Die lieben Schicksen

Einfühlsam und unsentimental erzählt Rafael Seligmann im dritten Teil seiner Familiensaga von der Suche nach der verlorenen Heimat des Vaters und zugleich ein Stück Zeitgeschichte aus einem Deutschland, in dem die Verantwortung für die Vergangenheit noch kaum im öffentlichen Bewusstsein verankert war.

Können Antisemiten komisch sein? Darf man über ihren bösen Wahn lachen? Dieser Roman macht es unvermeidlich. Es ist natürlich ein Lachen, das schmerzt. Antisemiten sind lächerlich, in ihrer Lächerlichkeit immer noch gefährlich und unausrottbar (Vorsicht bei der Wortwahl!), wenn auch nicht mehr unbezwingbar.

Sie halten ihren Hass an der Leine, und verraten sich doch ständig. Etwa, wenn Rafis Volksschullehrer lobt: „Du kannst gut rechnen, wie sich’s für einen Judenbub gehört.“  Leider, und das ist ein Erzählstrang dieser traurig-komischen Familiensaga, kann Vater Ludwig vieles, nur Rechnen kann er nicht. Seine „Freunde“ dagegen benehmen sich nicht selten wie Karikaturen von Juden, von denen Antisemiten träumen. Im „guten“ Deutschen spiegelt sich der „hässliche“ Jude. Ist das komisch? Es ist leider normal.

Der kleine Rafi wird verprügelt. Er verpetzt die Quälgeister. Doch Petzer werden gehasst, „in Israel und sicher auch hier.“ Seligmann zeigt die Normalität, der er misstraut. In einem Land, in dem Judesein niemals mehr normal sein kann. Der Holocaust ist vorbei, Antisemiten sind noch genügend da. Aber dieses Thema erschlägt nicht die andere Normalität, nach der sich Rafi so sehr sehnt. Es ist auch und vor allem eine wunderbare Coming-of-Age-Geschichte, bei der sich Seligmann selbst und die Seinen ziemlich schonungslos porträtiert. Genau das macht autofiktionale Literatur, wie sie gerade im Trend ist, so bezwingend. Und deshalb beschreibt Seligmann in seinen Büchern das deutsch-jüdische Dilemma niemals zäh oder larmoyant oder einseitig.

Antizionismus ist weit mehr als Israelkritik
Israel, Orthodoxie oder das jüdische Nichts
Was das Erwachen der Sexualität angeht, lässt der Judenbub nichts Normales aus. Nur ist nicht einmal das normal. Vor nichts hat seine Mutter mehr Angst als davor, dass er einer blonden Schickse in die Arme fällt. Die große Liebe heißt Muckl, die ihn von vielem erlöst, nur nicht von dieser verdammten Normalität. Rafis Mutter kann sie nicht ausstehen. „Meine Geschwister sind von Deutschen vergast worden. Von Leuten wie Ihre Eltern!“ Muckl ist unerwünscht. Hannah: „Wie rufen die Polizei, wenn diese Person nicht augenblicklich unsere Wohnung verlässt.“ Darauf Rafi zu seiner jüdischen Mutter: „Am besten ihr ruft die Gestapo, mit der habt ihr schon Erfahrung.“ Doch die grotesk verdrehte Szene ist noch nicht zu Ende. Muckls Eltern wiederum wollen ihre Tochter nicht mit einem Juden sehen. „Das ist Rassenschande!“ giftet die Mutter. „Bleib! Wenn wir uns trennen, haben die Alten ihr Ziel erreicht“, trifft Rafi ins Schwarze.

Die Seligmanns sind seit Jahrhunderten in bayerisch Schwaben zuhause. Aus dem Ersten Weltkrieg kommt Großvater Isaak traumatisiert von der Front. Die Familie verliert ihr Vermögen. Sein Sohn Ludwig muss das Gymnasium verlassen, schlägt sich als kleiner Textilhändler durch. Noch gilt er etwas in Ichenhausen, vor allem als Fußballspieler: „Lauf, Ludwig, Lauf“, feuern ihn die Mitbürger auf dem Platz an. Aber der Satz, es ist der Titel der ersten Bands der Trilogie, klingt bald ganz anders. Schau, dass du verschwindest! Es braut sich etwas zusammen.

Ludwig und seine Frau, beide gläubige Juden, verlassen bereits 1933 ihre Heimat. landen auf der Flucht vor den Nazis in Palästina. Nicht alle Mitglieder der Familie entgehen den Mördern. Hannah und Ludwig, so der Titel des zweiten Bands, finden keineswegs ihr gelobtes Land. Der Vater scheitert als Geschäftsmann, die Mutter verträgt das Klima nicht. Rafael kommt 1947 in Tel Aviv zur Welt. Die Eltern zieht es 1957 zurück in die Heimat, nach Bayern. 1957 ist es soweit.

Heimatlos in Tel Aviv
„Man kann die Heimat nicht wie ein gebrauchtes Hemd wechseln“
Hier setzt der dritte Teil ein: Rafi, Judenbub. Aber die Stimmen der Eltern sind nun nicht mehr entscheidend. Rafi erzählt größtenteils von sich selbst. Aber auch vom abermaligen Scheitern seines Vaters, des „Hausierers“ Ludwig, von der hysterischen, ihm die Luft abschnürenden Angst der Mutter Hannah. Davon, dass ihm der Umzug nach Deutschland nicht gut bekommt. Dem verträumten, fröhlichen Kind geht der Lebensmut verloren, er bleibt in der Mittelschule sitzen, „richtet“ Fernseher. „So vertat ich mein Leben in Werkstatt und Schule“. Am liebsten würde er wieder nach Israel auswandern und sich zum Militär melden. Seine Mutter sorgt mit einer ruchlos inszenierten Intrige dafür, dass er dort als untauglich gilt.

Erst auf dem mühsamen zweiten Bildungsweg, im Münchenkolleg, fühlt er sich wohl – unter Kindern von Arbeitern und Kleinbürgern. Alle versuchen nach oben zu klettern. „Erstmals in Deutschland erlebte ich ein Dasein ohne versteckten oder offenen Antisemitismus.“ Aus dem Lehrling wird ein Historiker. Auch das ist nicht ohne tragische Komik: Sein erster Doktorvater lässt ihn auflaufen, weil sich Rafi weigert, über die „Endlösung der Judenfrage“ zu forschen. Wenn er eines nicht will, dann das! Auch so verrät sich versteckter Antisemitismus. Er wird über Israels Yom-Kippur-Krieg promovieren.

Seligmann begnügt sich nicht mir der festen Anstellung an der Universität, schlägt die akademische Karriere aus. Er wird freier Journalist, gründet die Zeitung Jewish Voice from Germany, eine englischsprachige Brücke zwischen Deutschland und den Juden in aller Welt; als Public Intellectual ist er überall präsent. Und er schreibt neben einigen historischen Sachbüchern nicht weniger als elf Romane.

Auch Rafi, Judenbub ist ein Roman und keine Autobiografie. Der Autor kommentiert nicht, sondern besticht mit pointierten Szenen, Dialogen, lakonisch erzählten Ereignissen und einem Zeitpanorama der Bonner Republik.

Ludwig, der Vater, verliebt sich auf seine alten Tage noch einmal. In die Witwe eines Freundes, eine Schickse! Ausgerechnet sein Sohn, der es besser wissen müsste, spielt sich in diesem doch eigentlich furchtbar normalem Ehedrama als Verteidiger seiner Mutter auf; er sagt Bettina, sie solle verschwinden. Ludwig überlebt die Affäre nicht. Herzinfarkt.

So endet 1975 die anrührende Roman-Trilogie. Sie ist auch eine Wiedergutmachung (Vorsicht bei der Wortwahl!) des Sohnes an seinem so liebenswert schwäbelnden, feinfühligen, an den Umständen jüdischer „Normalität“ gescheiterten Vater.

Rafael Seligmann, Rafi, Judenbub. Die Rückkehr der Seligmanns nach Deutschland. Langen Müller, Hardcover mit Schutzumschlag, 400 Seiten, 25,00 €.


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