Eine Dynamik, der man sich kaum entziehen kann: »Krieg und Frieden«

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine weckt Erinnerungen an eines der berühmtesten Werke der russischen Literaturgeschichte. Doch von der patriotischen Stimmung in Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ ist in Putins Reich wenig zu spüren. Es lohnt sich, das Mammutwerk zu lesen.

Einer der bedeutendsten Romane der Weltliteratur hat einen neuen Namen: Seit Putins Überfall auf die Ukraine kursieren in Russlands sozialen Medien Bilder, die den Umschlag von Leo Tolstois Epos „Krieg und Frieden“ zeigen. Das Wort „Krieg“ ist darauf durchgestrichen und durch den Begriff „Spezialoperation“ ersetzt.

Auf diese Weise machten sich die User über das Verbot der russischen Regierung lustig, den Einmarsch in die Ukraine als Krieg zu bezeichnen. Obwohl Russlands Präsident im September eine Mobilmachung anordnete und das Nachbarland seit Monaten mit Bomben- und Raketenangriffen überzieht, dürfen die gleichgeschalteten Medien den Angriff weiterhin nur als militärische „Spezialoperation“ bezeichnen.

Zum Krieg haben die meisten Russen nämlich ein äußerst emotionales Verhältnis. Jedes Jahr am 9. Mai erinnern Umzüge und Paraden an den „Großen Vaterländischen Krieg“, wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird. Praktisch jede Familie hat Tote oder in Zwangsarbeit Verschleppte zu beklagen, deren Fotos bei den Gedenkveranstaltungen hochgehalten werden. Auch zu Sowjetzeiten stand die Erhaltung des Friedens jahrzehntelang im Mittelpunkt der Propaganda. Noch vor einem Jahr erschien den meisten Russen deshalb ein Krieg gegen das ukrainische „Brudervolk“ unvorstellbar.

In Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ war die Situation deutlich anders. Er spielt in der Zeit der Napoleonischen Kriege, als französische Truppen in Russland einmarschierten. Die männliche Bevölkerung floh damals nicht in Scharen ins Ausland, sondern unterstützte voller Patriotismus den Zaren im Krieg gegen die Eindringlinge. Gleichwohl zeigte die russische Armee schon damals Schwächen, die an die Schwierigkeiten erinnern, die sie derzeit in der Ukraine hat.

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Wer Tolstois wichtigstes Werk zur Hand nimmt, muss viel Zeit mitbringen. Die preisgekrönte Neuübersetzung von Barbara Conrad umfasst 2288 Seiten. Rund 250 Personen tauchen darin auf, die mal mit Vor-, mal mit Nachnamen vorgestellt werden, sodass man leicht den Überblick verliert (eine Übersicht der wichtigsten Personen im Anhang hilft dabei). Zudem ist der Roman von kurzen französischen Gesprächen durchzogen, womit Tolstoi die damalige Sitte in höheren russischen Kreisen auf die Schippe nimmt, auf Französisch zu kommunizieren. Belohnt wird der Leser dafür nicht nur mit einer höchst anschaulichen Schilderung dramatischer historischer Ereignisse, sondern auch mit einem tiefen Einblick in das Russland des frühen 19. Jahrhunderts.

Der Roman beginnt im Jahr 1805, als sich Russland mit England, Österreich und Schweden gegen Frankreich verbündete. Der militärisch begabte junge General Napoleon Bonaparte, der sich selbst zum Kaiser der Franzosen gekrönt hatte, brachte damals mit revolutionären Ideen und einer neuen Form der Kriegsführung halb Europa unter seine Kontrolle. Auch Russland erlitt gegen ihn schwere militärische Niederlagen, sodass es 1807 den Frieden von Tilsit schloss, der Europa in eine französische und eine russische Interessensphäre aufteilte.

Trauma durch Einmarsch

Gleichwohl marschierte Napoleon fünf Jahre später mit mehr als 600.000 Soldaten in das Zarenreich ein – ein Trauma, das mit dem Angriff der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg vergleichbar ist. Obwohl die Franzosen bis nach Moskau kamen, das damals durch einen Brand mit Tausenden Toten weitgehend zerstört wurde, endete der Feldzug mit einer der größten militärischen Katastrophen der Geschichte: Der einbrechende Winter, der Mangel an Nahrung und russische Guerillaattacken sorgten dafür, dass die „Grande Armée“ fast vollständig aufgerieben wurde.

Diese dramatischen Ereignisse lässt Tolstoi wieder aufleben, indem er im Stil des Realismus den militärischen Alltag und die wichtigsten Schlachten schildert. Das einfache Soldatenleben wird dabei ebenso anschaulich wie das Verhalten der Offiziere und Heerführer im Kampf oder bei Lagebesprechungen. Zitate aus zeitgenössischen Briefen, Dokumenten und Berichten verleihen der Darstellung zusätzliche Authentizität.

Auch die großen handelnden Personen dieser Zeit wie Napoleon, Zar Alexander oder Generalfeldmarschall Fürst Michail Kutusow, der 1812 den Oberbefehl über die russischen Truppen bekam, treten auf. Allein der blutigen Schlacht von Borodino, bei der rund 100 Kilometer westlich von Moskau etwa 80000 Menschen ums Leben kamen, widmet Tolstoi über 100 Seiten. Die ungeschönte Abbildung der Kriegsrealität macht sein Werk unerwartet aktuell.

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Im scharfen Kontrast dazu steht – wie heute – das friedliche Leben der russischen Oberschicht. Die eigentliche Handlung des Romans bildet nämlich das vielfach miteinander verwobene Leben dreier russischer Adelsfamilien. Liebe und Freundschaft, Berechnung und Intrigen bestimmen die Beziehungen zwischen den handelnden Personen und verleihen dem Roman eine Dynamik, der man sich nur schwer entziehen kann.

Tolstoi beschreibt dabei ausführlich den Alltag der damaligen Oberschicht: Empfänge und Familienfeste, Geburten und Sterbeszenen, Jagden und Schlittenfahrten, Gespräche mit korrupten Verwaltern und mit Adligen, die fasziniert sind von den neuen politischen Ideen aus Frankreich. Das opulente höfische Leben in Moskau und Sankt Petersburg wird dadurch ebenso lebendig wie das eintönige Dasein auf den entlegenen Landgütern im zaristischen Russland, wo selbst Idealisten wie Tolstoi mit demokratischen Reformen scheiterten.

Tolstoi, der sich ab dem dritten Band als Erzähler immer häufiger selbst zu Wort meldet, demontiert in seinem Roman aber vor allem die bis dahin übliche Darstellung des Krieges als Werk großer Helden. Stattdessen schildert er den Verlauf der Geschichte als Schicksal, auf das die Protagonisten kaum Einfluss haben. Zugleich rückt er die Suche des Einzelnen nach Glück und Verwirklichung ethischer Ideale in den Mittelpunkt. Vor allem aber lässt er keinen Zweifel daran, mit wie viel Leid der Krieg verbunden ist.

Eine Schlüsselszene dafür findet sich gleich im ersten Teil des Buches. Der junge Student Nikolai Rostow, der aus Begeisterung für den Krieg zur Armee gegangen ist, bemerkt während eines Angriffs der Franzosen, wie ein Husar neben ihm zusammensinkt. Plötzlich wird ihm bewusst, wie schön der Himmel ist, wie hell und feierlich die untergehende Sonne, wie freundlich-glänzend das Wasser der Donau. „Noch einen Augenblick – und ich sehe vielleicht diese Sonne, dieses Wasser und diese Schluchten nie wieder“, fährt es ihm durch den Kopf. Und voller Angst, dass sein junges Leben schon zu Ende gehen könnte, flüstert er: „Herr Gott, der du im Himmel bist, errette mich, vergib mir und beschütze mich.“

Unterwerfung statt Verteidigung

Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass es den jungen russischen Soldaten in der Ukraine derzeit nicht anders geht. Doch im Unterschied zu den Russlandfeldzügen Napoleons und Hitlers geht es diesmal nicht um die Verteidigung des Vaterlands gegen einen fremden Angreifer, sondern um die fixe Idee Putins und seiner Entourage, ein nach Unabhängigkeit strebendes Nachbarland zu unterwerfen.

Viele Russen, vor allem wenn sie nicht mehr im geschützten Moskau, sondern an der Front in der Ukraine sind, bezweifeln längst, dass dieser Krieg gerechtfertigt ist. In Tolstois Roman finden sie dafür gute Argumente. Manche Sätze sind dabei von erschreckender Aktualität – zum Beispiel, wie die Tochter des Fürsten Bolkonski über die Aushebung von Rekruten in ihrem Dorf berichtet. „Es war entsetzlich, den Zustand der Mütter und Kinder dieser Leute mit anzusehen und das Schluchzen der einen wie der anderen zu hören“, notiert sie in einem Brief und fährt fort: „Man möchte sagen, die Menschheit habe die Gesetze ihres göttlichen Erlösers vergessen, der die Liebe gepredigt und Beleidigungen zu verzeihen geboten hat. Denn es scheint, als sähen die Menschen die Kunst, einander zu morden, jetzt als größtes und hauptsächliches Verdienst an.“

Lew Tolstoi, Krieg und Frieden. Roman. In der mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Neuübersetzung von Barbara Conrad. dtv, zweibändige Taschenbuchausgabe im Schmuckschuber, 2288 Seiten, 35,- €.


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Kommentare ( 14 )

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14 Comments
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Wolfgang Schuckmann
1 Jahr her

Die Besprechung des Buches auf der einen Seite und die Suche nach Motiven für die Handlungen der politischen Figuren der damaligen Zeit und der daraus Resultierenden ist schon interessant. Dort wo der russische junge Soldat das Erlebnis mit dem Tod seines Kameraden hat, sieht man also die Donau. ( Könnte die Drei Kaiserschlacht gewesen sein, Austerlitz) Da fragt man sich was er zu jener Zeit dort zu tun hatte, außer die Großmachtansprüche seines Zaren gegen Napoleon zu verteidigen. Ging gründlich daneben wie man weiß. Aber, das setze ich einfach voraus, daß man das weiß, dass es heute in der Ukraine… Mehr

Der Person
1 Jahr her

„…dürfen die gleichgeschalteten Medien den Angriff weiterhin nur als militärische „Spezialoperation“ bezeichnen.“ „War on terror“, „Operation enduring freedom“, „Afghanistan-Einsatz“, „Deutschland wird am Hindukusch verteidigt“, „Internationaler Militäreinsatz in Lybien“, „Bundeswehreinsatz in Syrien“…der Werte-Westen hat seine völkerrechtswidrigen Angriffs-, Zerstörungs- und Besetzungskriege auch nie als solche benannt. Erschreckend ist eher, dass es bei uns noch nicht einmal einer Drohung seitens der Regierungen bedarf, damit die Medien diese Wahrheiten vertuschten bzw. dies immer noch tun. Wobei ´unsere´ Gleichschaltung ja sogar ganz offen eingestanden wird: „Our ability to shape world opinion helped isolate Russia right away.“ POTUS Obama, 28.05.2014. Den Begriff „Spezialoperation“ sehe ich persönlich… Mehr

Georg J
1 Jahr her

„Doch im Unterschied zu den Russlandfeldzügen Napoleons und Hitlers geht es diesmal nicht um die Verteidigung des Vaterlands gegen einen fremden Angreifer, sondern um die fixe Idee Putins und seiner Entourage, ein nach Unabhängigkeit strebendes Nachbarland zu unterwerfen.“
Sind Sie sich da wirklich so sicher? Wollen nicht vielmehr die Bewohner des Donbas einfach nur Unabhängigkeit von der Regierung in Kiew?

Innere Unruhe
1 Jahr her

Auch „Das Hundeherz“ von Michail Bulgakow ist sehr empfehlenswert.
Ganz besonders schön sind dort die Kommunisten dargestelt.
Das Buch ist heute aktueller den je.

Maunzz
1 Jahr her

„Wo enden die Grenzen Russlands?” fragt Wladimir Putin einen neunjährigen Jungen. Die Antwort des kleinen Geographen lautete: „An der Beringstraße.” Putin entgegnet: „Die Grenzen Russlands enden nirgendwo!“ (November 2016 bei der Preisverleihung der Russischen Geographischen Gesellschaft).

Kassandra
1 Jahr her
Antworten an  Maunzz

Die Grenzen sind für deutsche Politiker ja auch längst inexistent!
Überall sind sie dabei, sich verbal, mit erhobenem Zeigefinger, einzumischen – und mit Geld und Waffen die Welt nach ihrem Gusto zu gestalten. Nicht schön, das.
Wobei das eigene Land ja bereits bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet ist – und kein Ende in Sicht!

Roland Mueller
1 Jahr her

Die Anzahl der Russen, welche sich über Putin lustig machen, ist ziemlich überschaubar. Die Anzahl der Russen, welche sich schwarz darüber geärgert haben, dass er seine Landsleute im Donbass acht Jahre lang auf Hilfe gegen den von der NATO unterstützen ukrainischen Terror von Poroschenko und Selenskyj hat warten lassen, ist dagegen sehr zahlreich.

nomsm
1 Jahr her
Antworten an  Roland Mueller

Deshalb sind ja auch Hunderttausende ins Ausland geflohen. Und Russlands heldenhafte Armee hat freiwillige in Gefängnissen rekrutiert, Mörder und Vergewaltiger. Das passt ja auch irgendwie zum Zustand.

Innere Unruhe
1 Jahr her
Antworten an  Roland Mueller

Woher haben Sie die Information, wie viele Russen, sich über Putin lustig machen? Was haben Sie geschrieben, als die Aghanen gen DE „geflohen“ sind. Wie hoch war die Anzahl der Afghanen, die in der afghanischen Armee gedient, die westlichen Soldaten unterstützt haben? Wie man jetzt liest, kommt es einem vor, als wäre es mindestens jeder zweite gewesen. Warum ist also Afghanistan gefallen? Es sei auch gesagt, dass sich unter „Russen“ ethliche Ethnien befinden. Auch Ukrainer sind unter russischen Bürgern zu finden. Es ärgert mich maßlos, dass hier keine Unterscheidung zwischen den ethnischen Russen und den russischen Staatsbürgern stattfindet. Tschetschenen sind… Mehr

RMPetersen
1 Jahr her

Zu: „… geht es diesmal nicht um die Verteidigung des Vaterlands …“ Kann man so sehen oder anders. Diesen Krieg um Krim und östliche, russisch-orientierte Donbas-Provinzen als „fixe Idee Putins“ abzutun erscheint mir ein wenig unterkomplex. Es gibt eine Vorgeschichte mit Putsch 2014, Aufstand in drei Provinzen durch Separatisten wegen Nicht-Einverstanden-Sein mit dem Schwenk zum Westen und den Schikane-Maßnahmen gegen Sprache, Kultur und Oppositionspolitikern. Ich empfehle, zu Letzterem die Artikel in Spiegel, SZ, FAZ etc aus der Zeit nach 2014 zu lesen, dazu auch die Einschätzungen der Rolle des heutigen Helden-Präsidenten als Marionette von Oligarchen. Der Angriff der Russen vom… Mehr

nomsm
1 Jahr her
Antworten an  RMPetersen

Weil in Moskau so viele hinter stehen, hebt er seine Truppen nicht dort aus, sondern in den entferntesten und ärmsten Regionen. Sind sie wirklich so ein Narr?

Kassandra
1 Jahr her

Danke für die Buchkritik – im ersten Ansatz habe ich es vor Jahren nicht geschafft, bis zum Ende zu lesen, denn, wie Sie beschreiben, einfach ist es nicht. Hinsichtlich des Konflikte um die Ukraine, der mit dem, was Tolstoi beschreibt, wenig zu tun hat, außer dass Russen beteiligt sind, war die Sprachregelung im Mai 2025 eine ganz andere, als ein gewisser Habeck dort eine „Frontlinie!!!!“, mit Stahlhelm und Schutzweste ausgestattet, besuchte. 9 Monate vor dem Eingriff der russischen Armee wird berichtet, dass der innerukrainische Konflikt da bereits 7 Jahre Tote und Verletzte forderte, wie Schäden an Hab und Gut –… Mehr

reiner
1 Jahr her

Sämtliche Autoren vergessen anscheinend die Vorgeschichte zu diesem Krieg. Was geschah denn 2014 in der Ukraine besonders in Kiew? Ein Putsch der USA mit 5 Milliarden Euro finanziert. 14.000 Tote im Donbass seit 2014 durch Beschuss der Ukraine. Der Pakt der USA mit der Ukraine zeigt doch seit 2018 dass man gar nicht gewillt ist dort Frieden herrschen zu lassen.

nomsm
1 Jahr her
Antworten an  reiner

Die nächste Propaganda. Zunächst einmal ist Selensky gewählt und nicht geputscht worden, im Gegensatz zu den donbass—Milizführern, wobei Russlands Geheimdienst ein Teil dieser später einfach entsorgt hat. Die 14.000 Toten sind mitnichten durch alleinigen ukrainischen Beschuss zurückzuführen. Ich empfehle die OSZE—Berichte richtig zu lesen und nicht auf russische Propaganda a la Röper .