„Spiegel“ steht unter Druck: Berichte über angeblich totes Flüchtlingskind „Maria“

Eine Debatte, die den griechischen Sommer beherrschte, findet ein unrühmliches Ende. Die Beweise, die eine griechische Journalistin fand, scheinen eindeutig: Das angeblich auf einer Evros-Insel verstorbene Migrantenkind „Maria“ hat es vermutlich nie gegeben.

IMAGO / Fotostand

Es war eines der kleinen Dramolette dieses Nachrichtensommers in Griechenland: 38 Migranten schienen über Wochen auf verschiedenen Inseln im Evros „gefangen“ zu sein. Doch schon diese vermeintliche Grundlage der Geschichte beleuchtet den Fall mit ausreichender Schärfe. Wie sich nämlich herausstellte, hatten türkische Spezialkräfte die Migranten nicht nur auf einer Insel ausgesetzt, sondern sie später auch auf eine andere, vermeintlich besser geeignete verschifft. Besser geeignet insofern, als die Migranten so abgeschnitten von jedem Rückweg und näher an der Grenzlinie in der Mitte des Flusses Evros waren.

Doch wochenlang beharkte die oppositionelle Syriza-Partei die konservative Regierung mit Forderungen nach „Rettung“ und Aufnahme der gestrandeten Migranten. Auch die radikal-linke Partei adoptierte die Positionen von NGOs und einzelner Medien ohne jeden Rückhalt. Sogar eine Liste der Gestrandeten veröffentlichte ein Syriza-Politiker auf Twitter sowie eine Karte der Insel, die zeigen sollte, dass es sich um griechisches Staatsgebiet handelte.

Der deutsche Spiegel schrieb vom Evros als „Todesfalle EU-Grenze“. Doch dieser Artikel ist einer von vieren, die derzeit nicht mehr online sind, weil es „mittlerweile Zweifel an der bisherigen Schilderung der damaligen Geschehnisse“ gebe.

Aktueller Screenshot auf Spiegel.de

Am Ende stellte sich heraus, dass sich die Migranten doch nicht auf griechischem Territorium befanden, was aber wenig interessant war, nachdem sich die griechischen Grenzpolizisten zu einer Rettungsaktion verstanden und die 38 in das Aufnahmezentrum Fylakio verbracht hatten.

Ebenda besuchte der Spiegel-Reporter Giorgos Christides die angeblichen Eltern eines mit fünf Jahren verstorbenen Mädchens „Maria“ für viele Stunden, wie er selbst angab. Dazu hatte er sich als einfacher Übersetzer ausgegeben im Dienst der NGOs „HumanRights360“ und „Greek Council for Refugees“. Auch das wurde von Regierungspolitikern kritisiert. Diese Recherche brach Christides dann aber faktisch auch nach seinen eigenen Worten ab, nachdem er mit den Eltern des angeblich nach einem Skorpionstich verstorbenen Mädchens gesprochen hatte. Christides entschied sich, diesen Eltern von „noch“ vier Kindern zu glauben, einfach weil sie so „herzzerreißend“ von ihrem fünften, jüngst verlorenen Kind erzählten, das sie angeblich auf einer Insel im Evros begraben hatten.

Später rühmte sich Christides in der griechischen „Zeitung der Redakteure“: „Dank solcher Medien und Journalisten, aber auch dank der unermüdlichen, wenn auch geschmähten und oft verfolgten NGOs können nun 38 Flüchtlinge in Europa Schutz suchen.“ Am Evros bedankte man sich für diese Beihilfe nicht.

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Dabei weckte schon der Name des Mädchens Misstrauen: „Maria“ wollten es die Eltern genannt haben. Das mochte auch der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis nicht glauben, der Christides’ Berichte schon im Sommer und vor dem versammelten Parlament als „Schande“ ansprach. Von anderen Journalisten wurde dies wiederum als unwürdiges Verhalten des Regierungschefs bekrittelt, der Meinungen und Haltungen aus den sozialen Medien kopiere. Doch mit Verweis auf die Premierministerworte kritisierte auch Migrationsminister Notis Mitarakis weiterhin die Christides-Geschichte von dem tragischerweise auf einer Evros-Insel verstorbenen Mädchen – gestorben freilich nicht durch die Auszehrung nach langer Flucht, sondern aufgrund eines zufälligen Unfalls, wie wiederum griechische Medien hervorhoben.

Letztlich stellte sich heraus, dass ein fünftes Kind auf keiner Liste und auf keiner der Photographien zu sehen war, die die 38 Migranten selbst geschossen haben, während sie sich am Evros aufhielten, wie die Vor-Ort-Reporterin Vasiliki Siouti für die Website LiFO berichtet. Der Spiegel vertröstete die Journalistin damals, man brauche noch mehr Zeit für die Antwort. Aber die brauchte es auch nicht mehr: Auf den Bildern der Familie waren stets nur vier Kinder, davon drei Töchter, zu sehen. Und so viele befinden sich heute auch im Aufnahmezentrum Fylakio. Das fünfte Kind fehlte.

Notis Mitarakis griff dies Ende August vor dem Parlament auf und kündigte an, die Sache dem Generalstaatsanwalt beim Areopag zu übergeben. Verschiedene Angaben der Migranten seien in mehreren Punkten unlogisch oder wurden durch unabhängige Untersuchung widerlegt, so auch Angaben zum schlechten Gesundheitszustand eines Kindes und einer schwangeren Frau, was von den Ärzten im Aufnahmezentrum am Evros nicht festgestellt werden konnte. Vor allem aber: Die Eltern selbst können nicht mehr angeben, wo sie ihre angebliche Tochter begraben haben wollen, die sie mal zur Zwillingsschwester der einen, mal der anderen ihrer realen Töchter machten. Der Fall könnte damit abgeschlossen und Giorgos Christides der unjournalistischen Naivität überführt sein – wenn nicht ein noch profunderer Verdacht bestünde, dass er selbst an dieser Schauergeschichte mitgestrickt haben könnte. Genug Zeit hatte er dazu nach eigener Auskunft. Das wäre dann in der Tat: Relotius reloaded beim Spiegel.

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Dieser Hang zum Melodram durchzieht freilich die gesamte Berichterstattung des Spiegel in Sachen EU-Außengrenzen. Was sogar Christides bemerkte, aber zu wenig berücksichtigt hat: Die angeblichen „Flüchtlinge“ waren von der Türkei „genötigt“ worden, das türkische Staatsgebiet Richtung Griechenland zu verlassen. Ob es freilich Nötigung oder eigene Wahl war, bleibt hier wiederum offen. Das war der nächste Fall von unbegrenztem Vertrauen eines Journalisten zu den Angaben seiner Gesprächspartner, also jenen Migranten, die ein evidentes Interesse an der vermeintlichen Trostlosigkeit ihrer Lage haben.

Zur Verantwortung gezogen werden muss allerdings auch eine Türkei, die „Abschiebungen“ in Länder vornimmt, die nichts mit den betreffenden Migranten zu tun haben. Man nennt das landläufig auch Einschleusung und organisiertes Schlepperwesen. Auch die beteiligte NGO „HumanRights360“ musste zugeben, falsche Nachrichten in der Sache verbreitet zu haben, und wird inzwischen von den griechischen Behörden unter die Lupe genommen. Der Leiter von „HumanRights360“ entschuldigte sich für die Verbreitung der Unwahrheit, wonach die Migranten sich auf griechischem Staatsgebiet befanden. Bürgerschutzminister Takis Theodorikakos ging das nicht weit genug. Er forderte eine Entschuldigung auch von Syriza und deren Vorsitzendem Alexis Tsipras gegenüber den „Grenzanwohnern, der griechischen Polizei und dem Heer“, die gemeinsam die Grenzen des Landes bewachten.

Griechische Twitter-Nutzer forderten nun, dass sich der Spiegel gegenüber dem griechischen Volk für einige Monate währende Desinformationskampagne entschuldigte. Die wesentliche Frage wird freilich sein, welchen Interessen ein solcher, offenbar interessierter Journalismus dient und von welchen Kreisen er getragen wird.

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Kommentare ( 32 )

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WandererX
1 Jahr her

DER SPIEGEL arbeitet schon lange unprofessionell. Aber selbst die FAZ ist nicht in der Lage, deutsch zu schreiben und ist manipulativ unterwegs.

mediainfo
1 Jahr her

Das angeblich auf einer Evros-Insel verstorbene Migrantenkind „Maria“ hat es vermutlich nie gegeben.

Okay, der „Spiegel“ also „unter Druck“. Aber ist das nicht längst gleichgültig, ob eine Geschichte „wahr“ ist, also den Tatsachen entspricht, seit viele bekannte Medien nur noch vorgeben, das Ziel der Abbildung von Realität als Grundlage zur Meinungsbildung des Empfängers zu haben, und sich tatsächlich der Agitation im Sinne bestimmter politischer Standpunkte, und gegen andere, verpflichtet sehen? Was zumeist als „Aktivismus“ verbrämt wird?

Für mich ist die Glaubwürdigkeit der meisten bekannten Medien Geschichte, mindestens wenn es um gesellschaftlich umstrittene Themen wie Migration geht.

Last edited 1 Jahr her by mediainfo
Klausklein
1 Jahr her

Frauen und Kinder für Propagandazwecke zu benutzen ist ein alter Hut. Sobald es ins Konzept passt kommen die Krokodilstränen. Wenn nicht dann nicht. Irakische Kinder z.B. waren nicht interessant als die NATO dort alles platt machte. Erst als sie in die genehme Richtung flüchteten kamen die Bilder. Scheinmoral ist keine Moral sondern unmoralisch.

AlNamrood
1 Jahr her

Man darf nicht vergessen dass es für Linke keine scharfe Trennung zwischen subjektiver und objektiver Realität gibt. Eine „Erzählung“ ist demnach ebenso wichtig und richtig wie Fakten. Da braucht sich niemand wundern.

Schwabenwilli
1 Jahr her

Maria kommt natürlich beim durchschnittlichen Spiegel Leser besser an als ein mohammedanisch klingender Name, da geht nämlich die Gutmenschen Fraktion auch schon auf Distanz.

Andreas aus E.
1 Jahr her

„Im Zweifel links“ war das Blatt ja immer, aber mit gewissem Niveau. Lange her, längst vorbei.

Adorfer
1 Jahr her
Antworten an  Andreas aus E.

Ich habe den Spiegel ab Anfang der 60er Jahre gelesen, davon 30 Jahre selbst bezahlt, danach Lesezirkel im Betrieb, heute schaue ich ihn überhaupt nicht mehr an. Oft frage ich mich, was ein Journalist der Qualität wie Rudolf Augstein, heute zu seinem Blatt sagen würde. Ich kann es mir fast denken.

GP
1 Jahr her

Das ist doch kein Problem einer einzelnen Zeitschrift, ARD und ZDF agieren doch genau so. Zu den politisch relevanten Themen werden haltungskonforme Geschichten erzählt und die dazu passenden Bilder gezeigt. Das Volk glaubt dann das was man es sehen lässt… ?‍♂️

Wolf
1 Jahr her

Ja aber es hätte sein KÖNNEN…. Haltung ist wichtiger als Fakten, das kennen wir in DE doch seit 100 Jahre …..

Waehler 21
1 Jahr her

Im Falle der sozialen Erpressung ist die mit kindlicher Beteiligung die unwürdigste. Persönliche Nähe entsteht durch das Benennen des Vornamens (es könnte ja auch ein Nachbarskind sein). Tränen mit Kontext oder ohne runden den Angriff auf den Seelenzustand des Lesers ab, oder befreien den berufenen Aktivisten vom Gesetz. Tränen! Der Spiegel ist nicht auf halben Wege stehengeblieben, sonder brachte das erfundene Kind um. Bitteschön! Wer jetzt nicht diesen überbezahlten Storytellers zu Füßen liegt und zum unbedingten Teilen bereit ist, ist ein Unmensch. Mission erfüllt. Ein fanatischer Ideologe braucht keinen Anstand, keine Wahrheit sondern nur Menschen die ihm folgen! Der Spiegel… Mehr

Leopold Schmidt
1 Jahr her

Es ist völlig egal, ob eine Geschichte wahr ist oder nicht. Wichtig ist, daß in einem (möglichtst renommierten) Medium etwas aufgeschrieben wird, was von der geneigten Leserschaft schon immer vermutet wurde. Damit ist dann allen gedient. Das Weltbild des Lesers wird bedient. Der schreibende „Journalist“ erhält anerkennendes Nicken seiner Peers. Und wenn es richtig gut läuft, kniet eine seiner Bewunderinnen vor ihm nieder. Ich werfe das den Spiegel-Geschichtenschreibern nicht mal vor. Wir Menschen sind halt schlicht strukturiert. Unangemessen ist, daß sich die links-grüne Bagage für bessere Menschen hält. Aber wenn man das einfach nicht glaubt, dann ist auch dieses Problem… Mehr