Als sich Umberto Eco und Stephen King um Harry Potter sorgten

Warteschlangen mitten in der Nacht, als vor 15 Jahren „Harry Potter and the Deathly Hallows“ erschien. Für ein englischsprachiges Buch hatte und hat es so etwas in Deutschland noch nicht gegeben. Tausende Leser warteten auf die Auflösungen der Fragen, die Autorin JK Rowling offen gelassen hatte. Die Moral der Bücher ist heute aktueller denn je.

IMAGO / BRIGANI-ART
21.07.2007 - Harry Potter and the Deathly Hallows, im Berliner Kulturkaufhaus Dussmann

Harry Potter sitzt zu Hause. Er blutet. Aus zwei Wunden. Noch muss er ein paar Tage bis zu seinem 17. Geburtstag warten. Dann wird er sich auf eine Reise machen mit keinem geringeren Ziel, als das unsterbliche Böse zu besiegen. Die Wunden hat er sich beim Aufräumen seiner Sachen und beim Teetrinken zugezogen. Der Haushalt ist immer noch der gefährlichste Ort von allen. So beginnen „The Deathly Hallows“ – auf Deutsch „Die Heiligtümer des Todes“ -, der siebte und letzte Teil der Buchreihe um den Zauberschüler Harry Potter, die so ziemlich alle Rekorde gebrochen hat, die es in der Buchwelt gab.

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Doch jenseits der nackten Zahlen hat die Reihe etwas geschafft, was sich nicht messen lässt: ein Gemeinschaftsgefühl. Und eine Liebe zum Buch vermittelt an viele, die für Bücher längst verloren schienen. Das liegt an den Stärken der Autorin, JK Rowling. Im Beginn der Heiligtümer steckt schon viel drin: die Ironie, den potenziellen Retter der Welt an Scherben und Teetassen scheitern zu lassen. Oder das erzählerische Geschick Rowlings. Nichts ist in den Potter-Büchern zufällig. Alles spielt am Ende eine Rolle. Die Tasse steht für einen Sinneswandel, den Harry bald bei seinem Cousin Dudley erleben wird – und die Scherbe rettet ihm gut 300 Seiten später das Leben.

Was Rowling aber bis zur Unerträglichkeit gut beherrscht: Spannungsbögen aufbauen. Im Frühjahr 2007 spielt Facebook in Deutschland noch kaum eine Rolle. Die Leute versammeln sich stattdessen digital bei „Wer kennt wen?“ und im „Studi VZ“. Dort gibt es mehrere Fangruppen. Aber die Potter-Fans treffen sich auch in privaten Runden – organisiert oder zufällig, weil es sich im eigenen Freundeskreis halt ständig ergibt. Über Monate wird dort heiß diskutiert über Fragen wie: Ist Snape nur scheinbar ein Mörder und eigentlich ein Guter? Wer ist RAB? Kommen Ron und Hermine zusammen? Und die wichtigste Frage von allen: Überlebt Harry? Sogar Autoren der allerersten Liga wie Umberto Eco und Stephen King beschäftigen sich damit, bedrängen Rowling auf einem Podium, den Zauberschüler leben zu lassen.

Ob Rowling sich davon hat beeindrucken lassen? Vielleicht. Denn eigentlich, so verrät sie später in einem Interview, habe sie geplant, dass Harry sich gänzlich opfert und die Figur des Neville Longbottom die Aufgabe zu Ende bringt, das Böse zu besiegen. Leser spüren diese Sollbruchstelle. Die Neville-Lösung ist in den sechs Büchern davor angelegt; die Lösung hingegen, die Harry das Überleben ermöglicht, ruft Widersprüche hervor: Die „Deathly Hallows“ erscheinen in England um Mitternacht, in Deutschland ist es da Samstag, 1 Uhr. Die deutschsprachige Ausgabe folgt erst ein Vierteljahr später. Samstags gegen 22 Uhr treffen sich die Ersten im „Studi VZ“ in der Spoiler-Gruppe und stellen die Frage, die mindestens den Sonntag dominieren wird: Wieso hat Harry den erneuten Mordversuch von Lord Voldemort überlebt? Die Autorin mogelt sich ein wenig raus: Im Buch lässt sie ihr Alter Ego Albus Dumbledore sagen, Harry und Voldemort seien in Bereiche der Magie vorgedrungen, die noch nicht erkundet seien und sich daher schwer erklären ließen.

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Doch es ist wie mit dem Ende von Casablanca oder „Vom Winde verweht“, mit dem Finale von Wembley oder mit „Sitting on the dock of the bay“. Dass am Ende noch etwas offen, etwas unperfekt ist, mindert nicht das Vergnügen. Im Gegenteil. Es sorgt dafür, dass sich das Erlebte ins Bewusstsein derer gräbt, die es tief erlebt haben. Zumal allein der letzte Potter-Band vieles bietet, das bleibt, weil es lustig, spannend oder berührend – also schlicht, weil es schön erzählt ist: Snapes ewige Liebe für Harrys Mutter. Hermines Handtasche mit dem endlosen Volumen. Die zähe und anstrengende Suche der Helden oder das furiose Finale. Und der Elf Dobby, der sein Leben gibt, um frei zu sein und sich seinen größten Wunsch zu erfüllen.

Eingeordnet wird Harry Potter als Kinderbuch und als Fantasy. Doch schnell greift die Reihe über, findet Fans unter den Erwachsenen. Nicht nur unter den zahllosen, die sie ihren Kindern nachts vorlesen. Auch vereinen die Bücher mehr Genres als nur die Fantasy: Sie sind Internatsroman, Coming-of-Age-Geschichte und Krimi. Richtig guter Krimi. Weswegen die Spannung bis zum letzten Band so hoch bleibt. Sachliche Kritiker haben Rowling vorgeworfen, sie habe für die Potter-Bücher vieles zusammengeklaut. Aus der Luft gegriffen ist das nicht. Aber es lässt sich auch anders sehen.

In der Tat vereint die brutal belesene Rowling viele Mythen und Anekdoten, die es um die Zaubererwelt schon vorher gab, in ihrer Potter-Reihe: Die amerikanischen Hexen kommen aus Salem; Figuren wie Oger, Elfen oder Kobolde hat es schon in anderen Erzählungen gegeben, und das Motiv des Schülers, der sich mit seinem Lehrer duelliert, ist nun wirklich nicht mehr neu. Doch Rowling packt das alles in eine Welt – und da beginnt ihr schöpferisches Werk -, sie schafft einen Kosmos, in dem das alles einen Platz hat. Und in dem sich erklären lässt, warum es der jeweilige Platz ist.

Darin liegt die größte Stärke der Potter-Bücher: Alle Nebenfiguren leben. Keine tut etwas nur, weil es die Dramaturgie um die Hauptfiguren halt gerade erfordert. Das reicht bis in die Vorgeschichten zur Handlungsebene. Deswegen lassen und ließen sich aus den Nebensträngen ohne Weiteres eigene Reihen entwickeln wie etwa die „Phantastischen Tierwesen…“, die im Anschluss an die eigentlichen Potter-Bände zum Kinohit wurden. Als sie an den Büchern schrieb, betrieb Rowling eine Internetseite, auf der sie Handlungsstränge veröffentlichte, die es nicht in die eigentliche Erzählung schafften. Wer sie gelesen hat, fühlt sich zum Beispiel einfacher in Harrys ständigen Rivalen Draco ein.

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Rowling hat die Potter-Geschichte ersonnen als Reaktion auf die Krebs-Erkrankung ihrer Mutter. Der Umgang mit dem Tod ist daher ein wichtiges Thema – schon in der Vorgeschichte: Der Waise Tom Riddle ist genial, aber ohne Liebe und Eltern aufgewachsen. Er fürchtet den Tod. Deswegen spaltet er mit Morden seine Seele, um sich so mit einem bösen Zauber unsterblich zu machen. Er ist somit quasi unbesiegbar. Doch dann verkündet eine Prophezeiung, dass der Gegner geboren wird, der ihn besiegen kann. Es könnten Harry oder Neville sein. Riddle, der sich nun Lord Voldemort nennt, entscheidet sich für Harry. Er tötet dessen Eltern und verliert seine körperliche Existenz beim Versuch, auch den Einjährigen umzubringen. „Wir schaffen uns unsere größten Feinde immer selber.“

Es ist eine der Weisheiten, die Rowling ihren Alter Ego sagen lässt, den Schulleiter Albus Dumbledore. Er wird zum Mentor Harrys und der Leser. Wie sich später herausstellt, war er in jungen Jahren selbst der Versuchung des Bösen gefolgt und wurde erst durch den Totschlag an seiner Schwester geläutert. Nun ist er der Chef des Ordens, der gegen das Böse kämpft, und ein sokratischer Lehrer, der Weisheit nicht einhämmert, sondern der seine Schüler herausfordert und ihnen gerade so viel mitgibt, dass sie von sich aus und in sich den richtigen Weg finden. Damit sie auch charakterlich gefestigt genug sind, um sich dem Duell mit und der Herausforderung des Bösen zu stellen. Die lange und zähe Reise in den „Heiligtümern des Todes“ ist das beste Beispiel dafür.

Harry gewinnt das letzte Duell gegen Voldemort: weil er liebt. Weil er schützen will. Und weil er gelernt hat zuzuhören. Auch verachteten Kreaturen wie Elfen oder Werwölfen. Weil er Respekt hat auch vor dem, was er nicht versteht. Vor allem aber, weil seine Seele intakt geblieben ist. Bis zum Schluss töten Harry und seine Freunde nicht. Voldemort stirbt, da sein Todesfluch an dem Entwaffnungszauber Harrys abblockt. Harry indes muss den Tod nicht fürchten. 30 Seiten vorher haben die Leser erfahren, wie gut es einer, nämlich seiner intakten Seele ergeht, wenn sie den Körper verlässt – und wie eine geschändete Seele wie die Voldemorts leidet.

Die Potter-Reihe kennt drei zentrale Botschaften. Zwei davon lässt Rowling Dumbledore gleich im ersten Band sagen: „Wer sein Leben richtig geführt hat, für den ist der Tod nur ein weiterer Schritt nach vorne.“ Und: „Der größte Zauber von allen ist die Liebe.“ Im zweiten Band folgt: Es ist nicht unsere Herkunft, die uns ausmacht. Es sind auch nicht die Talente. „Es sind die Entscheidungen“: Dobby, der seinen Sklavenstatus abwirft, um frei und selbstbestimmt zu werden. Harrys Freunde, die sich weigern, sich dem unbesiegbaren Bösen zu unterwerfen und so den Sieg davon tragen. Und Harry, der sich fürs Beschützen entscheidet und dadurch letztlich Voldemort tötet. An sich abprallen lässt. Sich selbst töten lässt. Mut, Zusammenhalt und Eintreten für andere, selbst für die eigenen Feinde, sind Leitmotive des Handelns in der Potter-Reihe. Selbst in Todesgefahr rettet Harry etwa seinen Erzrivalen Draco. Was von Ron bissig und humorvoll kommentiert wird: „Wenn wir wegen dem sterben, bringe ich dich um.“

Wie alles, was glänzt, scharen sich auch um Rowling die Kritiker. Ihre Figuren seien zu weiß. Deswegen wurde Hermine zur Schwarzen umgedichtet, als ein künstlerisch wertloses Theaterstück als Fortsetzung nachgereicht wurde. Eines, das von Anfang an fürs Geldverdienen konzipiert wurde und sich daher dem Zeitgeist unterwerfen muss. Eine andere Kritik: Rowling habe einen Hass gegen dicke Menschen, weil sie die Dursley-Männer als solche darstelle. Deswegen betont sie am Ende das Übergewicht von Molly Weasley, der Mutterfigur in der Reihe. Oder Hermine hat Draco geschlagen. Das verherrliche Gewalt.

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Transbewegung verfolgt Frauenrechtlerin wegen ihres Einsatzes für inhaftierte Frauen
Mit dem Geheule über eine Ohrfeige unter Schülern traten die Weinerlichen in der Rowling-Kritik auf. Die stets Beleidigten. Die ein Buch lesen, aber gewarnt werden wollen vor jeder Stelle, die ihre Kinderherzchen verletzen könnte. Bis vom Märchen nur noch „Alles war gut“ übrig bleibt. Dann eskalierte der Streit mit denen, die sich als Gerechte sehen, aber nur Selbst-Gerechte sind. Rowling, selbst einst Opfer sexueller und häuslicher Gewalt, setzt sich für Frauenrechte ein. Unter anderem dafür, dass inhaftierte Frauen nicht Opfer von männlichen Gefangenen werden, die sich als Frauen ausgeben, um in für sie gedachte Anstalten untergebracht zu werden. Und obwohl es mittlerweile genau solche Fälle gegeben hat, wurde aus der Mutter, dem Scheidungsopfer und der Autorin, die in ihren Büchern Liebe gegenüber allen predigt, eine Transphobe. „Journalisten“, Texter von Tagesparolen bewarfen sie mit Schmutz und mit dem Wort „umstritten“. Das Wort, das sie werfen, wenn ihnen zwar der Schmutz ausgeht, aber nicht die Lust am Beschmutzen.

Rowling hat als Autorin schon eine andere Hasswelle überstanden. Christliche Fundamentalisten sahen Ketzerei in den Büchern über die Zaubererwelt. Doch woke Aktivisten sind verbiesterter als verbohrte christliche Fundamentalisten. Woke Aktivisten sind intoleranter gegenüber anderen Meinungen als ungebildete Gläubige billiger Verführer. Und woke Aktivisten sind übergriffiger als christliche Fundamentalisten. Seit Rowling gewagt hat, ihnen zu widersprechen, muss die Mutter mit Morddrohungen gegenüber sich und ihren Kindern leben.

Die Ironie: In den „Heiligtümern des Todes“ hatte Rowling schon beschrieben, wie der Mechanismus dahinter funktioniert: Die Figur des Grindelwalds startet als junger Enthusiast und endet als intoleranter Massenmörder. Gestürzt wird er im Jahr 1945. Trost dürfte Rowling ebenso in der Welt finden, die sie selbst geschaffen hat. In der Harry, Dobby, Severus und all die anderen leiden mussten, bis sie ans Ziel gekommen sind. Und die vor 15 Jahren mit den Worten endete: „Alles war gut.“

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Kommentare ( 5 )

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5 Comments
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Alexis de Tocqueville
1 Jahr her

Harry Potter ist cool. Aber das größte Epos aller Zeiten ist und bleibt Herr der Ringe.

Mausi
1 Jahr her

Karl May fällt m. E. auch in die Kategorie. Seine Bücher vermitteln Toleranz. Neugier auf Fremdes. Und sie vermitteln, dass das Gute Stärke braucht, um zu gewinnen.

Deutscher
1 Jahr her

Joanne Rowling ist den Linksgrünwoken noch aus einem anderen Grund suspekt: Kinder lieben Rowlings Bücher, weil sie im Gegensatz zu „Original Play“ und ähnlichen Monstrositäten neosozialistischer Pädagogik kindgerecht sind.

Last edited 1 Jahr her by Deutscher
Kaiser Franz
1 Jahr her

Herr Thurnes, vielen Dank für diesen genialen Artikel! Sie sprechen mir aus der Seele. Harry Potter habe ich damals, obwohl kein Kind mehr, wie im Rausch gelesen. In den Büchern steckt so viel Leben, Wahrheit und Menschlichkeit. Man erlebt wie im Zeitraffer die eigene Jugend nach (auch wenn meine natürlich minimal anders als die von Harry aussah). Die Geschichte sieht Entwicklungen voraus, unter denen wir heute leiden, wie die unheilige Allianz von Mainstream-Politikern und -Medien. Und die Botschaften dahinter machen Mut in schwierigen Zeiten. Beispiel: Wir werden gewinnen, weil wir für etwas kämpfen, und nicht gegen etwas. Kein Wunder, dass… Mehr

Wilhelm Roepke
1 Jahr her

Harry Potter wird wie 1984, Animal Farm und alles von Clint Eastwood unsterblich dafür sorgen, dass die Freiheit nicht vom grünen Sozialismus dauerhaft besiegt werden kann. Aber erst nach schwersten kulturellen Auseinandersetzungen. Leider.