Mehrere Wirklichkeiten schaffen kein Vertrauen. Transparenz geht anders.
Das erhöht noch einmal den Aufmerksamkeitspegel, wenn in einer Talkshow nicht nur die eigene Stadt, sondern das kleine Leben im eigenen Viertel debattiert wird. So wie bei Anne-Will zum Thema „Bürgerproteste gegen die Flüchtlingspolitik – Werden sie ernst genug genommen?“
Unser Polizeichef ist im TV
Eingeladen war der Braunschweiger Leiter der Kriminalpolizei. Er war es nämlich, der als einer der ersten in Deutschland eine Sonderkommission gründete mit dem Auftrag, sich mit der Kriminalität von Asylbewerbern zu beschäftigen. Nun ist Ulf Küch ein erfahrener und besonnener Mann. Das mag an seiner über 40-jährigen Dienstzeit liegen. Es kann aber auch an den braven Charaktereigenschaft liegen, die er demonstriert: der Junge wirkt geradeaus und trotzdem besonnen, obendrein scharf, wo es angebracht erscheint. Das zusammen genommen erzeugt hohe Glaubwürdigkeit beim Publikum. Es beklatscht ihn gern.
Politisch erwünschte Sachverhalte
Aber natürlich unterliegt der Mann auch Zwängen. So erklärte er gleich zu Beginn, dass er seinem Innenminister ungern auf die Füße trete, er also streng genommen dessen politischen Kurs folgen müsste. Trotzdem werde sich ein Ausscheren im Verlauf der Sendung wohl nicht vermeiden lassen. Hier geht’s wohl schlicht darum, dass bestimmte Sachverhalte politisch eher erwünscht sind und andere mit aller gebotenen Zurückhaltung an den Mann gebracht werden müssen.
Und doch wirkt seine Einschränkung wie der berüchtigte Beipackzetteln bei Medikamenten: Wenn man erst die lange Liste bedrohlicher Nebenwirkungen gelesen hat, will man die Pille nicht mehr schlucken. Und wir lernen, dass es neuerdings eine Schere gibt zwischen wirklicher Wirklichkeit und politischer Wirklichkeit.
Die politische Wirklichkeit, die Ulf Küch dazu vertrat, geht so: Mehr Menschen bedeuten mehr Kriminalität. Und das sei zunächst auch ganz „normal“. Klar, das der Mensch an und für sich sündig ist, das kennt man ja aus dem Religionsunterricht.
Nicht ohne Stolz verkündete Küch, dass man in Braunschweig die Zahlen offen auf den Tisch gelegt hätte. Wie lange es allerdings gedauert hat, bis es so weit war, kann nicht alleine am Unvermögen der Statistiker gelegen haben. Nein, hier wurde nichts vertuscht, aber gezielt abgewartet. Ergebnis dann übrigens: Nein, die Kriminalitätsrate ist nicht angestiegen. Nichtsdestotrotz ist es die Zahl der Delikte selbst, wohlgemerkt nicht die der Kriminalitätsrate. Ein irgendwie tröstlicher Effekt will sich darüber im Viertel nicht einstellen.
Deeskalation statt Information
Die örtliche Zeitung zitierte brav die Polizei, dass die Kriminalitätsrate nicht höher sei, als in der Innenstadt. Dass die Delikte selbst allerdings deutlich angestiegen sind, wird verschwiegen. Nicht Information ist Pflicht, sondern Deeskalationspolitik. Vor Ort bellen die Hunde und manche jaulen wölfisch, lange bevor das Blaulicht flackert. Es flackert jede Nacht und es jault und bellt. Statistik und Wirklichkeit sprechen eine unterschiedliche Sprache; aber die Statistik zählt und nur die.
Bemerkenswert ist eine weitere Rechenart: Wenn von Übergriffen auf Frauen, wenn von Kriminalität gesprochen wird, die nicht angestiegen sei, bezieht sich das augenscheinlich auf den einheimischen Wohnteil, die Vorkommnisse in der Landesaufnahmebehörde scheinen auf einem anderen Papier abgerechnet zu werden. Ist das Lager ein eigener Archipel mit eigenen Menschen, die anders behandelt, gezählt und bewertet werden? Es gibt also noch mehr unterschiedliche Wirklichkeiten.
Kaum ein Tag an dem nicht einmal oder mehrmals drei, fünf oder zehn Polizeiwagen zur Aufnahmebehörde rasen, weil die dortigen Sicherheitsleute den Notruf abgesetzt haben. Dann sind sie selbst nicht mehr Herr der Lage sind. Anwohner, die auf der direkten Zufahrtsstraße wohnen, berichten von mehreren Einsätzen jede Nacht. Eine ständige Ausnahmesituation also, an die man sich auch erst einmal gewöhnen muss. Aber das passt dann wieder nicht in die Deeskalationsstatistik. Ist es schon Hetze, den mit eigenen Ohren gehörten Sirenen mehr zu trauen als den gehörten Statistiken?
Und es sind in Braunschweig ganz sicher keine AfD-Politiker, die Sorgen schüren. Hier erklärt einem hinter vorgehaltener Hand der Polizeibeamte auf der Straße, dass längst nicht alles in die Presse kommt. Hier berichtet die Kassiererin des Supermarktes davon, dass Diebstähle nicht mehr zur Anzeige kämen, wozu auch? Da ist nichts zu holen, der fremde Archipel der Nachforschung entzogen.
Wer ändert die Umstände?
Und hier genießen Kinder und Jugendliche nicht mehr die selben Freiheiten wie zuvor, weil sich die Eltern berechtigterweise Sorgen machen, wenn beispielsweise in der Zeitung zu lesen war, das zwei Afrikaner nachts mit heruntergelassener Hose im Eingang eines Ladengeschäftes über einer unten herum entkleideten weiblichen Person erwischt wurden, die sie zunächst volltrunken gemacht und dann vergewaltigt haben. Sicher ein drastischer Fall, aber auch drastische Fälle häufen sich eben, wie es der Braunschweiger Polizeichef richtig erklärte, zwangsläufig auch mit der ansteigenden Zahl der Menschen, die hier auf immer engerem Raum gezwungen sind, zusammenzuleben. Es sind eben die Umstände, nicht die Täter, die verantwortlich sind.
Klar, Küch mag Recht haben, bezogen auf die Zahl der Menschen, die hier wohnen, mag das nur ein linearer Anstieg von Straftaten sein. Aber warum argumentieren die zuständigen Fachleute immer noch bemühter, dass die Situation in so einer Aufnahmebehörde auf engen Raum Aggressionen verstärken würde? Hilft das den Betroffenen? Dass sich diese Aggressionen nicht demnächst an ihnen und ihren Kindern entladen, interessiert die Anwohner hier mehr, als die Frage, welche Zahlen dann möglicherweise korrigiert werden müssten.
Spannend wird das auch für den Polizeichef, denn er muss diesen Anstieg mit seinen vorhandenen Kräften bewältigen. Und da leistet die Braunschweiger Polizei vorbildliche Arbeit. Wenn der Hund also öfter heult, dann weiß man zumindest, dass die Jungs ihre Arbeit machen. Und das hat dann für die meisten Braunschweiger vor Ort wieder etwas Beruhigendes. Und wenn mit einem Ulf Küch auch noch der „eigene Mann“ bei Anne Will veröffentlicht wird, das fühlt sich, unabhängig vom tatsächlich Verhandelten, auch noch ziemlich gut an.
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