„Man kann die Heimat nicht wie ein gebrauchtes Hemd wechseln“

Dieser Teil der Familiengeschichte der Seligmanns erzählt von ihrer Auswanderung nach Palästina und späteren Rückkehr nach Deutschland. Es ist ein fehlendes Kapitel im deutschen Geschichtsbuch, das hier ergänzt wird.

Rafael Seligmann ist ein feinfühliger, aber wortgewaltiger und mit seinen leisen Worten eindringlicher Autor. Als Kind deutscher Eltern in Tel Aviv 1947 geboren, kehrt er 1957 mit seinen vor den Nazis geflüchteten Eltern wieder zurück in deren deutsche Heimat. Es ist eine Erfolgslaufbahn. Seine beruflichen Stationen und Leistungen lesen sich beeindruckend; kaum eine große deutsche Zeitung oder ein Magazin, für das er nicht geschrieben hätte, Fernsehauftritte, wissenschaftliche Publikationen, Lehraufträge und Romane – ein gewaltiges Werk. Er schreibt den Roman „Der Musterjude“, über einen jüdischen Jeansverkäufer, der zum gefeierten Chefredakteur und Medienstar wird, ehe er doch wieder bei Mamme im Shop scheitert. Seligmann schreibt an den Nahtstellen entlang, wo der Schmerz aufreißt und der Fanatismus aufplatzt wie Eiterbeulen, er schont keinen, den Leser nicht und sich selbst schon gar nicht: Über das deutsch-jüdische Verhältnis schreibt er: „Da braucht es viel Verständnis, aber auch Streit – Streit wie in der Judenschule„.

Seligmann gründet zwei jüdische Zeitungen in Deutschland, zuletzt „The Jewish Voice of Germany“. Was für ein Anspruch, im angelsächsischen Raum den deutschen Juden wieder Stimme zu verleihen; selbstbewusst und Nichts ist mehr dazu angetan, Versöhnung zu dokumentieren. An genau der Stelle scheitert Seligmann.

Wirtschaftlich, weil das deutsch-jüdische Verhältnis längst zur Sonntagsrede herabgesunken ist. Das Auswärtige Amt blamiert sich mit fehlender Unterstützung für das ehrgeizige Projekt, das nun wirklich ein anderes Bild Deutschlands hätte vermitteln können. Persönlich erlebt Seligmann als Nackenschlag, dass ihn der damalige Außenminister wieder als Vertreter Israels anspricht. Dabei ist er doch Deutscher. Dieses falsche Wort eines Mannes, der vermutlich schon als Dorfbürgermeister moralisch überfordert wäre und seine grandiose Fehlbesetzung im Schloss Bellevue zelebriert wie ein Zwerg in der Höhle der Riesen, trifft Seligmann. Nach dieser neuerlichen, geistigen Ausbürgerung beantragt er für sich und seine deutsche Frau die israelische Staatsbürgerschaft, kehrt zeitweise zurück nach Tel Aviv, der Stadt, die in der Familiengeschichte der Seligmanns den Wendepunkt zeigt. Und antwortet mit einer Romantrilogie, deren erster Band den Titel „Lauf, Ludwig, lauf!“ trägt.

Da geht es um die Kindheit und Jugend von Ludwig Seligmann im bayerischen Ichenhausen. Rafael Seligmann schildert das Leben einer wohl situierten Kaufmannsfamilie, Ludwig trainiert die Fußballmannschaft und singt im Chor, sein Vater ist ein mit Ehrungen ausgezeichneter Frontkämpfer des I. Weltkriegs und geachtetes Mitglied der Stadt an der Günz. Mit dem Aufstieg der Nazis ändert sich aber alles. Ein Teil des Volkes wird herausgerissen, Ludwig Seligmann zum Ausländer erklärt; wie später der Enkel durch einen gedankenlosen Versöhnungsdarsteller im höchsten Amt. Ludwig Seligmann und sein Bruder Hermann emigrieren nach Palästina.

In „Hannah und Ludwig“ erzählt Rafael Seligmann die Geschichte seiner Eltern aus deren beider Perspektive. Sie beginnt mit der Ankunft in Yafo, dem alten Hafen bei Tel Aviv. Ludwig und sein höchst ungleicher Bruder Heinrich Seligmann sind mit nur einem Koffer im Land der Rettung wie der Verheißung mit nur einem Koffer angekommen. Heinrich hält die Nazis nur für einen Spuk, der bald vorbei sein wird, weshalb er sich erst gar nicht einrichtet in dem Land, dessen Sprache – Hebräisch – er auch nicht lernt. Ludwig dagegen schwärmt von Anfang an von seiner neuen Heimat. Er hat seinen Platz gefunden, fühlt sich „hier wie neu geboren“ und tut alles dafür, die in Nazideutschland verbliebenen Eltern, seine Schwester Thea und den kleinen Bruder Kurt rasch nachzuholen. Aber es ist keine Idylle; politisch nicht, weil die Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern und der britischen Besatzungsmacht eskalieren und zum brutalen Krieg führen; wirtschaftlich nicht, weil zu viele Migranten um zu wenige Jobs konkurrieren.

Seligmann gelingt es geschickt, die persönliche Lebensgeschichte seines Vaters vor dem historischen Hintergrund zu entwickeln; es ist insoweit auch ein historisches Lehrstück, das die die Entwicklungen im Deutschen Reich spiegelt. Doch wie schlecht es ihnen auch immer gehen mag – die Juden in Palästina bangen um das Leben all derer, die in Europa geblieben waren. Auch das Klima, raue Umgangsformen, die Entwertung der bisherigen Biographien machen den Einwanderern zu schaffen.

Ludwig Seligmann, der es in Deutschland als Kaufmann schon weit gebracht hatte, arbeitet sich hoch vom Putzmann und Orangenpflücker zum Prokuristen eines florierenden Textilunternehmens. 1940 trifft er Hannah und heiratet sie. 1947 wird ihr Sohn Rafael geboren. 1948 bricht nach der Unabhängigkeitserklärung Israels der Krieg aus. Der löst bei Hannah Ängste und Traumata aus, die sie hoffte, mit ihrer Auswanderung in Deutschland zurückgelassen zu haben.

Überhaupt Deutschland – alles dreht sich in der neuen Heimat um die alte: „Damals begriff ich noch nicht, dass man die Heimat nicht wie ein gebrauchtes Hemd wechseln kann. Durch unsere vertraute Muttersprache und die Tradition waren wir unser Lebtag unentrinnbar mit Deutschland verbunden“, wird Ludwig zitiert. Es ist der Schlüsselsatz des Buches. Die Auswanderer schufen sich einen deutschen Mikrokosmos: Man heiratete untereinander, tauschte Rezepte aus, las im Kaffeehaus Gedichte von Heinrich Heine und beklagte sich darüber, dass in der Oper keine Stücke von Richard Wagner zur Aufführung kamen. Die liebevollen und blumigen Schilderungen des Lebens bis ins kleinste Detail sind eine der Stärken dieses Romans – die historische Folie der heutigen Hochhauskulisse eines High-Tech-Staates.

Der Autor lässt uns an den persönlichen Schicksalsschlägen teilhaben, die bei seinen Eltern die Sehnsucht nach der deutschen Heimat wieder wachsen lässt. Dem beruflichen Aufstieg folgt der Absturz, die Pleite eines eigenen Unternehmens. Ludwig Seligmanns bitteres Fazit: „Ich habe im jüdischen Land nicht bestanden, weil ich nicht stark genug gewesen bin.“ Ein schmerzhaftes Eingeständnis, aber auch der Gründungsmythos Israels. Die Familie geht 1957 erneut an Bord eines Schiffes, zurück in die alte Heimat, wo sie erneut eine Zukunft in zu finden hoffen.

Seligmann deutet damit auf den noch ausstehenden dritten Band seiner Familiengeschichte: deren Leben in Deutschland und sein eigenes Leben – gekennzeichnet von mutigen Projekten und großartigen publizistischen Erfolgen. Und doch: Neuerdings wird jüdisches Leben in Deutschland wieder in Frage gestellt. Erschreckenderweise von denen, die das Wort vom Antifaschismus ständig im Mund führen und das Gegenteil betreiben.

Rafael Seligmann, Hannah und Ludwig. Heimatlos in Tel Aviv. Roman. LangenMüller, 400 Seiten, 24,00 €.


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Kommentare ( 16 )

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Styrian
3 Jahre her

Genau das ist die Problematik in der sich deutsche Minderheiten im Banat und Siebenbürgen befinden. Von 1968 bis 1989 hat die Bundesrepublik Deutsche vom rumänischen Statt freigekauft damit diese in der Bundesrepublik aussiedeln dürfen um als Bürger im eigenen Staat leben können.1990 bis 1996 haben weitere 180 000 Deutsche in Panik das Banat und Siebenbürgen verlassen, haben eine zum Teil 900 Jährige bzw. 400 Jährige Geschichte hinter sich zu lassen. Die restlichen 100 000 die aufgrund persönliche Lebenssituation (meistens pflege von Angehörigen) den Aussiedlungswunsch hinausschieben mußten durften nach 1998 nicht mehr in die Bundesrepublik Aufnahme als Aussiedler finden. Diesmal kam die Blockade… Mehr

Boudicca
3 Jahre her

Die Doppelzüngigkeit mit der „Nie wieder“ gesagt wird, ist bis zum heutigen Tag symptomatisch und typisch deutsch. Die wenigsten Deutschen sind sich darüber im klaren, das der Holokaust etwas ist, das sie sich selbst und ihrem eigenen Volk angetan haben, ausgedehnt auf Europa und Nordafrika. Es waren ihre eigenen Verwandte, Nachbarn, Geschäftsfreunde, Arbeitgeber, Kollegen, Freunde, Ärzte, Künstler, Schriftsteller und so weiter, die sie eiskalt in den Tod geschickt haben. Sie haben sich selbst beraubt, und das aus den niederträchtigsten Gründen wie Neid, Missgunst, Habgier und das ohne völlige Empathie mit lustvoller Denunziation und gnadenlose Gewalt. Heute legen sie an den… Mehr

Hannibal ante portas
3 Jahre her
Antworten an  Boudicca

„Sie haben sich selbst beraubt, und das aus den niederträchtigsten Gründen wie Neid, Missgunst, Habgier und das ohne völlige Empathie mit lustvoller Denunziation und gnadenlose Gewalt.“ Wegen der gnadenlosen Gewalt in Bezug auf den Holocaust habe ich doch so meine Probleme: zumindest in den Vernichtungslagern, waren nur wenige tausend Deutsche direkt beteiligt an diesem unvorstellbaren Verbrechen. Das Schicksal der Juden war nicht das zentrale Thema der deutschen nichtjüdischen Bevölkerung während des Krieges, weder im Positiven ( leider zu wenige, die Juden halfen) noch im Negativen. Die planmäßige und totale Vernichtung der europäischen Juden wurde genau in dem Moment beschlossen, als… Mehr

Boudicca
3 Jahre her
Antworten an  Hannibal ante portas

Die „UNWISSENHEIT“ der Deutschen hinterher, ist tatsächlich berühmt berüchtigt.

Iso
3 Jahre her

Ich sage immer, Augen auf bei der Stimmabgabe. Man sollte keine Partei wählen, die dem Multikulturfaschismus huldigt, und bereit ist die eigene Heimat wie ein altes Hemd zu verschenken.

gast
3 Jahre her

Ich habe keine Heimat in einer Nation. Ich gehe hier nicht weg, weil meine Kinder hier leben. Wenn wir alle weg müssen, werden wir das tun.

Auswanderer
3 Jahre her

Ich habe während meiner verschiedenen Aufenthalte in den 80ern viele Juden in Israel kennengelernt. Diese Menschen waren so warmherzig. Wenn man jung war hatten die keine Probleme einen anzusprechen. Die wollten immer wissen was in der „Heimat“ noch so alles los ist. Wo kommst Du her?, wurde immer gefragt! Dann erzählten sie auch woher sie kamen. Die jungen Jusos kennen solche Menschen gar nicht! Menschen, die im KZ waren haben nie darüber gesprochen. Das Judentum gehört zu Deutschland, das ist eindeutig. Das hat auch Victor Orban sehr gut in seiner Antwort auf Soros – siehe anderen Tichy-Artikel – geschrieben. Der… Mehr

Hannibal ante portas
3 Jahre her

Sehr interessanter Artikel! Trotzdem muss ich hier ein wenig Wasser in den Wein gießen: „Rafael Seligmann schildert das Leben einer wohl situierten Kaufmannsfamilie, Ludwig trainiert die Fußballmannschaft und singt im Chor, sein Vater ist ein mit Ehrungen ausgezeichneter Frontkämpfer des I. Weltkriegs und geachtetes Mitglied der Stadt an der Günz. Mit dem Aufstieg der Nazis ändert sich aber alles.“   Diese Formulierungen, die man so oder so ähnlich des Öfteren liest, vermitteln den Eindruck, dass die Nazis den Antisemitismus erfunden hätten. Dem war natürlich nicht so. Antisemitismus gab es zu allen Zeiten und nicht nur in Deutschland, wenn auch in… Mehr

ilmstromer
3 Jahre her

Würde mich mal interessieren, wer der Außenminister war. Ich war übrigens 16 Jahre Dorfbürgermeister. Die sind oft fitter, als das Personal ganz oben.

Landdrost
3 Jahre her

Und wer hat sich in Deutschland seinen eigenen Mikrokosmos geschaffen der immer mehr zum Makrokosmus wird? Wann kehren die in ihre bzw. die Heimatländer ihrer Vorfahren zurück? Vielleicht wenn man ihnen endlich den Geldhahn zudreht.

Der-Michel
3 Jahre her

Auch Michael Wieck beschreibt in seinem Buch: „Zeugnis vom Untergang Königsberg. Ein „Geltungsjude“ berichtet“ den Verlust der Heimat. Offensichtlich können solche Menschgen wesentlich mehr mit dem Begriff der Heimat anfangen. Diese Menschen haben den Verlust erlebt.

Roland Winter
3 Jahre her

„Man kann die Heimat nicht wie ein gebrauchtes Hemd wechseln“
In der Tat Herr Tichy, schauen Sie sich das u.a. Video an. Oder würden Sie sich als «Flüchtlinge» phantasieren, Deutsche Polizisten zu erschießen? Und dann noch ein Video dazu drehen?
https://www.youtube.com/watch?v=aHHRN47EB0Q
YouTube scheint es zu gefallen. Ist ja nicht weg zensiert worden.

Lotus
3 Jahre her
Antworten an  Roland Winter

Herr Winter, dieser Flüchtling wehrt sich nur gegen den systemischen Rassismus in der dt. Polizei. Es ist das Narrativ, das auch die dt. Linksfaschisten immerzu verbreiten: Gewalt, die von ihnen ausgeht, ist grundsätzlich Notwehr gegen das „Schw…system“. Deshalb lässt YouTube diese Handlungsanweisung auch online. So lange es keine „rechten“ Inhalte sind, ist alles okay und von der Meinungsfreiheit gedeckt. Im Zweifelsfall wird es als Satire deklariert.