Feindbild Zucker

Plätzchen, Kuchen, Schokolade und Süßigkeiten gehören zur Adventszeit. Es gibt keinen Grund, darauf zu verzichten. Zu Weihnachten kommt bei vielen Familien ein traditionelles Festessen auf den Tisch. Wir werden es überleben. Von Detlef Brendel

picture alliance / dpa Themendienst | Silvia Marks

Die meisten Menschen essen, worauf sie Appetit haben und was ihnen schmeckt. Das ist gut so. Damit haben sie eine deutlich steigende Lebenserwartung erreicht, obwohl sie nach Meinung von Ernährungs-Ideologen mit traditioneller Kost von Mahlzeit zu Mahlzeit ihrem Ende immer näherkommen sollten. Vegetarisch oder am besten vegan sollten sie sich ernähren.

Doch sie essen in der Mehrzahl ausgewogen, was ihnen die Wissenschaft, solange sie sich an Fakten statt an Ideologien orientierte, empfohlen hat. Die heute gepriesenen Ersatzprodukte, bei denen aus Hülsenfrüchten Schnitzel komponiert werden, sind Nischenprodukte. Daten des Statistischen Bundesamtes zufolge belief sich der Wert der hierzulande hergestellten veganen oder vegetarischen Burger, Fleischbällchen oder Nuggets auf 647,1 Millionen Euro in 2024. Zum Vergleich: Im selben Jahr wurden Fleisch und Fleischerzeugnisse im Wert von gut 44,3 Milliarden Euro produziert. Die Fleischproduktion übertrifft den Fleischersatz also um den Faktor 70. Dennoch ist der Fleischkonsum in Deutschland rückläufig. Mit etwa 52 Kilogramm wies der jährliche Pro-Kopf-Verzehr im vergangenen Jahr den niedrigsten Wert seit 1989 auf.

Zu den ernährungsbedingten Krankheiten zählte früher manchmal eher die Mangelernährung. Übergewicht war relativ selten. Die Zeiten haben sich geändert. Heute haben wir ein reichhaltiges Angebot von Nahrungsmitteln. Und da in der modernen Gesellschaft parallel die körperliche Aktivität, die zu den maßgeblichen Faktoren der Kalorienverwertung zählt, kontinuierlich geringer wird, zeigen sich bei manchen Menschen die Resultate einer guten Kost in überschüssigen Pfunden. Mit steigendem Wohlstand, das belegen zahlreiche internationale Studien, steigt auch das Risiko von Übergewicht. Ein Risiko für das Leben muss aber auch das nicht sein. Zumal es sich durch eine Balance von ausgleichender Bewegung und maßvollem Essen wirkungsvoll reduzieren lässt. Auch dazu ist die Studienlage beeindruckend.

Geschäfte mit fadem Geschmack

Informationen über angeblich richtige Ernährung, über richtungweisende Erkenntnisse aus einer Flut von mehr oder weniger belastbaren Studien, Parolen gegen die Hersteller von Nahrungsmitteln und andere Attacken auf die Geschmacksnerven der Verbraucher sind inflationär. Sie sind nicht das Resultat wissenschaftlichen Fortschritts, sondern in vielen Fällen Zeichen von Geschäftstüchtigkeit.

Für gute Geschäfte braucht man einen attraktiven und tragfähigen Markt. Weil Ernährung ein tägliches Ritual aller Menschen ist, besteht hier ein gewaltiges Marktpotential, um sich beruflich und wirtschaftlich zu verwirklichen. Geschäftige Gurus und Influencer, Anbieter von alternativer Kost oder Propheten von Ideologien gehören dazu. Kreative Ernährungsforscher können ohne Kausalitäten zu ermitteln mit Beobachtungsstudien ihre Existenzberechtigung nachweisen.

Mit Spendenkampagnen Geld verdienende Unternehmen wie die Essensretter von Foodwatch entwickeln laute Auftritte, um mediale Wahrnehmung zu schaffen und Geld einzusammeln. Wenn es dann noch gelingt, einfache und leicht merkfähige Feindbilder zu erzeugen, ist die Basis für öffentliche Aufmerksamkeit definiert.

Für diese Aufmerksamkeit werden immer wieder die gleichen Hebel bedient. Fett, Zucker, Salz, die in einer Zubereitung von Nahrung praktisch immer vorkommen, und dann noch die Herstellung von Fertigprodukten durch die Lebensmittelwirtschaft müssen reichen, um Karriere als Ernährungs-Ideologe zu machen. Dazu kommt noch das Thema Übergewicht, für das früher wöchentlich neue Schlankheitsdiäten propagiert wurden. Das will man heute über Strafsteuern auf unliebsame Rezepturen regeln obwohl bisherige Studien belegen, dass sie auf der Waage keinen Effekt zeigen.

Bei der Klassifizierung von angeblich ungesunden Nahrungsmitteln machen es sich die Strategen besonders einfach. Der Gehalt von Fett, Zucker und Salz wird zum Kriterium für die Akzeptanz eines Nahrungsmittels gemacht. Mit dem Salzgehalt eines Lebensmittels kann es keine Kausalität für Übergewicht, das bekämpft werden soll, geben. Für diese Erkenntnis ist kein ernährungswissenschaftliches Studium notwendig. Aber Wissenschaft wird ohnehin in der Diskussion ignoriert, in der es um Meinungen und konstruierte Korrelationen statt um evidenzbasierte Kausalitäten geht. Vorurteile schaffen Urteile.

Grenzwertige Grenzwerte

Jeder schafft sich Kriterien und Grenzwerte, so wie er sie für seine Zwecke braucht. Ein eindrucksvolles Beispiel für die Ignoranz gegenüber Fakten liefert der ideologisch verteufelte Zucker. Die mit wissenschaftlicher Akribie arbeitende Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hat bereits Ende 2021 in einem Gutachten festgestellt, dass die wissenschaftliche Literatur keine Erkenntnisse für einen Zuckergrenzwert liefert. Die EFSA dokumentiert, dass keine begründete Aufnahmemenge für Zucker festzulegen ist. Aber warum soll man sich von Wissenschaft in seinen ideologischen Vorstellungen stören lassen? Schuldig ist der Zucker aus ideologischer Sicht trotzdem. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, wenn es um die Aufmerksamkeit von Kampagnen geht.

Was schmeckt, muss auf den Index

Es gibt neue Anschuldigungen, um speziell den Zucker als Verursacher aller Übel darzustellen. Das beginnt damit, dass dieser die fatale Eigenschaft hat, den meisten Menschen gut zu schmecken und er deshalb in vielen Lebensmitteln vertreten ist. Man müht sich, ihn als einen Schadstoff zu diskriminieren. Die Gegner der Lebensmittelwirtschaft drehen mächtig auf. Jetzt wird strategisch geschickt die Herstellung von Lebensmitteln grundsätzlich angegriffen. Die Hersteller schaden, so der Vorwurf, mit Fertigprodukten ihren Kunden. Alles, was von der Praline über den Energieriegel bis zur Fertigpizza produziert wird, ist bedenklich.

Verantwortungsvolle Forscher kritisieren, dass ein Lebensmittel nicht automatisch ungesund ist, nur weil es hoch verarbeitet ist. Eine aktuelle italienische Studie bringt zudem den wissenschaftlichen Grundsatz in Erinnerung, dass für die qualitative Beurteilung von Nahrungsmitteln Inhaltsstoffe und Kalorien mehr Bedeutung haben als subjektive und wahllose Verarbeitungskriterien. Auch der Angriff auf Ultra-Processed Food (UPF), also hochverarbeitete Lebensmittel, wird mit Zucker identifiziert.

Wenn man keine wissenschaftlichen Fakten hat, braucht man auch keinen Anstand. Hauptsache Phantasie, um sich als Pseudo-Fachmann zu profilieren. „Fertignahrung: Ist Zucker das neue Kokain?“ lautet eine irrwitzige Darstellung, die nicht in der Bild, sondern bei DocCheck erschienen ist. Damit ist die Thematik bei irreführenden Behauptungen angekommen, der bereits bestens als Unfug widerlegt sind.

Ein sich als investigativer Experte verstehender Dr. Franz-Werner Dippel führt einen Angriff gegen die Hersteller von Nahrungsmitteln. Es wird als pure Hinterlist der Industrie dargestellt, dass Fertiggerichte geschmacklich attraktiv sind. „Durch die Zugabe von Aromen, Geschmacksverstärkern und Süßstoffen wurden die Fertigprodukte in den letzten 60 Jahren immer schmackhafter und verführerischer. Gleichzeitig wurde das Mundgefühl der Produkte durch technologische Prozesse verfeinert und optimiert.“ Kundenorientierten Fortschritt scheint der Biologe nicht erkennen zu können, sondern nur eine gesundheitsschädliche Strategie.

Seine Behauptung: „Fertigprodukte weisen eine künstlich veränderte Nährstoffzusammensetzung sowie eine unnatürliche Konsistenz und Struktur auf.“ Wer das weiß, muss sich nicht mit ihrer Analyse beschäftigen. „Mehr als jeder achte Erwachsene im Alter von 50 bis 80 Jahren ist süchtig nach hochverarbeiteten Lebensmitteln. Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer.“ Rationale Gründe für den Kauf von Convenience-Produkten interessieren nicht. Es sind nach Erkenntnis von Dippel einfach nur Junkies.

Der Mann weiß, warum das so ist. Über Glücksgefühle im Gehirn entsteht eine angebliche Sucht mit zwanghaftem Essverhalten. Sogar die süchtigen Ratten aus einem neurowissenschaftlichen Versuch werden wieder ins Rennen gebracht. Zucker als Suchtmittel. Mancher Unsinn lässt sich nicht ausrotten. Die Studie zur Zucker-Abhängigkeit von Ratten wurde 2001 von dem Psychologen Dr. Bart Hoebel an der Princeton University gemacht. Nach eigener realistischer Bewertung des Forschers zeigt der Versuch kein Suchtverhalten, sondern lediglich eine Präferenz für guten Geschmack.

Weder Wissenschaft noch Moral setzen Dippel offenbar Grenzen. So werden zur Therapie auch noch die Medikamente gegen Drogenabhängigkeit angeführt. „Erste Hinweise deuten darauf hin, dass Medikamente, die zur Behandlung von Drogenabhängigkeit wie Naltrexon und Bupropion verwendet werden, auch bei Lebensmittelabhängigkeit helfen könnten.“

Auch das ist bekannt und von seriösen Medizinern massiv kritisiert worden. Bereits im April 2006 ist an der Queensland University (QUT) in Australien die erschütternde Erkenntnis gemacht worden, dass der gute Geschmack von Zucker glücklich macht und deshalb der Behandlung bedarf. Damals empfahl Prof. Selena Bartlett von der QUT, die sich Meriten mit der Profilierung eines Präparats zur Rauchentwöhnung verdient hatte, dieses auch gegen Zuckersucht einzusetzen. Das führe zu einer Blockade des Belohnungs- und Lustzentrums im Gehirn, um es für das im Körper ausgeschüttete Dopamin unempfindlich zu machen.

Das hat allerdings eine logische und unerfreuliche Konsequenz. Definierte Nebenwirkungen sind Depressionen, suizidale Neigungen und gewalttätiges Verhalten. Die segensreichen Entwöhnungspillen müssen deshalb seit 2009 einen Warnhinweis tragen. Statt von der Brücke zu springen, sollte man besser eine Tafel Schokolade essen. Das Leben wäre lebenswerter und länger.

Verhütungsmittel Schokolade

Eine alarmierende Headline zu einem neuen Komplex der Agitation gegen Zucker. Eine durchaus renommierte Tageszeitung schreibt: „Zucker ist der Feind der Männlichkeit“. Schon eine Tafel Schokolade könne schwerwiegende Folgen für die Fruchtbarkeit haben, wird behauptet. Wenn keine Kausalitäten vorliegen, werden Korrelationen aus Beobachtungen konstruiert. So auch in diesem Fall. „Die Studienlage gibt zumindest Hinweise darauf, dass bereits kurzfristige Naschattacken an der hormonellen Männlichkeit nagen.“

Warum das so ist, muss noch diskutiert werden. Man weiß es nicht. Für das strategische Ziel werden selektiv Studien zusammengesucht. Hauptsache ist, dass der Angriff funktioniert. Das Gerücht über die angeblich testosteronfeindliche Schokolade sollte die Adventszeit nicht beeinträchtigen. Hygge nennen die Dänen den Zustand von Gemütlichkeit und Kuscheln. Er macht glücklich. Man sollte nur keine Pillen zur Blockade nehmen, sondern bewusst genießen.

Detlef Brendel ist Wirtschaftspublizist.

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Kommentare ( 3 )

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Thorsten Maverick
2 Stunden her

Zucker ist aber ein riesiges Problem. Er ist überall versteckt enthalten, weil er ein Geschmacksträger ist. Beim Konsum fährt der Blutzuckerspiegel Achterbahn. Beim Fett muß man stark unterscheiden. Tierische Fette und natives Olivenöl sind wichtig, die raffinierten Öle und gehärteten Pflanzenfette sind ziemlich schädlich. Vollkornmehl ist besser als Weißmehl und Reis sollte man auch nicht schälen. Generell kann man schon sagen, daß es besser ist Lebensmittel möglichst wenig verarbeitet zu essen. Wie immer macht es die Dosis. Ich bin für strengere Anforderungen an Bioprodukte. Vollkorn, nicht pasteurisiert, nicht raffiniert, überhaupt vollständige Deklaration aller Zutaten und Verfahren. Es fehlt die Transparenz.

Moses
14 Stunden her

Zucker vor Belastung und vor dem Schlaf darf man nicht gleich bewerten.
Die Menge vom Zucker in Jogurts, besonders für Kinder wäre sehr sinnvoll zu halbieren.
Leider Autor nicht erwähnt, dass unter nützlichen Schokoladen nur bittere Schokolade gemeint wurde.
Dass zu viel Zucker für unseres Immunsystem nicht gut ist, ist schon deutlich bewiesen.

November Man
17 Stunden her

Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Günther von der CDU fordert eine bundesweite Zuckersteuer. Mit welchem Recht? Wer keinen Zucker essen will braucht es schließlich nicht zu tun. Das steht jedem Menschen frei. Braucht dieser Staat noch mehr Geld für Migration und den Ukraine-Krieg um korrupten Politikern ihr Leben zu versüßen? Beides wollen wir nicht, brauchen wir nicht, dort könnten wir könnten hunderte Milliarden einsparen, anstatt den Bürgern mit noch mehr Steuern ihr letzte Geld aus der Tasche zu ziehen. Aber genau das will die CDU. Neue Steuererfindungen und Steuererhöhungen. Nicht nur die Grünen, auch die SPD und die CDU muss man sich als… Mehr