Evakuierung aus „Asovstal“-Komplex setzt sich fort – Ukraine fürchtet Landung bei Odessa

Weiterhin kaum Erfolge an der Frontlinie nähren die Vermutung, dass Putin sich Mariupol als „Trostpreis“ für den 9. Mai sichern will. Evakuierungen aus dem dort umkämpften Stahlwerk setzen sich fort. Der ehemalige Chef des Osteuropa-Ausschusses der deutschen Wirtschaft räumt Fehler im Umgang mit Russland ein.

IMAGO / ITAR-TASS
Blick auf das durch Beschuss beschädigte Gelände des Stahlwerks „Asovstal“ in der umkämpften Stadt Mariupol, 05.05.2022.

In der Ukraine blieb die Lage an der Front über Nacht weitgehend unverändert. Die russische Armee versucht nach Angaben Kiews weiterhin erfolglos, die Städte Popasna und Rubischne in der Region Donezk zu erobern. Auch von einem missglückten russischen Angriff in der Region Charkiw berichtet der Generalstab der ukrainischen Armee. Teilweise soll Moskau Bataillonsgruppen wegen hoher Verluste aus der Front nehmen müssen. Der Beschuss durch russische Mörser und Artillerie halte fast an der gesamten Frontlinie an, heißt es im Lagebericht. Unabhängige Berichte bestätigen das insbesondere für die Frontlinie im Oblast Dnipro im Süden des Landes.

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Berichte und Beobachtungen nähren derweil die Befürchtung, dass es zu einem russischen Landeversuch um die wichtige ukrainische Hafenstadt Odessa kommen könnte. Nach einer Mitteilung der regionalen Militärführung werde das Gebiet verstärkt von russischen Aufklärungsdrohnen überflogen, berichtete die Zeitung „Ukrajinska Prawda“. Zudem sei die russische Marine vor dem von ukrainischer Seite kontrollierten Küstenabschnitt weiterhin stark präsent. Odessa bereitet sich seit Wochen auf eine mögliche Landungsoperation vor. Die Bewohner wurden gebeten, sich von den Stränden und Sicherheitszonen an der Küste fernzuhalten. Auch sollten sie auf Fahrten mit kleinen Booten verzichten. Gleichzeitig wurde die Bevölkerung aufgerufen, verdächtige Aktivitäten zu melden.

In Mariupol halten die letzten ukrainischen Verteidiger weiterhin den Industriekomplex „Asovstal“. Russland will nach Einschätzung der ukrainischen Regierung das belagerte Stahlwerk in der Hafenstadt bis Montag ganz erobern. Präsident Wolodymyr Selenskyjs Berater Olexij Arestowytsch sagt, das Asovstal-Werk solle zum 9. Mai erobert werden. „Das schönste Geschenk an einen Herrscher ist der Kopf seines Gegners. Ich erkenne klar das Bestreben, Azovstal zu erobern und Putin zum 9. Mai den ‚Sieg‘ zu schenken“, wird er von der Agentur Unian zitiert. Mariupol war wochenlang hart umkämpft, im Stahlwerk „Asovstal“ halten sich neben Zivilisten auch Truppen des rechtsextremen Azov-Regiments auf.

Ein Sieg über diese Einheiten zum 9. Mai, dem Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland, wäre eine perfekte Inszenierung im Rahmen der russischen Propaganda-Kampagne, die den Krieg gegen die Ukraine als eine „Spezialoperation“ gegen Neonazis und eine angebliche faschistische Junta in Kiew bezeichnet. Die noch im Stahlwerk eingeschlossenen Zivilisten sollen derweil in einem erneuten Evakuierungsversuch aus dem unterirdischen Komplex gebracht werden, in dem sie sich seit Wochen versteckt halten.

Laut UN-Generalsekretär António Guterres würden Hunderte aus der Gefahrenzone gebracht werden. Er bestätigte die Evakuierungsoperation der UN in einer Sitzung des Sicherheitsrats in New York. Einzelheiten nennt er nicht. „Es ist unsere Politik, nicht über die Details zu sprechen, bevor sie abgeschlossen ist, um einen möglichen Erfolg nicht zu untergraben.“ Rund 200 Zivilisten sollen noch im Stahlwerk eingeschlossen sein. Die Ukraine bestätigt, dass heute Mittag weitere Evakuierungen beginnen sollen. Die Situation für die Eingeschlossenen ist kritisch: Ein Sanitäter vor Ort berichtet darüber in einem veröffentlichten Video. „Hier sterben Menschen, die einen durch Kugeln, die anderen vor Hunger, die Verwundeten aus Mangel an Medikamenten, unter schrecklichen Bedingungen.“ Für eine Evakuierung bat er die Türkei um Hilfe. „Uns bleibt keine Zeit, ich weiß nicht, ob es noch ein morgen gibt“, sagt er.

Sendung am 05.05.2022
Tichys Ausblick Talk: Kein Gas, keine Wirtschaft – Wie gefährlich ist ein Energieboykott?
Erstmals hat ein prominenter deutscher Wirtschaftsvertreter Versäumnisse im Umgang mit Russland eingeräumt. Klaus Mangold war lange Vorsitzender des Osteuropa-Ausschusses der deutschen Wirtschaft und engagierte sich wie kaum ein anderer für gute deutsch-russische Beziehungen. Jetzt setzt er sich für harte Sanktionen ein. „Kohle zu boykottieren ist richtig. Das gilt auch für den geplanten Ölboykott“, sagte Mangold im Interview mit dem Handelsblatt. Er glaube, dass Nato und EU mit ihrer Politik auf dem richtigen Weg seien. „Die Lieferung von schweren Waffen könnte den Weg zu Friedensgesprächen öffnen“, so der Manager. Nicht nur die Politik, sondern auch die Wirtschaft müssten Jahrzehnte der vorangegangenen Beziehungen zu Russland nun kritisch hinterfragen.

Die Frage stehe im Raum, „inwieweit die Wirtschaft mit ihren Entscheidungen im Bereich Energie falsche Abhängigkeiten forciert hat“, so Mangold mit Blick auf das Projekt „Nord Stream 2“ und die deutsche Abhängigkeit von russischem Gas. Dafür würden Wirtschaft und Politik gleichermaßen Verantwortung tragen. Eine schnelle Rückkehr zu alten Geschäftsbeziehungen hält er für unvorstellbar. „Allein, um die Folgen der bereits verhängten Sanktionen zu überwinden, wird das Land mindestens eine Dekade brauchen.“ Dennoch sollte Europa bereits jetzt aktiv darüber nachdenken, wie eine Zukunft mit Russland gestaltet werden könne. Mangold ist überzeugt: „Es wird eine Zeit ‚danach‘ geben. Und wir, Politik und Wirtschaft, tun gut daran, uns schon heute Gedanken über ein ‚morgen‘ zu machen.“

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Kommentare ( 35 )

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RMPetersen
1 Jahr her

„Ukraine fürchtet Landung bei Odessa“ Es war zu erwarten, dass am Ende des Krieges die Kiewer Regierung erheblich schlechter dastehen würde als nach dem Minsk-II-Abkommen. Hätten sie den in diesem Ankommen vereinbarten Sonderstatus für die Bezirke Luhanks und Donezk umgesetzt und nicht im Januar/Februar 2022 den Beschuss noch verstärkt, wäre Russland nicht einmarschiert. Aber das war – so meine These – weder im Interesse der USA noch der nationalistsichen Ukrainer, die extremen Druck auf Selinsky ausübten. Der ukrainische Präsident war eigentlich damals mit dem Versprechen in den Wahlkampf gegangen, das Minsker Abkommen umzusetzen und den Konflikt mit den beiden Provinzen… Mehr

Schwabenwilli
1 Jahr her
Antworten an  RMPetersen

So sieht die Realität aus.
Dazu bekommt man jetzt 10tausende Tote, 100tausende körperliche und seelische Krüppel, eine in Teilen verwüstete Infrastrucktur.

Was mir noch nicht klar ist, verdient der Westen jetzt am Krieg – und späteren Wiederaufbau – in der Ukraine mit oder wird das zum draufzahlen Geschäft?

Haeretiker
1 Jahr her

Versäumnisse im Umgang mit Russland, wie sie Klaus Mangold einräumt, sind nur ein Teileingeständnis. Es wurden vor allem Fehler im Umgang mit dem eigenen Land gemacht. Aus blinder Gier hat man nur noch den Globus gesehen und das eigene Haus vernachlässigt. Nicht einmal als die jetzigen Machthaber über Sprüche wie „Deutschland du mieses Stück Scheiße“ teilnahmslos die Schulter zuckten, haben sich die Wirtschaftsbosse erregt. Man flog lieber im Privatjet durch die Welt und gefiel sich in der Rolle des Globeltrotter. Und heute? Egal was sie heute sagen, jetzt sind sie die Globeltrottel.

hoho
1 Jahr her
Antworten an  Haeretiker

Das sind doch keine Fehler sondern gezielte Aktionen der US Geheimdienste. Seither Obama entschied sich, dass Russland eine nur lokale Macht (Regionalmacht) sei, arbeiten State Department und US Geheimdienste an der Schwächung Russlands. Es gab eine Pause wenn Donald POTUS war. Seither Joe durch White House geistert, wird in Ost-Süden Ukraine geschossen. Der einzige Fehler war von russische Seite: der offene Angriff war ein Fehlschlag. Was genau da los ist wissen wir natürlich nicht aber manches wissen wir: zB dass Moskwa versenkt wurde. Welche Effekt auf uns alle das ganze (sB durch die Sanktionen) haben wird, ist noch ungeklärt.

theDude
1 Jahr her

spannend bis transnistrien bald eine landverbindung gen moskau hat. polen wird sich im uno/nato auftrag seine alten gebiete wiederholen. die ukraine zerlegt sich selber….

Montesquieu
1 Jahr her

Mangold ist eine interessante Persönlichkeit, da er intimer Kenner der Russischen Puppenspieler und Puppen ist. Mal einfachheitshalber aus wiki: „Im November 2017 wurde aus der Veröffentlichung der Panama Papers bekannt, dass Mangold eng wirtschaftlich verflochten mit dem russischen Oligarchen Boris Abramowitsch Beresowski war. „ „Klaus Mangold hat enge Beziehungen zu Russland.[3] Er war am Geschäftsabschluss Rosatoms für den Bau des 2. Blocks vom Kernkraftwerk Paks beteiligt[4] und gilt als der geheimnisvolle Deutsche hinter Viktor Orbáns russischen Geschäften“ „Von 2004 bis Ende 2018 war Mangold 15 Jahre lang Vorsitzender im Aufsichtsrat der deutschen Niederlassung der Bankholding Rothschild & Co in Frankfurt am Main.“ Er gibt zumindest die Haltung und die Interessenlage finanzkräftiger und damit einflussreicher internationaler Kreise… Mehr

Walter Eiden
1 Jahr her

„….im Stahlwerk „Asovstal“ halten sich neben Zivilisten auch Truppen des rechtsextremen Azov-Regiments auf.“

Na immerhin wird hier die „Gesinnung“ der Azovtruppen ohne Umschweife benannt.
Was die Zivilisten angeht so hat Putin bereits letzte Woche, in einem auf Video verfügbaren Gespäch, Guterres mitgeteilt dass für sie jederzeit die gewaltfreie Möglichkeit des Verlassens der Untergrundanlagen besteht. Warum diese erst jetzt davon gebrauch machen wirft Fragen auf. „Durften“ sie vielleicht nicht?
Es gibt auch Gerüchte darüber dass „dort unten“ noch ganz andere Personen und Dinge zu finden sind als die Zivilisten und ukrainisches Militär.

Montesquieu
1 Jahr her

Das, was in Asov wirklich geschah/geschieht, wissen wir alle nicht. Angeblich schwer traumatisierte Zivilisten, die wohlgenährt und ohne von der Sonne geblendet zu werden (nachdem sie wochenlang in Tunneln und Bunkern ohne elektrische Versorgung ausharren mussten) den Komplex verlassen. Aslov Militärführer, die aus weiß gestrichenen, hellen Räumen ohne erkennbare äußere Spuren eines wochenlangen verzweifelten Kampfes in Tunneln und Bunkern an die Nato appellieren, einzugreifen, weil weder Lebensmittel noch Munition oder gar medizinische Hilfe mehr vorhanden seien, nachdem der Kontakt zu diesen Führern angeblich zwei Wochen lang abgebrochen war. Sinnlose und endlose Bombardements der Russen auf die schon völlig destruierten Industrieanlagen.… Mehr

azaziel
1 Jahr her

Zitat: “Dennoch sollte Europa bereits jetzt aktiv darüber nachdenken, wie eine Zukunft mit Russland gestaltet werden könne. Mangold ist überzeugt: „Es wird eine Zeit ‚danach‘ geben.” Darueber denken die Russen sicher auch nach. Europa hat sich als unzuverlaessiger und unehrlicher Partner erwiesen. Jahrzehnte nach Putin werden sich die Russen daran erinnern, dass man Gas und Oel gekauft und dann die Dollars beschlagnahmt hat.

nachgefragt
1 Jahr her
Antworten an  azaziel

Natürlich denken Russen darüber nach. Frei nach dem Russen Medwedjew und einem alten russichen Sprichwort: Russische Herrscher kommen und gehen, aber das Geld bleibt. Oder wie Monarchisten sagen: Der König ist tot, es lebe der König!

azaziel
1 Jahr her

Ohne russisches Gas und Oel wird die westeuropaeische Energieversorgung teurer und unzuverlaessiger. Russische Energie und andere Rohstoffe werden in Zukunft nach Osten gehen und Europa nicht mehr zur Verfuegung stehen. Die Abhaengigkeit steigt ebenfalls, denn man verringert Abhaengigkeit nicht indem man die Zahl der Lieferanten reduziert. Teurere Energieversorgung senkt das Nationaleinkommen und das Steueraufkommen, sowie die Investitionsneigung. Arbeitslosigkeit wird steigen. Der technische Vorsprung geht verloren. Chips kommen mehr und mehr aus Suedostasien. Betrachte ich einen Zeitraum von 20 Jahren, wuerde ich auf Europa eine Verkaufsoption und auf Russland eine Kaufoption erwerben.

Montesquieu
1 Jahr her
Antworten an  azaziel

Wie sagte im Februar 2014 (!) die damalige Sprecherin des amerikanischen Außenministeriums, Victoria Nuland, in einem geleakten Telefongespräch mit dem US-Botschafter in der Ukraine, Geoffrey Pyatt, in dem es um die Konsequenzen der Euromaidankrise ging:
Die Postenbesetzung der neuen ukrainischen Regierung müsse den USA überlassen werden, die EU dürfe kein Mitsprachrecht haben…“Fuck the EU“.

Protestwaehler
1 Jahr her

„…nach Angaben Kiews“. Seit Wochen liest man nichts anderes.
Wie ausgewogen können Berichte sein die sich ausschließlich auf eine einzige Quelle berufen.

Frifrafro
1 Jahr her

Europa ist abhängig bei Energie von Russland, industriell von China und bzgl. Sicherheit von den USA. Wer ist von Europa abhängig? Niemand ! Wir bringen unabhängig gar nichts auf die Reihe. Verantwortung für den Erhalt des Wohlstands der Bevölkerung sieht anders aus.
Grüne pseudowissenschaftliche Ideologie gibt uns dann noch den Rest.