Im Herbst die W-Welle des Corona-Virus?

Während überall um Hygieneregelungen und Abstand gekämpft wird: Der Bahnstreik erzwingt größtmögliche Nähe. Hunderttausende im engsten Körperkontakt, weil Claus Weselsky von der Lokführergewerkschaft es will?

IMAGO/Hanno Bode

Im Berliner Hauptbahnhof: Gedränge wie sonst zuletzt auf dem Oktoberfest, vor wie vielen Jahren war das genau?
Körper an Körper drängeln auf den vielen Rolltreppen; mit Glück ein Rollkoffer dazwischen, aber ganz sicher nicht Einskomma-Fünf Meter.
Auf dem Bahnsteig geht es weiter. Wer vorwärts kommen will, balanciert auf der Bahnsteigkante entlang. Keiner stürzt ab, das muss auch gesagt werden.
Der Sonderzug der Streikbrecher fährt ein, riesige Trauben von Fahrgästen vor den Türen, Gedrängel, Geschubse von der Art, wie man es gar nicht mehr kennt.

Bei jedem Bahnhof hält der Zug länger. Inständig bittet der Zugchef per Lautsprecher, Gäste sollten aussteigen. Der Zug sei überfüllt. Aber er macht einen Fehler: Er fährt in Spandau trotzdem weiter. Man sieht in lauter Poker-Faces. Keiner ist ausgestiegen, drin sein ist alles, Vorwärtskommen zählt, nicht Gedränge.

Bei jeder kommenden Station: Zug macht Pause, Zugführer bettelt, droht, fleht, bietet 30 € für Zugflüchtlinge an, aber kein Vorwärtskommen. Keiner will aussteigen, wer will  schon in Göttingen oder Fulda hängen bleiben; wenn kein Zug mehr kommt? Ohnehin wäre Aussteigen eine Art akrobatische Turnübung. Alle Gänge sind belegt; mit Koffern, die auf keiner der überfüllten Ablage mehr Platz haben und: mit Menschen, abstandslos. Sie sitzen in den Gängen, vor den Toiletten, den Austiegszonen, Umfallen ist nicht möglich: Die Menschenenge schwappt hin und her im Rhythmus der Weichen auf der Strecke und der damit verbundenen Schaukelbewegungen des Zuges. Man krallt sich aneinander, Gesicht an Gesicht. Bei Querdenker-Demos dieser Dichte würde die Berliner Polizei ihre Wasserwerfer und Knüppel-Kompanien einsetzen; Zugbegleiter bleiben unsichtbar. Vermutlich haben sie sich in ihren Dienstabteilen verrammelt, gesünder für sie ist es. Besser ist es für sie auch, denn die Wut im Zug auf jede Uniform wächst.

Nur ein Drittel der Züge auf der Fernstrecke fahren, bei den Hauptrouten sind es die langen Doppelzüge. Schwer zu schätzen, wieviele unfreiwillige Corona-Demonstranten zusammengepfercht sind, sich selbst zusammenpferchen.
Masken trägt man freiwillig; hofft auch Schutz vor den Infektionen aller Art, von denen Corona nur eine der harmloseren sein könnte.

Der alte Spruch: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will“ lautet heute: Jeder hustet jedem ins Gesicht, wenn Klaus Weselsky von der Lokführergewerkschaft im Deutschen Beamtenbund es will. Vielleicht sollten wir von der Zählung der Corona-Varianten nach dem griechischen Alphabet wieder auf das lateinische übergehen; ab sofort droht die W-Variante, die Weselsky-Infektion; erworben, weitergegeben im ICE.

Ohne Impfpass kein Fitness-Studio – ob mit oder ohne zählt im Zug nicht mehr. Jetzt sind Geimpfte, Gesunde, Genese nicht mehr gespalten von der Gruppe der Anderen, alle sind nur noch eine namenlose Menschenmasse mit vermutlich bald einheitlichem Infektionsgeschehen. „Impfung” schützt ja nicht vor dem Anstecken anderer und dem angesteckt werden. Diese Binse wird dir ins Gesicht geprustet.

Unter den Eingepferchten, die man beim besten Willen nicht als „Reisende“ bezeichnen will, maximaler Ärger. Viele Urlauber, verzweifelte Anzugträger im zerknitternden Outfit und mit Rangeleien um die jetzt knappen Steckdosen für den Laptop – jeder wollte die kurze Reiseerlaubnispause im Sommer nutzen. Und steckt jetzt fest in einer rollenden Menschenmasse. Auf die Bahn schimpft keiner, man anerkennt den Versuch, irgendwie den Verkehr zu bewältigen.

Die Corona-Angst verfliegt wie nie dagewesen, nur das Ziel zählt. Wegen der langen Aussteige-Stopps verdoppelt sich die Fahrzeit annähernd, Ankunft auf einem ähnlich überfüllten Bahnsteig. Das Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein. Aber vielleicht hat es uns erst erwischt? Kann man Claus Weselsky im Falle einer Infektion im Zug verklagen? Schadensersatz? Körperverletzung? Erzwungener Verstoß gegen Hygieneregelungen? Der Mann hat Mut, das muss man sagen: den Mut zur größten Dummheit und zur maximalen Unbeliebtheit. Vielleicht auch für die größte Ansteckungswelle in diesem Jahr?

Nachtrag: Viele Leser sagen, dass dies der Beweis sein könnte, dass Corona gar nicht ansteckend sei. Weselsky habe nur einen großen Feldversuch gestartet. Wir sollten ihm dankbar sein. Also eine Fahrkarte ins Labor?

Viele Leser verweisen darauf, dass man halt PKW fahren solle, was sicherlich ein guter Rat ist. Im übrigen sitzen in Indien der Fahrgäste auf dem Dach der Züge. Da ist dann auch die Ansteckungsgefahr geringer.

Einige Beamte sagen, dass der Streik rechtmäßig sei. Legal ist eben nicht immer legitim. Aber wer weiß das noch?

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Kommentare ( 125 )

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125 Comments
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K.Behrens
2 Jahre her

Einem Lokführer ist es völlig egal, ob seine Fahrgäste zusammengepfercht am Bahnsteig stehen oder ein Zug überfüllt ist. In diesem Fall ist es mal wieder gut gegangen, es gab keine Toten und Verletze. Und falls eine Notbremsung in überfüllten Zügen nötig ist, kullern die Passiergere eben wie Domino-Steine mit samt ihrem Gepäck durch die Abteile? Da bin ich doch eher bei Flugkapitänen, die Ihre „Ladung“ samt Treibstoff verantwortlich genau berechnen und niemals eine Maschine überladen!!! Selbst wenn Lokführer ca. fünf Prozent mehr Gehalt fordern, Sicherheit für Gäste sieht anders aus und Lokführer tragen für die Sicherheit ihrer Gäste keine Verantwortung!

Thomas Holzer
2 Jahre her

Beim Leib Christi ist der Beweis noch nicht erbracht, bei der Impfung anscheinend schon ?????????

Franz Guenter
2 Jahre her

Lieber Herr Tichy, lieber Herr Goergen, wieder einmal auf den Punkt gebracht. Journalismus und Kommentar vom Feinsten. Danke.

NinMV
2 Jahre her

Mal ganz bösarig : Man hoffft in gewissen Kreisen auf hohe Inzidenzen , um die Einschränkungsagenda leichter durchziehen zu können.

Gerd07
2 Jahre her

So ein… Der Streik war lange vorher angekündigt. Außerdem war das nicht der hundertste volle Zug seit Anfang 2020. Das Verhalten der Menschen zeigt, wie sie die Gefahr durch Corona einschätzen: als sehr gering.

UAW244
2 Jahre her

Kaufe regelmäßig „Tichys Einblick“ und kann fast nicht glauben, wie sich Herr Tichy seit Tagen in den GDL-Chef rhetorisch verbeißt. Ich bin seit rund 35 Jahren Lokführer im Fernverkehr, Schichtdienst, Tag, Nacht und Feiertage rund um die Uhr. Habe alles erlebt, von schlimmen Unfällen über Suizide bis hin zum maximalem Kontrollverlust Deutschlands, als 2015 hunderttausende junge Männer per Boot/Bahn aus dem Maghreb bis Berlin gefahren wurden. Ihre süffisante Sichtweise auf Weselsky tut weh, zumal dieser einer der wenigen Gewerkschaftschefs ist, welcher bei keinem der etablierten Parteien auf dem Parteitag „Lachs-Schnittchen“ kredenzt bekommt. Wenn in Frankreich die Lokführer streiken, dann folgen… Mehr

Sani58
2 Jahre her

In meinem Aufentahltsland gibt es Veranstaltungen am laufenden Band. Strände, Thermalbäder, Märkte , Gasthäuser und Bistros knackevoll…..Und , stapeln sich die Coronatoten? Nix. Inzidenz, wenn es so was gibt , = 4, also ebenfalls nix.
Der Virus scheint in Deutschland ein Anderer zu sein, als hier.
P.S. keine Masken, nirgends, keine Tests, keinen interessiert irgendwas von Corona.

Last edited 2 Jahre her by Sani58
Ludwig von Gerlach
2 Jahre her

Das wahre Problem des Streiks ist doch nicht Corona. Denken Sie Mal an die Vielen, die jetzt statt der Bahn ihren Diesel für den Weg zur Arbeit etc. benutzen!! Die verursachen doch pro 100 km einen zusätzlichen Feinstaubtoten und verlegen durch diese Strecke jeweils die Klimaapokalypse um eine Stunde vor. Wo bleibt die klimatheologische Predigt von ACAB zum Bahnstreik???

Gisela Fimiani
2 Jahre her

In einer identitätsversessenen Gesellschaft kann kein Gemeinsinn mehr herrschen. In einer zersplitterten Gesellschaft ist sich jeder Splitter selbst am nächsten. Eine derartige Gesellschaft hat sich als Gemeinschaft längst aufgegeben. Deren Devise lautet: catch as catch can…….

Farbauti
2 Jahre her

In den 80ern reisten wir so mit dem Interrail Ticket. Umfallen konnte man nicht, war doch gut. Die Menschen hatten noch weniger Berührungsängste und machten das Beste aus der Situation. Pingelig war da keiner mehr, Rassismus, Diskriminierung und meetoo hatten keine Fahrkarte.