Thilo Sarrazin: Der Staat an seinen Grenzen

Massenauswanderung hilft den betroffenen Ländern bei der Lösung ihrer Probleme nicht, doch für die Zielländer ist sie in vielerlei Hinsicht bedrohlich und potenziell destabilisierend

Das Buch ist ein Bestseller, liegt aber in vielen Buchhandlungen nicht sichtbar aus. Sein Autor Sarrazin gilt als „umstritten“, und über das Thema „Migration“, besonders die Massenmigration seit den 1960er Jahren aus Afrika und Asien nach Westeuropa, spricht man in Deutschland besser nicht. Wer es dennoch tut, wird schnell als ausländer-, fremden-, islam-, menschenfeindlich usw. abgestempelt, kurz: zum „Feind“ erklärt.

Die Aufmachung des Buches deutet nicht auf einen Bestseller: Untertitel, Umfang (480 Seiten), zahlreiche Tabellen, der breite Anmerkungsapparat (S. 427–464) und das Register lassen ein wissenschaftliches Fachbuch vermuten. Das ist es nicht; denn Sarrazin wendet sich an ein allgemeines Publikum, allerdings mit einer wissenschaftsbasierten Argumentation, die in sechs selbständige Großkapitel gegliedert ist, die auch unabhängig voneinander gelesen werden können.

Das erste Kapitel „Zur Weltgeschichte der Einwanderung“ (S. 23–172) gibt ein historisches Panorama der weltweiten Migration: Vom Homo sapiens und den frühen Hochkulturen über die Antike (Griechen, Römer, Germanen, Hunnen), das Mittelalter (deutsche Ostkolonisation, Araber, Mongolen, Osmanen) bis zum europäischen Kolonialismus der Neuzeit und den „Wanderungsbewegungen der Gegenwart“. Diese Migrationsgeschichte  ist in der Regel auch Kriegsgeschichte: „In der weitaus größten Zahl der Fälle gingen in der Menschheitsgeschichte Einwanderung und militärische Eroberung Hand in Hand“ (S. 163), und „der teils schleichende, teils gewaltsame Bevölkerungsaustausch ganzer Ethnien und Kulturen  […] ist eine Konstante“ (S. 165).

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Das Paradebeispiel für eine solche „ethnische Transformation“ ist die Kolonisierung Amerikas. „Kolumbus entdeckte 1492 Amerika“, heißt es in den Geschichtsbüchern. Man könnte aber auch sagen, dass die (damaligen) Amerikaner die Europäer „entdeckten“ – mit fatalen Folgen: Die einheimische Bevölkerung und ihre Kultur wurden vernichtet, in Rückzugsgebiete abgedrängt oder, im besten Fall, mit den Eroberern und ihrer Kultur vermischt, woraus sich (wie in Paraguay) ein neues Volk ergab (Ethnogenese).

Migration ist, historisch gesehen, eine Kriegs- und Völkergeschichte. Das setzt voraus, dass es „Völker“ gibt, darunter ein „deutsches Volk“. Der Ausdruck – der zwar im Grundgesetz steht, aber politisch kaum mehr verwendet wird – ist erstmals im althochdeutschen „Annolied“ (um 1090) als diutischin liute „deutsche Leute“ belegt und war damals ein Sammelname für die germanischen Stämme des ostfränkischen Reiches. In Kapitel 2 „Ethnogenese und Identität am Beispiel Deutschlands und Europas“ (S. 173–194) werden die Anfänge und Herkunft der „Deutschen“ behandelt sowie deren geschichtliche und kulturelle Prägung, kurz: die Herausbildung ihrer „nationalen Identität“.

Der 2018 von vielen Mitgliedsstaaten der UNO, darunter Deutschland, beschlossene „Global Compact for Migration“ (Migrationspakt) stellt einleitend (Nr. 8: „Our vision“) fest:

Migration war schon immer Teil der Menschheitsgeschichte, und wir erkennen an, dass sie in unserer globalisierten Welt eine Quelle des Wohlstands, der Innovation und nachhaltigen Entwicklung darstellt.

Geschichtlich gesehen ist diese positive Bewertung der Migration falsch. Aber auch für die gegenwärtige, äußerlich friedliche Massenmigration nach Westeuropa unterschlägt sie deren Konfliktpotential. Kapitel 3 „Einwanderung als europäische Herausforderung“ (S. 195–236) zeigt, dass die aktuelle Migration keineswegs eine „Quelle des Wohlstands“ ist, im Gegenteil: „Die ökonomische Nutzenbilanz der Migranten aus dem Nahen und Mittleren Osten und aus Afrika in Deutschland und Europa ist seit vielen Jahrzehnten negativ“ (S. 217). Allein die Flüchtlingskrise 2015/16 verursacht Deutschland jährliche Folgekosten von mindestens 25 Milliarden Euro. Langfristig ist bei dieser Massenmigration – 2019 kamen 160 Tausend Zuwanderer aus Asien und Afrika nach Deutschland – der Sozialstaat „nicht überlebensfähig“ (S. 223).

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Die Alternative lautet also: Massenmigration oder Sozialstaat? – beides zusammen geht auf Dauer nicht. Kapitel 4 „Ethische Fragen der Einwanderungspolitik“ (S. 237–281) stellt dieses Problem in den philosophischen Zusammenhang von Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Klar ist: „In der politischen Debatte und in den Medien Deutschlands dominieren die gesinnungsethischen Aspekte der Masseneinwanderung“ (S. 255). Die praktischen Folgen im Arbeitsleben, in der Wohnumgebung, der Schule und im Alltag werden ausgeblendet, weil sie heute erst eine Minderheit betreffen, etwa ein Fünftel der Deutschen. Die politische Partei, welche deren Interessen früher vertrat, die SPD, hat diese Wähler „abgeschrieben“ und ihr Mitglied (seit 1973) Sarrazin 2020 ausgeschlossen.

Die tiefer liegende Ursache der Massenmigration nach Westeuropa, die unabhängig von aktuellen Beschleunigern wie Kriegen und politischen Krisen besteht, ist die Bevölkerungsexplosion in Teilen der Welt. Von 1950 bis 2020 wuchs in Deutschland die Bevölkerung um 20 Prozent von 70 auf 84 Millionen; in Nordafrika und Westasien sowie im subsaharischen Afrika verfünffachte bzw. versechsfachte sie sich. „Bezogen auf die Ausgangsbasis 1950 hätte Deutschland heute bei einer Bevölkerungsentwicklung wie in Nordafrika und Westasien 370 Millionen Einwohner […] und wie in Subsahara-Afrika 440 Millionen“ (S. 286). Angesichts dieses demographischen Ungleichgewichtes – für 2050 sieht die UNO-Prognose eine Verdoppelung der Bevölkerung in Subsahara-Afrika vor – ist offensichtlich, dass weder Entwicklungshilfe noch Massenauswanderung die Folgeprobleme der Bevölkerungsexplosion lösen können. Das müssen die betroffenen Länder selbst tun, und Sarrazin macht in Kapitel 5 „Die Ursachen von Migrationsdruck und die Wege zu seiner Bekämpfung“ (S, 283–357) hierzu einige Vorschläge.  Er stellt auch fest, dass – wie der wirtschaftliche Aufstieg Ostasiens zeigt – zwischen Migration und Globalisierung kein zwingender Zusammenhang besteht: „Die Wanderung von Wissen und Ideen, aber auch Handel, Auslandsinvestitionen und der Aufbau großer internationaler Produktionsverbünde […] ist von Masseneinwanderung ganz unabhängig“ (S. 309).

Im Schlusskapitel „Wie sich Einwanderung steuern lässt“ (S. 359–420) fordert Sarrazin eine „selektive Einwanderungspolitik“, die nur erwünschte Einwanderergruppen zulässt. Voraussetzung hierfür seien ein „wirksames Grenzregime“ und eine „realistische Asylpolitik“; denn „de facto ist das deutsche Asylrecht das zentrale Einfallstor für ungeregelte Masseneinwanderung geworden“ (S. 412). Das globale Flüchtlingsproblem müsse – gewissermaßen als „Grenzschutz im Vorfeld“ – vor Ort gelöst werden: „Die Versorgung eines Flüchtlings [aus Entwicklungsländern] in Europa muss den dortigen Kosten und Standards folgen und ist 135-mal so teuer wie die ortsnahe Unterbringung und Versorgung“ (S. 395). Weiter sollte den Ländern, welche abgelehnte Asylbewerber nicht zurücknehmen, die Entwicklungshilfe gestrichen werden: „Ende 2018 waren 192 000 abgelehnte Asylbewerber ausreisepflichtig, aber es wurden 2019 nur 22 100 [= 11,5 %] Abschiebungen vollzogen“ (S. 405).

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Der Anlass für Sarrazin, dieses Buch zu schreiben, war „die Erkenntnis, dass Massenauswanderung aus Afrika und dem westlichen Asien den betroffenen Ländern bei der Lösung ihrer Probleme nicht hilft, für die Zielländer in Europa aber in vielerlei Hinsicht bedrohlich und potenziell destabilisierend ist“ (S. 349). Die Bedrohung liegt in einer strukturellen Veränderung der Bevölkerung. Im Falle Deutschlands hat die Entwicklung noch nicht den Kipp-Punkt erreicht, der sie faktisch unumkehrbar macht. Das politisch regierende Deutschland ist sprachlich allerdings schon weiter: Es hat Begriffe wie „Deutsche“, „deutsches Volk“ oder „nationale Identität“ aus dem aktuellen Wortschatz gestrichen. Im „Koalitionsvertrag“ von 2018 zwischen CDU/CSU und SPD kommt das Wort „Deutsche“ – immerhin das Staatsvolk – auf 177 Seiten nur zweimal vor: als „kulturelles Erbe der Deutschen in Mittel- und Osteuropa“ (Zeile 8107) und „immerwährende Verantwortung im Kampf gegen den Antisemitismus“ (Zeile 8023), die „wir Deutsche“ haben. Die „Deutschen“ sind also eine geschichtliche Erinnerung.

Die heutigen Bewohner von Deutschland heißen politisch korrekt nicht mehr „Deutsche“, sondern einfach „Menschen“. Von Deutschland zum „Menschland“ – diese Transformation möchte Sarrazin verhindern. Aber auch wer ein Menschland D wünscht, wird das Buch mit Gewinn lesen; denn der Autor trennt strikt zwischen Fakten und Bewertung, und allein die Fakten, die er zusammengestellt hat, lohnen die Lektüre.


Thilo Sarrazin, Der Staat an seinen Grenzen. Über Wirkung von Einwanderung in Geschichte und Gegenwart, Langen Müller Verlag, 480 Seiten, 26,- €


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Kommentare ( 6 )

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christin
3 Jahre her

Nationalbewusstsein, aber auch Nationalstolz, ist bei den heute politisch Verantwortlichen in Deutschland nicht mehr gefragt, das färbt wohl auf einen großen Teil des Volkes ab. Für mich steht fest, in keinem anderen Land würde ein Regierungschef die Nationalfahne ohne Konsequenzen ins Abseits befördern, so wie es die Kanzlerin dieses Landes gemacht hat.

Teufelskralle
3 Jahre her

Die Fakten und Tatsachen liegen auf der Hand oder die Spatzen pfeifen sie von den Dächern. Um diese wahrzunehmen, braucht es eigentlich kein Buch, sondern „nur“ gesunden Menschenverstand. Den kriegt man aber in Verstandsverweigerer und Vernunftsleugner nicht rein. Neulich nur kurze Diskussion über Merkels katastrophale Politik mit einer eigentlich hochintelligenten Person. Antwort: „Uns geht es doch vergleichsweise gut.“ Vergleichsweise gut ging es uns in der DDR auch.

Iso
3 Jahre her

Der zivilisatorische und technologische Beitrag der Herkunftsvölker heutiger Einwanderer ist doch eher marginal, bis nicht vorhanden. Wie wollen diese Leute denn auch nur irgendwas positiv bewirken? Sie sind doch vollkommen hilflos und auf uns angewiesen, können nur niedere Arbeiten verrichten, und sind oft nicht in der Lage unsere Sprache zu erlernen. Noch bedenklicher ist natürlich deren Fortpflanzungsrate, die schließlich auch nur Hilfskräfte hervorbringt, die im Zuge des technologischen Fortschritts ebensowenig gebraucht werden, wie wir bei der jetzigen Wirtschaftspolitik eine Abwanderung der Industrie beobachten können. Was Merkel und die Politik hier angerichtet haben ist ein Schaden, der niemals mehr behoben werden… Mehr

Dieter Kief
3 Jahre her

Bundespräsident Steinmeier würdigt die Bundeswehr, zitiert die Eidesformel, die die Berufssoldaten nachsprechen – und lässt das „Deutsche Volk“ in dieser Formel weg. – Der Bundespräsident Deutschlands will kein Deutscher mehr sein

Thilo Sarrazins Buch „Der Staat an seinen Grenzen“ ist eine gelehrte Fundgrube und an zeitdiagnostischer Verve kaum zu überbieten.

Last edited 3 Jahre her by Dieter Kief
BOESMENSCH
3 Jahre her

Zitat:
„……es hat Begriffe wie „Deutsche“, „deutsches Volk“ oder „nationale Identität“ aus dem aktuellen Wortschatz gestrichen…“

Das ist nur bedingt richtig.
Wenn es um Fussbal geht, dann gibt es keine deutsche Nationalmannschaft mehr, sondern nur noch „die Mannschaft“
Aber immer wenn es um „Schuld“ geht (Kreuzzüge, Kolonialismus, Weltkriege, Holocaust, Klima), dann gibt es wieder den Biodeutschen.

Einer der beliebtesten Sätze von Politikern wie Steinmeier und Maas lautet schließlich:

„GERADE WIR DEUTSCHEN MIT UNSERER GESCHICHTE……..“

Verlogener geht kaum…..

Frank v Broeckel
3 Jahre her

Herr Sarrazin,

da ich als ihr freundlicher DOC von nebenan ja ebenfalls die Demographie, die in Wahrheit einfach nur angewandte Mathematik ist, ebenfalls nicht dauerhaft überlisten kann, verteidige ich als Rückzugsgebiete für bedrängte Indigene Alteuropäer hier in Deutschland heutzutage nur noch einen einzigen Landkreis, den Landkreis Osterzgebirge Sächsische Schweiz und ein Land in Europa, und das ist Tschechien!

Aber das zumindest auch äußerst massivst!

MEHR kann ich ganz alleine ja schließlich auch nicht mehr tun!