In der Atomkraft-Debatte lässt Habeck eine Hintertür offen

SPD und Grüne versuchen, die Diskussion über einen Weiterbetrieb der letzten Kernkraftwerke zu ersticken. Auf Anfrage von TE nennt das Wirtschaftsministerium allerdings ein interessantes Detail zur Möglichkeit, den Ausstieg hinauszuschieben.

IMAGO / Political-Moments

Angesichts einer Inflation von 8 Prozent – getrieben vor allem durch einen extremen Anstieg der Energiepreise – spricht sich mittlerweile eine Mehrheit in Deutschland für den Weiterbetrieb der verbliebenen drei Kernkraftwerke über 2022 aus. In einer Umfrage hielten 50 Prozent der Befragten eine längere Laufzeit der Kraftwerke für sinnvoll. Sogar 60 Prozent votierten einer Online-Erhebung des Umfrageinstituts Civey vergangene Woche dafür, die Meiler Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 nicht wie geplant zum Jahresende abzuschalten. Mit FDP-Chef Christian Lindner spricht sich außerdem ein führendes Mitglied der Regierungskoalition dafür aus, den Abschalt-Beschluss noch einmal zu diskutieren – nicht nur, um die Strompreisentwicklung zu bremsen, sondern auch mit Blick auf die Versorgungssicherheit.

Auch im Ausland fragen sich Beobachter, warum die Bundesregierung ausgerechnet im steilsten Strompreisanstieg seit Jahrzehnten drei grundlastfähige Kraftwerke mit hoher Verfügbarkeit vom Netz nehmen und deren Leistung durch mehr Kohle- und Gastverstromung ersetzen will. „Wenn das Deutschland nicht dazu bringt, die drei Reaktoren zu behalten, die im Dezember abgeschaltet werden sollen, dann ist nichts dazu in der Lage“, kommentiert der an der Columbia Business School lehrende Ökonom Gernot Wagner die Situation auf Twitter, und zeigte dazu die Preiskurve für Elektrizität in der Bundesrepublik.

— Gernot Wagner (@GernotWagner) June 8, 2022

Sollte es möglicherweise zu einem Lieferstopp für russisches Gas nach Deutschland kommen, wäre noch eine ganz andere Kostenentwicklung möglich.

Die Frage ist: wie sehen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und Umweltministerin Steffi Lemke die neu aufgebrochene Atom-Debatte? TE fragte beim Bundeswirtschaftsministerium nach, ob der Ressortchef angesichts der veränderten Mehrheitsmeinung und des Preisdrucks zu einer Neubewertung der Lage bereit ist. Die generelle Antwort lautet: nein. Trotzdem gibt es in der Stellungnahme aus dem Habeck-Ministerium ein sehr interessantes Detail, das noch eine Hintertür offenlässt. Zunächst teilt eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums mit: „Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz und das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz haben einen Prüfvermerk zur Debatte um die Laufzeiten von Atomkraftwerken vorgelegt.

Beide Ministerien haben geprüft, ob und inwiefern eine Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken angesichts des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine und der aktuell hohen Importabhängigkeit von Russland zur Energiesicherheit beiträgt. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob längere Atomlaufzeiten mögliche Versorgungsengpässe im nächsten Winter ausgleichen können. Aber auch eine mehrjährige Verlängerung wurde betrachtet. Beide Ministerien kommen zu dem Ergebnis, dass eine Verlängerung der Laufzeiten nur einen sehr begrenzten Beitrag zur Lösung des Problems leisten könnte, und dies zu sehr hohen wirtschaftlichen Kosten, verfassungsrechtlichen und sicherheitstechnischen Risiken. Im Ergebnis einer Abwägung von Nutzen und Risiken ist eine Laufzeitverlängerung der drei noch bestehenden Atomkraftwerke auch angesichts der aktuellen Gaskrise nicht zu empfehlen.“

Weitere Argumente: Die Betreiber würden sich schon auf das Abschaltdatum 31.12. 2022 vorbereiten. Die Brennelemente könnten nicht so schnell erneuert werden. Dem widersprechen übrigens Experten: Mit einer schonenden Betriebsweise könnte die Lebensdauer der Brennelemente gestreckt werden. Dann folgt in der Ministeriums-Antwort allerdings ein bemerkenswerter Satz: „Selbst bei sofortiger Bestellung und beschleunigter Abwicklung wäre deshalb – bestenfalls – mit einer Nutzung (der Kernkraftwerke) nicht vor Sommer/Herbst 2023 zu rechnen.“ Ein Weiterbetrieb der drei Kraftwerke wäre also auch nach Einschätzung des Wirtschaftsressorts 2023 technisch möglich – wenn auch mit einer Pause von mehreren Monaten.

Zur Sicherung der Stromversorgung setzt Habeck trotzdem auf Gas und Kohle.
„Die Bundesregierung trifft bereits seit Wochen intensive Vorkehrungen, damit die Gasspeicher gefüllt und Reserven an Kohle angelegt werden“, heißt es in der Antwort auf die TE-Anfrage.

Gleichzeitig bemühen sich SPD, Grüne und ihre öffentlichkeitswirksamen Anhänger seit Tagen, die Debatte um einen Weiterbetrieb der Atomkraft zu stoppen, beziehungsweise, sie „auszutreten“, wie es im politischen Berlin heißt. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Matthias Miersch, Sprecher für Umweltpolitik und nukleare Sicherheit, erklärte auf Twitter für die SPD-Fraktion die Diskussion um Kernkraft in Deutschland für „abgeschlossen“, und teilte mit: „Wir steigen jetzt aus und werden keine Laufzeiten verlängern.“

Atomkraft, so Miersch, sei „nicht wirtschaftlich“ – ohne dafür Belege anzuführen. Warum mit Frankreich, Finnland und Bulgarien trotzdem gleich drei EU-Länder ihre nuklearen Kapazitäten ausbauen, Belgien seinen eigentlich für 2025 geplanten Atomausstieg verschiebt, und Polen den Einstieg in die Kernkraft plant, erklärte Miersch nicht.

China will seine Nuklearkapazität innerhalb der nächsten 10 Jahre sogar verdoppeln. Dort läuft inzwischen auch der erste Flüssigsalzreaktor der Welt, mit dem auch Energie aus alten Brennelementen gewonnen werden kann, die bisher als Atommüll eingelagert wurden.

Fast wortgleich zu Miersch äußerte sich auch Stefan Rahmstorf vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung: Die Atomdebatte sei in Deutschland „entschieden“, die „Überlegenheit“ von Solar- und Windkraft außerdem klar bewiesen.

Die Plattform n-tv bezeichnete die neue Atom-Debatte in Deutschland als „Fake“, ohne auf den Stimmungsumschwung in der Bevölkerung einzugehen, und hielt Lindner vor, er habe von beim Dreikönigstreffen der FDP am 6. Januar 2022 verkündet, Atomkraft sei für Deutschland „keine Option“. Das trifft zu. Allerdings sagte Lindner das vor dem Ukraine-Krieg und der Energiepreisexplosion.

 

In seinem Beitrag erklärte der n-tv-Redakteur außerdem, eine weltweite Renaissance der Atomkraft gebe es überhaupt nicht.

Viele Berliner Politiker und Medien-Mitarbeiter erklären also nach wie vor Deutschlands Energiepolitik zum internationalen Vorbild – ohne sich zu fragen, warum ihnen die restliche Welt nicht folgt.

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