Alexander Kissler diagnostiziert die infantile Gesellschaft

Zeichen für die Infantilisierung der Gesellschaft gibt es viele. Alexander Kissler, ehemals Redakteur des „Cicero“ und jetzt bei der „Neuen Zürcher Zeitung“ hat ein bemerkenswertes Buch darüber geschrieben.

„Der Wumms ist schon spürbar“, sagte Vizekanzler und Bundesfinanzminister Olaf Scholz kürzlich dem Nachrichtenportal „The Pioneer“ bei der Vorstellung neuer Wirtschaftszahlen. Es werde anerkannt, dass die Bundesregierung mit Konjunkturprogramm und zwei Nachtragshaushalten „so schnell so groß gehandelt“ habe. Scholz bezog sich mit dem „Wumms“ auf eine eigene Äußerung: „Wir wollen mit Wumms aus der Krise“ kommen, hatte er gesagt, und so lautet auch die Überschrift auf der offiziellen Seite der Bundesregierung.

Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, brachte einen ihrer ersten Beiträge zur Corona-Krise in Form eines Videos, in dem sie uns allen ausführlich erklärte, wie man sich die Hände richtig wäscht – dabei die Europahymne summend. Angela Merkel, die den Bürgern zunächst sagte, Masken seien nutzlos (wohl deshalb, weil es keine gab), erklärte wenig später genau, wie man sie benutzt: „Sie müssen regelmäßig gewaschen werden beziehungsweise gebügelt, in den Backofen gelegt oder in die Mikrowelle.“ Der Berliner Senat brachte jüngst eine Broschüre mit 47 Seiten heraus, in der den Bürgern genau erklärt wird, wie sie sprechen sollten und wie nicht – also, dass man beispielsweise den Begriff „Schwarz fahren“ nicht mehr verwenden dürfe. Christian Lindner kritisierte im April 2020, er habe manchmal den Eindruck, „die Regierung spricht zu ihrem Souverän – den Bürgerinnen und Bürgern – wie zu Kindern…“ (S. 211 – diese und alle folgenden Seitenangaben beziehen sich auf das hier besprochen Buch. Anm. d. R.).

Wege aus der selbstverschuldeten Unreife
Kinder an der Macht
Zeichen für die Infantilisierung der Gesellschaft gibt es also viele, und Alexander Kissler, ehemals Redakteur des „Cicero“ und jetzt bei der „Neuen Zürcher Zeitung“ hat ein bemerkenswertes Buch darüber geschrieben. Schon Aldous Huxley, so lernen wir, analysierte, wie das Kind als Begriffsjoker im Gespräch unter Erwachsenen verwendet werde (S. 34). Ein Beispiel dafür ist die Greta-Bewegung. Es geht heute nicht mehr etwa nur darum, auch Kindern zuzuhören, sondern die Gewissheit verbreitetet sich im öffentlichen Diskurs: „Das Kind hat recht, weil es Kind ist, und wer es anders sieht, der mag keine Kinder.“ (S.88). Es sind die Kinder von heute, die geborenen und ungeborenen Enkel, es sind die zornigen Mädchen, auf die man sich beruft, denen man nicht nur zuhören, sondern denen man bedingungs- und vor allem widerspruchslos folgen muss. „Erwachsene zucken zusammen, verfallen in innere Habachtstellung, in sofort zerknirschte Duldungsstarre.“ (S.89)

Kinder gelten als überlegen, weil sie nicht korrupt seien, sich nicht auf taktische Spielchen einließen, weil sie keine Opportunitätskosten berücksichtigten. Dies zumindest sei die „große Hoffnung der Erwachsenen, die sich auf Kinderaugenhöhe beugen“ (S. 96). Zu Unrecht, so Kissler, berufen sich diejenigen, die so denken, auf den Schweizer Philosophen, Jean-Jacques Rousseau. Er schrieb zwar in seinem Émile: „Liebet die Kindheit, begünstigt ihre Spiele, ihre Vergnügungen, ihren liebenswürdigen Instinkt.“ (S. 23) Aber er meinte auch, es gebe kaum „etwas Abstoßenderes und Unnatürlicheres als den Anblick eines gebieterischen und eigensinnigen Kindes, welches seiner ganzen Umgebung Befehle erteilt“. (S. 90 f.)

Anders als zu den Zeiten Rousseaus erscheint das Kind heute als richtende Instanz. „Die heutigen Vulgärrousseauisten wollen sich erziehen lassen zum Kind durch das Kind.“ (S.91). Greta, das Mädchen mit den Zöpfen, wurde von deutschen Bischöfen mit David verglichen, dem Helden und König Israels und die Freitagsdemos mit der biblischen Szene vom Einzug Jesu in Jerusalem (S.92). Die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt meinte, Greta erinnere sie an eine Stelle aus dem Prophetenbuch Amos (S.93).

Die Infantilisierung ist jedoch kein deutsches Phänomen, sondern ein weltweites, schließlich traf sich Greta mit Barack Obama, wurde von der EU, nach Davos und der UN eingeladen, und der UN-Generalsekretär Guterres pries ihren Weckruf. Warum, fragt Kissler, wurde Greta bei den Vereinten Nationen nicht widersprochen? „Weil Emotionen angeblich Authentizität verbürgen, und nach nichts sehnt eine spätmodern erkaltete Gesellschaft sich mehr als nach Authentizität.“ (S. 104). Kindermund tut jedoch nicht immer Wahrheit kund – das, so Kissler, wissen jene Erwachsenen am besten, die sich eine realistische Erinnerung an ihre eigene Kindheit bewahrt haben.

Ebenso erhellender wie grimmiger Lesegenuss
Sprachregime - Die Macht der politischen Wahrheitssysteme
Man könnte hinzufügen: Donald Trump ist in dieser Hinsicht Greta nicht unähnlich. Oliver Luksic hat unlängst beide in einem ebenfalls lesenswerten Buch verglichen. Trump redet in einer einfachen Sprache, die auch ein Kind verstehen kann. Das kommt offenbar bei vielen gut an. Er wird schnell zornig, ist sofort beleidigt, lässt seine Gesprächspartner nicht aussprechen und hat beim Lügen kein schlechtes Gewissen. Andererseits: Er sagt, was er denkt, und wirkt dadurch gerade wieder authentischer als die anderen Politiker mit ihren Sprechblasen der politischen Korrektheit.

In den USA und Großbritannien sind die Universitäten ein Hort der Infantilisierung, dort werden Klassiker gereinigt, Bücher mittels „trigger warnings“ abgemildert (S. 132) und Professoren müssen Warnungen an die Studentenschaft aussprechen, bevor sie in Vorlesungen etwas sagen, das deren zarte Seelen verletzen und traumatische Schocks auslösen könnte.

Dass wir heute überall geduzt werden und sich fast alle Parteien angewöhnt haben, ihre Wähler und Mitglieder mit „Du“ anzusprechen (nicht mehr nur von Genosse zu Genosse) ist mir schon lange übel aufgestoßen. Ich habe manchmal Verwunderung geerntet, wenn mir YouTuber vor Beginn eines Interviews die nur rhetorisch gemeinte Frage stellten, ich hätte doch bestimmt nichts dagegen, geduzt zu werden, weil das hier so üblich sei – und ich daraufhin meinte, ich wolle lieber gesiezt werden.

Selbst die Namen von Gesetzen ähneln immer mehr der Kindersprache: Da gibt es das „Gute-Kita-Gesetz“, das „Starke-Familien-Gesetz“ oder das „Arbeit-von-morgen-Gesetz“ (S. 217).

Die Infantilisierung der Sprache ist indes nicht neu, sie wurde schon in den 80er Jahren maßgeblich von „Alternativen“ befördert, deren Wortschatz dann zunehmend zum Wortschatz des Mainstreams wurde. Fragt man heute Politiker oder Vorstandsvorsitzende, wenn sie eine neue Aufgabe übernehmen, was ihr Motiv gewesen sei, dann antworten sie gerne, dass sie sich auf eine „spannende Aufgabe“ freuten, etwa so, wie Kinder sich auf eine „spannende“ Geschichte freuen.

Alexander Kissler hat – wieder einmal – ein kluges und wichtiges Buch geschrieben, eine kritische Zeitdiagnose. Wer das Buch gelesen hat, wird jeden Tag neue Beispiele dafür finden, die bestätigen, wie Recht er hat. In einer Hinsicht erinnert er mich selbst an ein Kind, und zwar an das Kind aus dem Märchen „Des Kaisers neue Kleider“, das sagt: „Der Kaiser ist nackt!“

Alexander Kissler, Die infantile Gesellschaft. Wege aus der selbstverschuldeten Unreife, Harper Collins, 256 Seiten, 20,- €.


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Kommentare ( 29 )

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29 Comments
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Epouvantail du Neckar
3 Jahre her

Eine Gesellschaft, die sich vor den 19Uhr-Nachrichten seit gefühlten 100 Jahren kritiklos „Mainzelmännchen“ vorflimmern lässt, sollte sich nicht nur den Puls fühlen lassen.

RHU
3 Jahre her

Eine Gesellschaft in der eine ältliche, kinderlose und völlig unattraktive Weibsperson als „Mutti“ bezeichnet wird, ist nicht infantil sondern vollkommen debil.

H. Priess
3 Jahre her

Auf Twitter z.B. kommt es immer wieder vor, daß ich gedutzt werde. Ich antworte immer: Du dürfen Hundertjährige in Begleitung ihrer Eltern zu mir sagen! Bisher ohne Antwort.

Manfred_Hbg
3 Jahre her

Zitat: „Selbst die Namen von Gesetzen ähneln immer mehr der Kindersprache“ > Was die „Kindersprache“ und zB die Verkindlichung Erwachsene betrifft, dies reicht doch mittlerweile rein bis ins Blöd-TV und die Werbung. Wobei ich hier bspw an die völlig bekloppte Werbung mit Haribo und die wie Kinder sprechenden Erwachsenen denke. Wenn ich diese Werbung sehe und vor allem höre, dann bekommeich immer die Krise und frage mich, was sind das für Menschen die sich so etwas hirnloses ausdenken UND als Firmen-Verantwortliche auch noch als „für Gut befunden“ absegnen? Auch hier kann man doch wirklich nix anderes sagen als „lieber Gott,… Mehr

Porcelain by Nocken-Welle
3 Jahre her

*

Zur *selbst*-kritischen Zeitdiagnose gehört auch der Blick aufs Alter:

Eine der ältesten Gesellschaften der Welt sehnt sich danach, was sie nicht geschaffen hat:

die Zukunft in Gestalt des eigenen Nachwuchses zu leben.

Wo man also auf der einen Seite die Unreife beklagt, ist sie auf der anderen Seite hoffnungslos „überreif“.

***

Bernd Simonis
3 Jahre her

Für mich ging es damit los, als Merkel nach der Riesenwelle den Ausstieg aus der Kernkraft verkündete. Seit dem Tag ist die Vernunft sichtbar auf dem Rückzug.

Nico Laus
3 Jahre her

Das „Gute – Kita – Gesetz“ stammt ja auch von der Ministerin mit der Mickey -Mouse – Stimme. Passt doch.
Kinder sind ja auch gut im Abschreiben, das hat Frau Dr. plag. Giffey ja auch getan.

marxzii
3 Jahre her

Ich sehe weniger eine Infantilisierung als eine Feminisierung der Gesellschaft.

Möglicherweise gibt es da aber auch einen Zusammenhang.

Peter Pascht
3 Jahre her
Antworten an  marxzii

„Ich sehe weniger eine Infantilisierung als eine Feminisierung der Gesellschaft“

Können sie mir den Unterschied erklären?

azaziel
3 Jahre her

Infantilisierung ist fuer die Doofen! Die nicht so doofen sehen die lenkenden Haende hinter all den Gretas, die nicht die Haende von Kindern sind.

Harry Charles
3 Jahre her

EBENFALLS EINE FOLGE DER VERWEIBLICHUNG ist diese sehr richtig erkannte Infantilisierung. Warum? Nun, Frauen haben eine Art angeborenen „Beschützerinstinkt“ was Kinder angeht (im Tierreich nennt man es Brutpflegeverhalten). Durch eine an sich grundgesetzwidrige jahrzehntelange Bevorzugung von Frauen im Lehramt („…Frauen werden bei gleicher Qualifikation bevorzugt eingestellt…“) haben wir gerade dort eine extreme Verweiblichung, die für eine funktionierende Gesellschaft wichtigen männlichen Verhaltensanteile fehlen fast völlig. Der männliche Lehrer sieht sich normalerweise überwiegend als Wissensvermittler und seine Schüler als eine Art Kundschaft. Die Lehrerin sieht sie als die „lieben, süßen Kleinen“, die man in Watte packen muss und denen man nichts abverlangen… Mehr

moorwald
3 Jahre her
Antworten an  Harry Charles

Nicht vergessen: auch Lehrerinnen, wenn die lieben Kleinen mal nicht so lieb sind, müssen irgendwie überleben. Sie bedienen sich dann einer subtilen Variante von Psychoterror: Wenn du nicht brav bis, hat „Mutti“ dich nicht mehr lieb. Die am sichersten wirkende Waffe einer Frau: sich als Opfer darzustellen. Letztlich kann man Männer leicht glauben machen, sexuell täten sie der Frau etwas an – gegen deren Willen. Ist das schlechte Gewissen erst einmal fest verankert, steht der Manipulation nichts mehr im Weg. Von da führt dann ein direkter Weg zur Unfähigkeit z.B. gegen eine Merkel aufzustehen. Da unterwirft man sich lieber gleich… Mehr