeitig eine Art Fibel über die Grundsätze guter Regierungskunst – und ihrer Kontrolle durch Medienmacht, zur Beschränkung der Regierenden und um den Missbrauch der Wissenschaft zu verhindern. Er orientiert sich an Max Webers Kernsätzen über die Kunst des Regierens als „Leidenschaft im Sinne von Sachlichkeit“, „Verantwortung gegenüber der Sache“ und „Augenmaß“.

Erkennbar wurde und wird durch und unter Merkel gegen alle drei Prinzipien permanent verstoßen. Sarrazin beschreibt den anstehenden Bruch, den das Ende ihrer Kanzlerschaft nach 16 Jahren markiert, als eine „Bilanz der verpassten Möglichkeiten“ – aber macht wenig Hoffnung, dass die derzeit zur Wahl stehenden Nachfolger aus anderem Holz geschnitzt wären.

Thilo Sarrazin, »Wir schaffen das«. Erläuterungen zum politischen Wunschdenken. LMV, Hardcover mit Schutzumschlag, 184 Seiten, 20,00 €.


Empfohlen von Tichys Einblick. Erhältlich im Tichys Einblick Shop >>>

Unterstützung
oder

Kommentare ( 43 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

43 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
Thorsten
2 Jahre her

Merkel hat die Medien zuerst „politisch“ gekauft, indem sie Atomkraft und Migration im links-grünen Sinne durchgepeitscht hat und nun auch über „Projekte“ und Anzeigen die Medien am Futtertrog des Steuergeldes pflegt.
Die CDU hält sie in Schach, indem sie immer wieder Kompromisse nach „links“ abschließt und somit ihre Unersetzlichkeit beweißt. Die CDU hat kein Rückgrat um diesen politischen Ausverkauf zu beenden …

Timur Andre
2 Jahre her
Antworten an  Thorsten

Vor kurzem gelesen „Das Weltwirtschaftsforum schaltete während des ersten Merkel-Schörder Wahlkampfes ganzseitige Anzeigen in DER ZEIT“

Nun die Ziele des WEF, die Zusammenarbeit mit EU und UN, und deren Ziele einsehen, und schon ergeben sich mögliche Zusammenhänge mit der Wahl von Frau M.
Wir müssen nicht in die Manchurai, um einen Kandidaten zu finden.

verstehdieweltnichtmehr
2 Jahre her

Für mich besteht der größte Alptraum darin, dass alle diejenigen, die Merkel in den vergangenen Jahre bewußt unterstützt hatten, ihr Schäfchen ins Trockene gebracht haben und unsere Kinder sowie deren Kinder die ganze Chose auszubaden haben.

Hoffnungslos
2 Jahre her

Frau Merkel und Ihre Mitarbeiter haben der Demokratie schweren Schaden zugefügt. Vermutlich sind ihr Freiheit und Demokratie verhasst.

Felicitas21
2 Jahre her

Ich schätze Sarrazin und seine Bücher, auch wenn ich nicht alle gelesen habe. Doch als vor etlichen Jahren sein erstes Buch erschien und wir in München damals zu seiner Buchlesung wollten, mussten wir von der Polizei beschützt werden. Denn vor dem Eingang hatte sich die übliche linke Klientel versammelt, schrie :“ Nazis raus“ und wollte uns den Einlass verwehren. Als ich einen kurz fragte, ob er denn das Buch überhaupt gelesen hätte und warum er mir verbietet Sarrazin zuzuhören? Da wurde der junge Mann so wütend und drohte mich anzugreifen, worauf ich nur unter Polizeischutz schnell in den Vortragsraum geflüchtet… Mehr

Juergen P. Schneider
2 Jahre her

Die Tyrannei der guten Absichten wird dennoch weitergehen. Moralgeschwafel als Ersatz für sinnvolle pragmatische Politik wird auch weiterhin die Agenda im weltfremdesten Deutschland, das es je gab, bestimmen. Eine Wende hin zur Vernunft wird dann erfolgen, wenn der Druck von außen größer wird. Erst wenn positive Entwicklungen in anderen Ländern, die eigenständige Politik zum Wohle des jeweiligen Landes betreiben, in Deutschland bekannt werden, wird ein Umsteuern zwangsläufig werden. Beispiele gibt es ja bereits: Dänemarks Asylpolitik, Großbritanniens Corona-Politik und die weltweite Verstärkung der Kernenergienutzung aus Klimaschutzgründen. Es wird ein Handlungsdruck durch positive Beispiele aus anderen Ländern entstehen. Erst wenn die deutschen… Mehr

traene im ozean
2 Jahre her

Sarrazin ist der Prophet, der in seinem Land nichts gilt.
Von den Mächtigen gehasst, diskreditiert und verleumdet sagt und schreibt er „was ist“, ohne sich zu verbiegen oder vor dem politisch-medialen Komplex einzuknicken.
Wenn Historiker in Jahrzehnten verstehen wollen, wie eine erfolgreiche Industrienation vor die Hunde ging, werden Sarrazins Bücher dafür eine wahre Fundgrube sein und plausible Erklärungen liefern.
Lassen wir es nicht soweit kommen!

Hoffnungslos
2 Jahre her
Antworten an  traene im ozean

Die Bücher von Herrn Sarrazin werden doch massenhaft von den Bürgern gekauft und gelesen. Die, die Sarrazin boykottieren sind die Nutznießer der gegenwärtigen Merkel-Politik.

Kassandra
2 Jahre her

Das Schlimme ist: der Spuk muss sich selbst beenden.
Zu viele sind noch in dem Gespinst verfangen und in gutem Glauben, dass alles seinen rechten Weg geht und werden das „bis zum letzten Atemzug“ verteidigen.
Wobei das Ende ein überaus Bitteres wird. Die bereits angerichtete Gemengelage mit täglich weiterem Zuzug von Unpässlichen hinter unser aller Rücken wird eine friedliche „Auflösung“ verhindern

Hoffnungslos
2 Jahre her
Antworten an  Kassandra

Wann hätte ein Spuk bei uns sich jemals selbst beendet?

Tizian
2 Jahre her

Man sollte sich nichts vormachen. Die allein schon prozentual absurde Baerbock-Kanlzerschaftsanwärterei und die tatsächliche und von den ÖR noch potenzierte Laschetschwäche hat nur ein Ziel, daß Merkel als vermeintliche „Retterin“ weitermachen kann. Statt „Führer befiehl, wir folgen“, steht heute „Wer soll es denn sonst machen“.

Dagmar
2 Jahre her

Herr Sarrazin ist sicher ein sehr guter Analyst, doch Lösungen für die angesprochenen Probleme finden sich in der Praxis nicht. Gertrud Höhler schrieb 2013 das Buch „Die Patin“, wie Merkel Deutschland umbaut, als Reaktion auf den illegalen Atomausstieg. Der Umbau Deutschlands setzte sich aber weiter fort in der bis heute anhaltenden Grenzöffnung, den Rettungspaketen für andere EU-Länder und nun bei Corona: Das natürliche Leben der Menschheit soll durch Technik „vervollkommnet“ werden. Es geht um den Gesundheitspass, den nun jeder haben soll, es wird bereits darüber diskutiert, ob man noch ohne (Impfung/Test) Pass in den Supermärkten Lebensmittel einkaufen darf. Deshalb forciert… Mehr

Hoffnungslos
2 Jahre her
Antworten an  Dagmar

Wollen kann man viel…..

zweisteinke
2 Jahre her
Antworten an  Dagmar

Vor China habe ich keine Angst. Chinesen sind schlau, zumeist freundlich, intelligent, begeisterungsfähig und sie lieben Gerechtigkeit!
Also das genaue Gegenteil dessen, was diese „grünen“ sind und uns aufzwingen wollen. Seht doch die Fakten!!! Fordern, bestimmen, verbieten, bestrafen, „WIR haben immer Recht“ auch wenn das, was wir erzählen grottiger Mist ist.

Robby
2 Jahre her

Die Überschrift ist falsch gewählt. Merkel hat jede Chance genutzt, Deutschland weitere Lasten aufzuerlegen und seine Möglichkeiten zu beschränken, diese Lasten auch zu tragen. Sie hat den einstigen Stabilitätsanker der EU zum Sorgenkind gemacht, zu einem Sorgenkind freilich, dass jetzt bei Weitem der größte Nettozahler ist und bleiben soll.