Mythos statt Fake News

Zu Benjamin Hasselhorns exzellenter Studie über die Macht der Mythen

Was haben Kaiser Wilhelm I., Otto von Bismarck, Martin Luther, Jeanne d´Arc, Winston Churchill, aber eben auch die Befreiungskriege von 1813 bis 1815, der Sturz Mussolinis durch den Großen Faschistischen Rat 1943 und der Kampf gegen die deutsche Besetzung Italiens (Resistenza Mythos) gemeinsam? Sie alle wurden zum Ausgangspunkt von Geschichtsmythen.

Mythos ist Heimat und Heimat ist Wirkung. Aus dem Altgriechischen kommend kann μῦθος für Laut, Wort, Rede, Erzählung stehen. So gesehen beginnt mit dem Mythos das Sprechen. Ein Geschichtsmythos dürfte mithin die Existenz der Vergangenheit in der Gegenwart sein als ein über die Zeiten hinweg sinnstiftendes Element, ein heutiges Sprechen in der Sprache der Vergangenheit. Mit Blick auf die hohe gesellschaftliche Wirksamkeit, auf ihre Mobilisierungskraft stellt sich die Frage, was Geschichtsmythen eigentlich sind, wie sie entstehen, wie sie wirken, ob sie künstlich herstellbar sind, ob sie sang und klanglos verschwinden oder sich verwandeln.

Diesen Fragen ging der Würzburger Historiker Benjamin Hasselhorn nach. Und er konnte aus dem Vollen schöpfen. In dem Buch „Tatsache! Die Wahrheit über Luthers Thesenanschlag“ erzählte er gemeinsam mit Mirko Gutjahr über den Auslöser der Reformation und untersuchte, ob es sich dabei um ein historisches Ereignis handelte, das mythische Wirkungen zeitigte, oder ob ein Mythos in ein historisches Ereignis umgedeutet werden sollte. Mit den Büchern „Königstod. 1918 und das Ende der Monarchie in Deutschland“ und dem bei Duncker & Humblot erschienenen Band „Die Bedeutung des Kronprinzen Wilhelm. Beiträge zur Nachgeschichte der Hohenzollern-Monarchie. Mit einer Edition eines unveröffentlichten Memoirenmanuskripts“ erwies sich Hasselhorn für ein breites Publikum als Kenner des 19. und 20. Jahrhunderts.

In seinem Buch über Geschichtsmythen vereinigt der Würzburger Historiker ausgesprochen elegant zwei Vorzüge: es ist zum einen in der Tat ein Standardwerk über die „Macht historischer Erzählungen“ und zum anderen auch noch sehr lesbar, eine analytische und stilistische Meisterleistung. Gerade in einer Zeit, in der nicht das, was gesagt wird wichtig ist, sondern wer etwas sagt, ist eine Analyse dessen, was im gesellschaftlichen Diskurs signifikant ist und warum, von unschätzbarem Wert, denn unsere Anschauungen und unser Handeln orientieren sich an Übereinkünften, an Be-Wertungen, die wir miteinander teilen oder eben auch nicht. Mehr noch, gerade Übereinstimmungen auch im Urteil von historischen Ereignissen und Persönlichkeiten können über den Diskurseinschluss oder über den Diskursausschluss entscheiden. Wehe dem, der den „falschen“ Mythos aktiviert – und wenn auch nur aus Versehen.

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Dabei ist es dem Menschen eigen, dass er zwar auf häufig erklärte, nie aber ganz einsichtig gemachte Weise sich ins Verhältnis zur Vergangenheit setzt. Noch in Paris, kurz vor der Flucht vor den Nazis, die im katalanischen Küstenstädtchen Portbou jäh endete, hatte Walter Benjamin seine berühmten Thesen über den Begriff der Geschichte niedergeschrieben, diese sonderbare Liaison des Marxismus mit dem jüdischen Messianismus, in denen es in These XIV heißt: „Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. So war für Robespierre das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte. Die französische Revolution verstand sich als ein wiedergekehrtes Rom.“

Die Vorstellung der Konstruktivisten und Dekonstruktivisten, die postmodernen Selbstbespiegelungen der Glasersfelds und Derridas erteilt Hasselhorn nicht nur eine Absage, er zeigt auch ihre innere Widersprüchlichkeit, er stellt das lebensfern Konstruierte des Konstruktivismus mit schöner Leichtigkeit bloß und dekonstruiert fast en passant Derridas Dekonstruktivismus. Doch Walter Benjamins Geschichte als Konstruktion hat nichts mit Glasersfelds Metallbaukasten, auch nichts mit Derridas angestaubtem Dadaismus gemein, sondern meint genau das, dass uns Geschichte angeht, dass Diskussionen über die Geschichte von Heutigem handeln und, dass Geschichtsmythen Orientierung bieten. In der DDR besaßen „Erbe-Diskussionen“ eine hohe politische Sprengkraft.

Hasselhorn weist darauf hin, „von Putins glorifizierender Geschichtspolitik des ‚Großen Russlands‘ bis zur Suche der Europäischen Union nach einer verbindenden Europa-Erzählung, von der Identifikation Wolodymyr Selenskyjs mit dem ‚Retter der freien Welt‘ Winston Churchill bis zur umstrittenen Reinszenierung der französischen Geschichte bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris 2024, von der neuen Auseinandersetzung um die Werte des Westens zwischen der US-Regierung und den EU-Staaten bis zu den regelmäßigen Parallelen, die zwischen der gegenwärtigen politischen Lage in Deutschland und dem Niedergang der Weimarer Republik gezogen werden: Bestimmte Vorstellungen über die Vergangenheit prägen unsere Sicht auf die Gegenwart, bieten uns Orientierung und manchmal sogar ein konkretes Handlungsziel.“

Die Geschichte ist also nicht tot, jedenfalls noch nicht ganz, geschichtspolitische Orientierung und Geschichtsmythen spielen eine erhebliche Rolle im gesellschaftlichen Diskurs. Auf Grund ihrer Eigenheit, dass Geschichte immer auch Erzählung ist, wird die Erzählung im Mythos kanonisiert, zur Glaubenstatsache. Mythos wird dann Mythos für den Einzelnen, wenn er ihn annimmt und er nimmt ihn an, wenn er eine Qualität erreicht, die Horaz in den berühmten Sermones ausdrückt: „mutato nomine / de te fabula narratur.“ („Der Name ist geändert, aber die Geschichte handelt von dir.“).

Die Etymologie lügt nicht, wenn sie für Geschichten und Geschichte den gleichen Wortursprung bereithält, weder im Deutschen, noch im Englischen, nämlich story und history. Bis hierher ist es noch einfach, Geschichtsgeschichten verwandeln sich in Mythen, wenn sie im tieferen Sinne als wahr akzeptiert werden und ein Handlungs-, Orientierungs- und Identifikationsangebot in sakraler Form zum Ausdruck bringen, wie Hasselhorn zeigt. Doch damit ist eben noch nicht viel gesagt, denn: „Es gibt keine allgemein akzeptierte Definition, was ein Mythos oder zumindest ein Geschichtsmythos eigentlich ist. Auch existieren verschiedene Ersatzbegriffe, die entweder dasselbe Phänomen erfassen wollen oder zumindest Verwandtes bezeichnen. Dazu gehören „Erinnerungsorte“, „Erinnerungskultur“ und „intentionale Geschichte“.

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Viele Arbeiten operieren aber auch einfach ohne genauere Definition mit dem Mythosbegriff. Das ist insofern problematisch, als schon die beiden häufigsten Begriffsverwendungen – der Alltagssprachgebrauch vom Mythos als verbreitetem Irrtum und der religionswissenschaftliche Begriff vom Mythos als einer „heiligen Geschichte“ – weit auseinandergehen“, wendet Hasselhorn ein. Zwar schlägt der Würzburger Historiker eine Arbeitsdefinition vor, die lautet: „Ein Geschichtsmythos ist eine Erzählung über die Vergangenheit, die in der Gegenwart für eine Gruppe Sinn und Bedeutsamkeit stiftet“, doch hat interessanterweise die Geschichtswissenschaft im Grunde das vermieden, was in den Sprach- und Literaturwissenshaften, was in der Semiotik, in der Philosophie, in der Religionswissenschaft erfolgte, sie unterließ es, „eine tragfähige Theorie und Methodik geschichtswissenschaftlicher Mythosforschung zu erarbeiten“. Hasselhorn unterscheidet zwischen Mythenkritik, Arbeit am Mythos und der Analyse von Mythos, kritisiert jedoch letztlich die Kurzschlüssigkeit der Mythenkritik und der Arbeit am Mythos.

Man kann eben auch von beiden Seiten vom Pferd fallen. Der Versuch, einen Mythos zu dekonstruieren, dekonstruiert ironischerweise nur den Dekonstrukteur. Wollte man Hasselhorn kritisieren, dann für die Zurückhaltung in der Darstellung der Scharaden von Foucault und Barthes, der, als er vom Tod des Autors schrieb, nur seinen eigenen Tod als Autor gemeint haben kann.

Die Seinsweise von Mythos entsteht einzig und allein in seiner Wirkung. Wenn es aber so ist, wenn der Mythos nur dann ist, wenn er wirkt, stellt sich die Frage, warum wirkt er, wie wirkt er? Deshalb interessiert auch Hasselhorn nicht die Frage, „ob und inwiefern Geschichtsmythen der historischen Wirklichkeit entsprechen.“ Es wäre überdies ein Kategorienfehler, die falsche Frage, denn Mythen, die der „historischen Wirklichkeit entsprechen“, sind keine Mythen, sondern Comics, zumal der Mythos nicht nach der Wirklichkeit, sondern nach der Wahrheit fragt.

Hasselhorn untersucht, belegt und erzählt, wie ein Geschichtsmythos entsteht, ob ein Muster für Geschichtsmythen existiert, nach dem sie alle gebaut sind. Wann wird ein „Mythos“ zum Mythos, d.h. welche Voraussetzungen müssen vorliegen, damit diese große Geschichte von einer Gruppe, einer Gesellschaft akzeptiert wird? Können Mythen verschwinden, und wenn ja können sie umgebaut, umfunktionalisiert werden? Ist die Geschichtswissenschaft gegenüber Geschichtsmythen machtlos?

Am konkreten Beispiel, an konkreten Mythen zeigt Hasselhorn kenntnisreich, so unterhaltsam wie lehrreich, wie Mythen entstehen, berichtet er von Typen von Mythen, von umkämpften, von heißen und von kalten Mythen, denn da Geschichte in Geschichten erzählt werden muss, erzählt Hasselhorn detailreich, aber nicht detailverliebt.

Am Schluss des Buches zieht Hasselhorn das Fazit: „Kernaufgabe der Geschichtsmythenforschung ist weder, Mythen zu affirmieren noch zu dekonstruieren, sondern Geschichtsmythen zu erforschen: was sie sind, was sie tun, wie sie entstehen, wie sie sich wandeln und wie sie wieder verschwinden.“ Dass sein Buch dafür die „notwendigen Werkzeuge bereitstellt“, kann man dem Autor mit einem Lächeln um die Mundwinkel attestieren.

Doch das Ende eines jeden guten, eines jeden lesenswerten Buches ist zugleich der Anfang eines neuen Buchs. „Geschichtsmythen werden kaum verschwinden, solange sich Menschen für Geschichte interessieren.“ Hinter dieser optimistischen Botschaft steckt natürlich die Frage, ob sich Menschen noch für Geschichte interessieren, ob wir nicht im Terror der Gegenwart, im unaufhörlichen Hagel von Social Media Attraktionen, in dem nur gilt, was gerade geschieht, die Geschichte verlieren, jeder Mensch nur der Mythos seiner selbst. Monade statt Mythos.

Benjamin Hasselhorn, Geschichtsmythen. Die Macht historischer Erzählungen. Europa Verlag, Hardcover, 384 Seiten, 32,00 €


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