Auf der Suche nach Identität

In den 80er-Jahren schien die Apfelweinkultur in Frankfurt endgültig den Main runtergegangen zu sein. Doch Laszlo Trankovits machte sich auf die Suche nach Bembel und Äppler, Handkäs und Grüner Soße – und erlebte die erfolgreiche Rückkehr der Tradition in die Bankenmetropole

Der weit gereiste Journalist Laszlo Trankovits, der wahrscheinlich so gut wie alles in der Welt gesehen und beschrieben hat, ist nach vielen Jahren des aktiven Dienstes für die Nachrichtenagentur dpa in seine Wahlheimat Frankfurt zurückgekehrt und hat ein neues Thema für sich und seine Leser entdeckt: Er schrieb ein Buch oder vielmehr ein Kompendium über ein genuines Frankfurter Thema: den Apfelwein. Oder Äppelwoi, Äppler, Schoppe, Stöffche, wie er in der Frankfurter Gegend heißt, alles mit dem weichen mundartlichen p, das gerne auch wie ein b klingen darf. Über eineinhalb Jahre lang hat er in Frankfurt und Umgebung recherchiert, bis er die 111 Orte beisammen hatte, die schließlich in das gerade erschienene Buch Eingang gefunden haben.

Apfelweine gibt es viele, doch der herbe Frankfurter, gepresst aus den säurehaltigen (manche würden sagen: sauren) Früchten der Streuobstwiesen der Wetterau, des Taunus, der Rhön und des Spessarts ist einmalig in seiner Art. Entweder wird man von seinem Aroma und seiner Spritzigkeit sofort eingenommen, oder – wie so mancher Tourist bestätigen kann – man lässt für immer die Finger von ihm.

Der Frankfurter Apfelwein kommt nie allein, er bringt vielmehr sein Zubehör mit: das gerippte Glas, den grau-blauen Bembel und den Fichtenkranz vor dem Lokal, der einst den Steuereintreibern signalisierte: Hier gibt es etwas zu holen. Und dann das Essen, das zu diesem Wein gehört, nicht minder gewöhnungsbedürftig als das Getränk: Handkäs (ein magerer Sauermilchkäse) mit „Musik“ (mit Zwiebeln und Essig und allerlei anderem angemacht), Leiterchen, Rippchen, Haxe, Schäufele, Solber, mit Sauerkraut oder ohne, und natürlich die aus sieben Kräutern gefertigte Grüne Soße, die „Grie Soß“, deren Name als regionale Spezialität sogar geschützt ist. Wenn man will, kann man das alles zusammen als die Kultur des Frankfurter Apfelweins bezeichnen.

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Was bei der Lektüre des Buches sofort auffällt, ist die überwältigende Vielfalt der Lokale, von denen jedes auf seine Art anders, ja einmalig ist. Manche verstecken sich hinter den Hecken von Schrebergärten, andere breiten sich in begrünten Höfen aus, stehen unscheinbar in abgelegenen Straßen oder locken von Weitem sichtbar auf städtischen Plätzen. Wieder andere putzen sich für die Touristen heraus, verzichten aber trotzdem nicht auf die klassisch spartanische Einrichtung alter Apfelweinlokale: die Bänke entlang langer Tische, wo es fast unmöglich ist, das Gespräch mit dem Nachbarn oder dem Gegenüber zu vermeiden. So ist es kein Wunder, dass es in Apfelweinlokalen in der Regel hoch hergeht, bis man sein eigenes Wort nicht mehr versteht.

Apfelwein war seit seinen Anfängen das Getränk armer Leute. Heute noch liegen die meisten Lokale in den ärmeren Vierteln Frankfurts: in Bornheim, Seckbach und Alt-Sachsenhausen, wo die Häuser niedrig und schlicht sind, wo früher Handwerker, einfache Arbeiter, kleine Kaufleute wohnten. Die Geschichte des hessischen Apfelweins geht auf die große Verheerung des Dreißigjährigen Krieges zurück, als die verwüsteten Weinberge für längere Zeit keine Früchte trugen. Bier war teuer und schwer herzustellen, und so bot sich der Apfel als Ersatz für ein alkoholisches Getränk an.

Im Krieg war das Keltern verboten

Die dokumentierte Geschichte des Frankfurter Apfelweins beginnt im 18.  Jahrhundert. Wann genau, darüber streiten sich die Apfelweinforscher, Tatsache jedoch ist, dass um 1750 die Kelterei aus Äpfeln als Gewerbe anerkannt wurde. Ein „Heckenwirt“ aus Sachsenhausen soll 1754 den ersten „Ebbelwoi“ gezapft haben. Einen echten Aufschwung erlebte das Getränk im 19. Jahrhundert, als immer mehr Menschen aus dem Umland auf der Suche nach Arbeit in die Stadt strömten. Die aus dem Taunus, dem Spessart und anderen umliegenden Gebieten stammenden Neubürger – Arbeiter, Handwerker, Dienstboten – brachten die Tradition des Apfelweintrinkens mit in die Stadt. Anstelle der früheren Weingärten eröffneten immer mehr Wirte Heckenwirtschaften in den Gartengebieten, wo sie selbst gekelterten Wein häufig sogar in der eigenen Wohnstube ausschenkten.

So wie die Stadt Frankfurt wuchs, wuchs auch die Zahl der Apfelweinwirtschaften. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es schon zwölf Großkeltereien und zahllose Kleinhersteller und Apfelweinwirte. Das 20. Jahrhundert mit zwei Weltkriegen war keine gute Zeit für den Apfelwein. Die Äpfel brauchte man für die Volksernährung, der Wein wurde zu unnötigem Luxus erklärt. Während der nationalsozialistischen Diktatur passte er nicht in die deklarierte „Lebensordnung“, und während des Krieges durfte überhaupt kein Apfelwein gekeltert werden.

Nach dem Ende des Krieges wurde nur zögerlich mit dem Keltern begonnen, doch langsam wurde der Apfelwein wieder zum Teil der Alltagskultur. Aber die direkte Fortsetzung der alten Tradition war nur von kurzer Dauer. Das Milieu, für das der Apfelwein auf natürliche Weise zum Leben gehörte, begann um die 70er-Jahre herum zu verschwinden. Neue Moden, neue Ess- und Trinkgewohnheiten kamen in die Stadt, die Lokale wurden zu Pizzerien oder „Jugoslawen“, die Wirte wurden alt wie ihre Gäste, es gab kaum Nachfolger, und viele gaben auf.

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Die Globalisierung, der große Vernichter von Identitäten, hat seit den 70er-Jahren Frankfurt bis zur Unkenntlichkeit verändert. Die Damen und Herren aus den Bankentürmen im Stadtzentrum konnten eh kaum etwas mit der alten Stadt und ihrer sonderbaren Kultur anfangen. Das Publikum der alten Apfelweinwirtschaften schrumpfte und verschwand bald ganz. Die niedrigen Häuser von Alt-Sachsenhausen, Bornheim oder Seckbach, die sich heute zum Teil am Rande der Verslumung befinden, bevölkern keine Arbeiter und Handwerker mehr, sondern Zugewanderte aus aller Herren Länder.

30 Prozent der 758.574 Einwohner Frankfurts (2020) sind Ausländer, und noch einmal 24,1 Prozent sind Deutsche mit Migrationshintergrund. Das produzierende Gewerbe ist fast vollständig aus der Stadt verschwunden, dagegen wächst die Schar der Dienstleister und ganz besonders der in irgendeiner Form beim Staat, der Verwaltung, dem Bildungs- und Gesundheitswesen angestellten. Wie gründlich der alten Apfelweinkultur das Fundament weggebrochen ist, zeigt das fast vollendete Verschwinden des wunderschönen Frankfurter Dialekts unter den deutschen Einwohnern: Die einst dominierende Gesellschaftssprache spricht kaum einer unter 60, und bald wird es keiner mehr tun.

Die heutigen Kelterer, Lokalbesitzer und Apfelweinwirte gehören zu einem besonderen Menschenschlag. Sie sind fast ausnahmslos Enthusiasten, die nicht einfach einen Beruf, sondern ein ganz bestimmtes Bild von sich und der Welt im Kopf haben. Sie sind gerade deshalb Produzenten und Wirte geworden, weil sie eine Tradition erhalten wollen. Sie sind angetrieben von dem Wunsch, die Kultur des Apfelweins zu bewahren und, wo es geht, behutsam weiterzuentwickeln und den Vorstellungen und Ansprüchen der neuen Zeit anzupassen – um ihr Überleben zu sichern.

Dafür entwickeln sie neue Mischungen für den Wein mit Quitten, Mispel und Schlehe, um ihn milder zu machen, keltern edle Sekte, die sich mit den aus Reben gekelterten messen können. Auch die Speisekarten sind vielfältiger geworden, die alten Gerichte werden neu (leichter) interpretiert, etwa als „Handkäs-Carpaccio“ oder als „Coq au Apfelwein“, neue Varianten der Grünen Soße werden erfunden, und manche trauen sich sogar, Gerichte zu entwickeln wie „Falafel-Salat mit Mango Dressing“. In vielen Lokalen werden „Events“ veranstaltet, Jazz und Theater gespielt, Ausstellungen organisiert. Das Bemühen ist verständlich: Man muss mit der vielfältigen Konkurrenz einer Weltstadt wie Frankfurt mithalten.

Kult für die Fortschrittlichen

Neben den wenigen echten Eingeborenen sind viele Besucher von Apfelweinlokalen Suchende. Sie suchen – wie auch die meisten Wirte – nach einer Identität, einer Zugehörigkeit, die sie aus der Masse der „Einwohner“ hervorheben, ihnen einen Sinn geben, das Frankfurtersein mit Inhalt füllen könnte. Es ist frappierend, dass gerade unter den fortschrittlichen Intellektuellen, Journalisten, den internationalistisch gesinnten Staatsdienern des Nordends oder Bornheims das Trinken von Apfelwein (natürlich aus einer kleinen Kelterei) und der Besuch von Apfelweinwirtschaften Kult geworden ist. Mit dem aktuellen Politjargon könnte man sagen, sie sind Anywheres, die einen Weg suchen, Somewheres zu werden. Diese Gruppen stellen zwar nicht die Mehrheit der Besucher, aber als wichtige Meinungsformer tragen sie die Botschaft des Apfelweins in die Gesellschaft – und das offensichtlich mit Erfolg. Gerade sie werden Laszlo Trankovits’ Buch sicherlich mit großem Gewinn lesen, denn es bietet eine Bestandsaufnahme dessen, was war, was da ist und was im Werden begriffen ist. Es ist ein wichtiges Werk für all jene (auch Nicht-Frankfurter), die schon Teil dieser neuen Kultur sind, und auch für die, die es erst werden wollen.

Laszlo Trankovits, 111 Orte, rund um den Äppelwoi, die man gesehen haben muss. Emons, 240 Seiten, 16,95 €


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Kommentare ( 1 )

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country boy
2 Jahre her

Das Verschwinden der deutschen Dialekte, nicht nur des Frankfurters, geht den Granden der Germanistik am Allerwertesten vorbei. Die beschäftigen sich lieber mit den Neuen Deutschen Medienmachern.