Der Psychiater Raphael M. Bonelli legt eines der wichtigsten Bücher des Jahres vor: Er klärt auf, warum alte, funktionale Tabus wichtig sind — und wie linksautoritäre dysfunktionale Tabus als schleichendes Gift in der Demokratie wirken. Von Jörg Hackeschmidt
Jordan Peterson ist einer der erfolgreichsten Autoren und public intellectuals weltweit. Und das durchaus zu Recht. Interessant ist, dass Peterson das politische und gesellschaftliche Geschehen hauptsächlich von der Warte des Psychiaters aus betrachtet. Offensichtlich lassen sich viele Zeitphänomene mit dem Handwerkszeug der klinischen Psychiatrie gut entschlüsseln. Einen ähnlichen Weg beschreitet der Wiener Psychiater und Neurologe Raphael M. Bonelli. Der Mediziner, geboren 1968, verfasste nicht nur Bestseller zu Themen wie: „Bauchgefühle: Wie sie entstehen. Was sie uns sagen. Wie wir sie nutzen“ oder: „Die Kunst des Ankommens: Wie wir unseren Platz im Leben finden“. Er betreibt auch einen viel gesehenen YouTube-Kanal. In Wien arbeitet er als systemischer Therapeut.
Sein jüngstes Buch „Tabu. Was wir nicht denken dürfen und warum“ schlägt einen politischeren Ton an als seine bisherigen Veröffentlichungen. Bonelli betritt damit sozusagen Jordan-Peterson-Gelände. Und das tut er mit Verve und offenem Visier. Wie man auch auf YouTube verfolgen kann, verlor er ganz offensichtlich beim Blick auf die Debattenkultur, das Verhalten vieler sogenannter Leitmedien und das übergriffige Verhalten der tonangebenden Kreise in den Parteien seine Langmut. Ganz offensichtlich ist die Situation in Österreich nicht wesentlich anders als bei uns in Deutschland.
Das Buch zeichnet sich durch eine kompakte Darstellung aus. Bonelli schreibt in einem eingängigen, leicht konsumierbaren Stil. Schon zu Beginn redet er nicht um den heißen Brei herum, sondern setzt mit der Rede von US-Vize-Präsident J. D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2025 über Meinungsfreiheit gleich ein Ausrufezeichen. Vance warf dem EU-Establishment und den deutschen „Mitte“-Politikern vor, die eigenen Werte, namentlich die Meinungsfreiheit, zu verraten, indem sie den demokratischen Diskurs mehr und mehr unterbinden.
Diese Rede, so Bonelli, sei ein klassischer Tabubruch gewesen, was man sowohl an den Reaktionen der anwesenden deutschen Politiker gesehen habe, als auch an den Reaktionen normaler Bürger. Die Reaktion außerhalb dieses Milieus lautete: Großartig, endlich sagt es einer! Wenn ich das sage, steht die Polizei vor der Türe! Die woke Mauer bekam Risse. Vance stellte gleichzeitig die Stigmatisierung unwillkommener Meinungen und die politisch gewollte Tabuisierung dieser Praxis bloß.
Natürliche Tabus versus dysfunktionale Tabus
In den folgenden Kapiteln erklärt Bonelli die psychologischen, historischen und politischen Dimensionen von Sprach- und Handlungsverboten, und analysiert, was er sieben große Tabus der Gegenwart nennt. Außerdem erklärt er die psychologischen (und politisch-manipulativen) Mechanismen, die dafür sorgen, dass Tabus tabu bleiben.
Diese natürlichen Tabus orientieren sich an einer unumstößlichen, objektiven Wahrheit. Sie geben uns Menschen, so Bonelli, „natürliche Orientierung“ und bilden darüber hinaus sowohl die Grundlage als auch den Rahmen einer konstruktiven Weiterentwicklung menschlichen Zusammenlebens. Und sie schaffen zum anderen Freiraum für die Weiterentwicklung des Individuums — was auf den ersten Blick überraschen mag, sich aber schnell als logisch erweist.
Ganz anders verhält es sich mit politisch gewollten, dysfunktionalen Tabus. Sie dienen dem Machterhalt bestimmter Gruppen, indem sie das klare Denken und Sprechen angreifen. Sie spalten oder zersetzen Gesellschaften und schränken die Rede-, Gedanken- und Meinungsfreiheit ein. Sie dienen dem Machterhalt, und beschneiden grundlegende Freiheiten und die Würde des Einzelnen.
Dysfunktionale Tabus zersetzen den „inneren Kompass des Menschen“, und — wie Bonelli sich nicht scheut, eher unwissenschaftlich zu resümieren –, sie „korrumpieren das Herz“. Deshalb, weil sie ihre Untertanen zum Reden gegen die eigene Wahrnehmung zwingen, stützen sich autokratische und totalitäre Systeme so gerne und vehement auf eine Vielzahl dysfunktionaler Tabus und diverse Sorten von „Neusprech“ (George Orwell). Dysfunktionale Tabus fungieren als reine Herrschaftsinstrumente einer Minderheit, die das Nachdenken über gesellschaftliche Probleme und den Kurs eines Gemeinwesens oder einer Nation unterbinden sollen.
Tabus sind nicht gleichwertig
Raphael Bonelli widmet sich beispielhaft sieben „Tabus, die keiner braucht“, darunter dem demografischen Tabu, dem Migrations-Tabu und dem Gottes-Tabu. Mit Blick auf die bis heute nicht sachlich und konstruktiv geführte Migrationsdebatte zitiert Bonelli den (linksliberalen) US-amerikanischen Journalisten Christopher Caldwell, der schon 2009 in einem berühmt gewordenen Buch die Frage stellte: „Kann Europa gleich bleiben mit anderen Menschen darin?“ Caldwell thematisiert im Buch die stille Revolution, die Europa erlebt, nimmt man die immer größer werdende Migration, vor allem aus muslimischen Ländern, zur Kenntnis. Bezeichnenderweise existiert von diesem weltweiten Bestseller bis heute keine deutsche Übersetzung.
Manipulationsmethoden, um Meinungen und Ansichten einer Gesellschaft zu tabuisieren. Hier gerät sein Buch passagenweise zu einer Sammlung aller manipulativen und — man muss das so sagen — schmutzigen Tricks, die überwiegend von linken Medien, Politikern und sogenannten Experten angewandt werden. Das Buch erinnert dabei entfernt an Rolf Dobellis Klasssiker „Die Kunst des klaren Denkens – 52 Denkfehler, die Sie besser anderen überlassen“ von 2011. Dobelli verfasste für die FAZ und die Schweizer SonntagsZeitung wöchentliche Kolumnen über systematische Abweichungen zur rationalen Beurteilung der Realität, im Englischen unter dem Begriff „Biases“-Literatur subsumiert.
Weiter geht es mit psychologischen Phänomenen wie Verdrängung, Verleugnung, der Projektion („illiberal sind immer die anderen“), der Pseudo-Rationalisierung, dem Moral Licensing, der kognitiven Dissonanz, dem Framing und der Täter-Opfer-Umkehr. Es ist erhellend, diese teils gezielt angewandten, teils unbewussten Mechanismen anhand aktueller Beispiele des real existierenden Kulturkampfes unserer Tage erläutert zu bekommen.
Als Quelle der Abschaffung funktionaler, archaischer Tabus und der Durchsetzung dysfunktionaler neuer Verbote macht Bonelli die Bewegung der 68er aus. Die kulturelle Schlagkraft der Studentenrevolte habe dafür gesorgt, dass die Gesellschaft dort steht, wo sie steht. Im Ergebnis erweist sich die „woke“, links-beherrschte Welt bigotter, unfreier und mit weitaus mehr Tabus belegt, als es die „spießigen“ 50er und 60er Jahre je waren.
Das Problem dysfunktionaler Tabus besteht laut Bonelli darin, dass sie sich zumeist gegen das instinktive Empfinden der Menschen richten und ihnen eine Interpretation der Wirklichkeit aufnötigen, die dem gesunden Menschenverstand zuwiderläuft. War es in früheren Zeiten verpönt, offen über Sexualität zu reden, soll durch den Wokeismus unserer Tage sexualisierte Darstellung als Instrument der Freiheit verstanden werden, sofern sie im Transgender-Bereich stattfindet. Die „neuen Anständigen“ erklären es als unannehmbar, Frauen als Frauen zu bezeichnen, und bestehen darauf, dass bärtige Männer Zutritt zu Umkleidekabinen junger Mädchen, zu Frauen-Saunas und Frauen-Häusern erhalten, weil sich diese Personen per Sprechakt zu Frauen erklären (wobei es in diesen Kreisen wiederum keine objektive Definition für „Frau“ gibt. Gleichzeitig feiern es die Verfechter des neuen Anstands, „wenn fragwürdige Männer in Frauenkleidern unschuldigen Kindern aus Büchern vorlesen und von ihrem Sexualleben berichten. Man gibt sich tolerant — auf Kosten der Kinder von anderen.“
Der Westen und seine Werte wurden zu einem Monster stilisiert
Das Zwischenfazit des Psychiaters Bonelli lautet: Der neue, woke „Anstand“ werde getrieben von einem „moralischen Narzissmus“. Man erklärt sich und seine Meinung kurzerhand für moralisch überlegen. Statt um objektivierbare Inhalte geht es um Selbstinszenierung und Wirklichkeitsverleugnung. Dies erklärt auch die bisweilen empört-hysterischen Reaktionen auf J. D. Vances Kritik, die in der politisch-medialen Sphäre nicht diskutiert, sondern einfach als unanständig abgewehrt wurde.
Woher aber kommt dieser moralische Narzissmus, der so tief in der gegenwärtigen europäischen Politik verankert ist? Bonelli bezeichnet ihn als eine Art „letzten Zufluchtsort“, der auf dem großen, alles überformenden Täternarrativ beruht, das namentlich die Linke seit 1968 — und seit wenigen Jahren forciert der Wokeismus — dem Abendland, der westlichen Kultur und Europa anhängte. Der Westen, so Bonelli, sei zu einem „Monster“ stilisiert worden, „wie es die Mythologie nicht besser hätte hervorbringen können“. Schuld an allem Übel seien der Westen und sein Kolonialismus. Naher Osten, CO2-Emissionen, toxische Männlichkeit, Rassismus usw.: alles unser Erbe. Keine feindliche Propaganda könnte ein so verzerrtes Bild des Westens zeichnen, wie es die Wokeismus-Bewegung tut.
So aufschluss- und lehrreich Bonellis Ausführungen auch sind (und so entlastend für Normalbürger, die sich täglich im falschen Film erleben), so beunruhigend ist es, unsere politischen und medialen „Eliten“ in ihrem offensichtlich neurotischen Umgang mit der Wirklichkeit zu erleben. Allen voran Bundeskanzler Friedrich Merz, aber auch die Spitzen zum Beispiel der Grünen — von der Altlinken Claudia Roth bis zur Fraktionsvorsitzenden Britta Haßelmann, die selbst von linksliberalen Kolumnisten die „Zeremonienmeisterin aggressiver Bigotterie“ genannt wird.
Die kognitive Dissonanz eines Friedrich Merz jedenfalls muss mittlerweile schier unerträglich sein, vergleicht man seine dezidierten und unmissverständlichen Ankündigungen vor der Wahl mit seinem irrlichternden Schwadronieren danach, um dem Koalitionspartner SPD und den punktuellen Mehrheitsbeschaffern Grüne und Linkspartei zu gefallen.
Was der Wokeismus und der KGB gemein haben
Bonelli belässt es allerdings nicht bei der Erläuterung von Abwehr- und Projektionsmechanismen, die dazu dienen, dysfunktionale Tabus aufrechterhalten zu können. Im fünften und vielleicht wichtigsten Kapitel erläutert er handbuchartig die Mechanismen und Methoden, wie man dysfunktionale Tabus errichtet und durchsetzt. Und da klingt der Arzt aus Wien sehr politisch. Denn bei diesem Thema verlassen wir das Feld der mehr oder minder unbewussten Abwehr unbequemer Realitäten und betreten das Feld strategisch eingesetzter, vorsätzlicher Täuschung und Irreführung von Menschen bis hin zur sogenannten „Zersetzung“, wie der Terminus technicus im Handbuch der Stasi und des KGB lautet. Also der Schädigung oder gar Vernichtung von Menschen mittels Rufmord, Psychoterror und ähnlicher Methoden.
Bonelli erinnert am Anfang seines Kapitels an den sowjetischen Überläufer Juri Besmenow, der in Kanada 1993 plötzlich und überraschend angeblich an einem Herzinfarkt verstarb. Besmenow, der in Kanada den Tarnnamen Tomas D. Schuman trug, warnte in Vorträgen und Artikeln den Westen vor planmäßiger Subversion und der strategisch vorangetriebenen Arbeit russischer Geheimdienste, das Selbstbild des Westens zu zerstören. 85 Prozent der sowjetischen bzw. russischen Bemühungen seien keine klassische Spionage, sondern gesellschaftszersetzende Maßnahmen. Als vielleicht berühmtestes Beispiel aus diesem Drehbuch bietet sich die beinahe totale Kontrolle der westdeutschen Friedensbewegung in den Jahren vor 1989, ihrer Slogans und Aktionen an.
Es erzeugt jedenfalls mehr als nur Unwohlsein, dass die EU-Kommission und ihre Vorsitzende, die ähnlich wie Merz stets nassforsch auftretende Ursula von der Leyen, den KGB-Begriff der „Desinformation“ aus der Schublade holt. Mit dem Digital Services Act soll vor allem „Desinformation“ unterdrückt werden — wobei nicht nur ausländische Versuche realer Subversion gemeint sind, sondern auch unliebsame Meinungen und Argumente von EU-Bürgern.
Ähnlich geht übrigens die mittlerweile verhasste Labour-Regierung unter Keir Starmer in Großbritannien vor, die allen Kritikern stets vorwirft, sie seien „misinformed“. Dort benutzen die Behörden übrigens auch die Rubrik „legal, but harmful“, in Deutschland: „Meinungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze“.
Das Arsenal derjenigen, die neue Tabus gezielt durchsetzen und den Diskursraum beherrschen wollen, reicht, so Bonelli, von gezielt geäußerten falschen Grundannahmen, „Strohmann-Argumenten“, falschen Dilemmata über „Whataboutism“, diskursiver Brunnenvergiftung, Dämonisierung, Hass- und Schmutzkampagnen, „Gaslighting“ bis hin zu glatten Lügen und klassischen Zersetzungsmaßnahmen gegen Einzelpersonen.
Wir müssen Parrhesianer werden
Rolf Dobelli schreibt im Vorwort zu seinem Buch „Die Kunst des klaren Denkens“, dass sein Wissen um die Denkfehler ihn „ruhiger und besonnener“ gemacht habe, weil er ihnen nun ausweichen könne, bevor sie zu großen Schaden anrichten. Dasselbe könnte man über die Leser von „Tabu“ vermuten. Konservative und Liberale sollten nach seiner Lektüre ruhiger, aber auch selbstbewusster werden.
Am Ende seines Buches beruft sich Bonelli auf den französischen Philosophen und Ex-Marxisten Michel Foucault und dessen Buch „Mut zur Wahrheit“ von 1983. Im Unterschied zur bloßen Rhetorik beginne Wahrheit mit wahrhafter Rede. Die griechische Philosophie hatte dafür sogar einen Begriff: „Parrhesia“. Nur die Parrhesie, der Mut, über alles freimütig zu sprechen, ist ein Mittel gegen Manipulation, Denkvorschriften und Sprachpolizei. Und nur Parrhesie verhilft zum offenen Dialog, zur Weiterentwicklung von Gemeinwesen — und zu innerer Ruhe. Auch wenn man dann mit Gegenwind rechnen muss.
Dieser Beitrag von Jörg Hackeschmidt erschien zuerst auf publico. Politik, Gesellschaft Übergänge. Wir danken für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.
Raphael M. Bonelli, Tabu. Was wir nicht denken dürfen und warum. Edition a, 208 Seiten, 20,00 €






Sie müssenangemeldet sein um einen Kommentar oder eine Antwort schreiben zu können
Bitte loggen Sie sich ein
Hier versucht man durch psychatrische Analyse den Gottesglauben zu ersetzen was der größte Irrtum aller Zeiten ist und selbst die katholische Kirche ihren Machtanspruch an den Nagel gehängt hat und zum Bettvorleger protestantischer Avancen wurde, einschließlich ihrer anhängenden Politik und das schon seit gut 500 Jahren und sich nun im Endkampf befindet, was man freiwillig aufgegeben hat im guten Unglauben ein besseres System gefunden zu haben, was sich noch als der größte Irrtum erweisen wird, denn Metaphysik und Logik steht über allem und nicht der Wunsch nach Selbstverwirklichung irgendwelcher Gestalten, die lediglich wissen, daß sie nicht wissen und das ist… Mehr
„linksautoritäre dysfunktionale Tabus als schleichendes Gift in der Demokratie“ „natürliche Tabus beinhalten…Pädophilie“: Wobei Sie dazu sagen müssen, dass es von der Kultur abhängig ist, in welchem Alter das sexuelle Kindsein endet. Und laut WHO – der wir uns ja unterwerfen – soll in Europa sexuelles Erwachsenwerden sofort nach der Geburt beackert werden. Zwar reden wir mit anderen Begriffen von der Prägephase, wenn wir das Handeln von Zugereisten entschuldigen. Aber wir bekommen die Kurve nicht, wenn es um unsere eigenen Kinder geht. Als ob ein Elternhaus mit einer „wertfreien“ Erziehung keine Prägung ist. Im Zweifelsfall in meinen Augen auf orientierungslos und… Mehr