„Verweilverbot“ oder die Gnade der frühen Geburt von Johann Wolfgang Goethe

Zum Glück von Johann Wolfgang Goethe und von allen nach ihm, die ihn hören wollen, gab es damals noch kein „Verweilverbot”.

picture alliance/dpa | Roland Weihrauch
Goethe tritt in Faust II für die Überwindung einer absolutistischen Feudalgesellschaft in einer Gemeinschaft freier Bürger ein. Freies Unternehmertum, Kapitalismus, Industrie, Eigentum als Verpflichtung, nahezu alles, was später geschah, Kollateralschäden eingeschlossen, packt Goethe in sein Spätwerk: Nicht zuletzt auch das Scheitern der menschlichen Hybris, die Natur beherrschen zu wollen.

Faust.
Ein Sumpf zieht am Gebirge hin,
Verpestet alles schon Errungne;
Den faulen Pfuhl auch abzuziehn,
Das Letzte wär’ das Höchsterrungne.
Eröffn’ ich Räume vielen Millionen,
Nicht sicher zwar doch thätig-frei zu wohnen.                                                          Grün das Gefilde, fruchtbar; Mensch und Heerde
Sogleich behaglich auf der neusten Erde,
Gleich angesiedelt an des Hügels Kraft,
Den aufgewälzt kühn-emsige Völkerschaft.
Im Innern hier ein paradiesisch Land,
Da rase draußen Fluth bis auf zum Rand,
Und wie sie nascht gewaltsam einzuschießen,
Gemeindrang eilt die Lücke zu verschließen.
Ja! diesem Sinne bin ich ganz ergeben,
Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft’ ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in Aeonen untergehn. –
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick.

Mephisto verliert die Wette mit Gott. Faust stirbt, aber sein Werk bleibt:

Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in Aeonen untergehn.

Goethes Vermächtnis ist unsterblich:

Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft’ ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!

Zum Glück von Johann Wolfgang Goethe und von allen nach ihm, die ihn hören wollen, gab es damals noch kein „Verweilverbot”.

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Kommentare ( 33 )

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Lichtenberg
3 Jahre her

„Ich tippe auf maximal das „Eine Prozent“, oder „Promill“
Nur sehr wenige, und gegen große Widerstände. Siehe z. B. „Hammerstein oder der Eigensinn“ von H. M. Enzensberger

Pankratius
3 Jahre her

Tja, verehrter Herr Goergen, ich muss Ihnen leider den Tort antun und sagen, dass Sie Goethes Faust in puncto „Verweilverbot“ zu 100% falsch verstanden haben. Goethes Faust wollte lebenslang ein Verweilverbot für sich und nannte sich selbst den „Unmensch ohne Rast und Ruh'“. Die Wette mit Mephisto ging ja gerade darum, dass Faust bot, NICHT zu rasten: „Werd’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zu Grunde gehn! Dann mag die Totenglocke schallen, Dann bist du deines Dienstes frei, Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen,… Mehr

Tesla
3 Jahre her

In Erfurt soll nun eine neue Verrücktheit „getestet“ werden. Dazu schreibt der MDR:
„Die Stadt Erfurt will ein Experiment starten: An zwei Tagen sollen die Innenstadt-Geschäfte in Erfurt öffnen dürfen. Erfurter mit einem negativen Corona-Schnelltest bekommen ein Bändchen und dürfen shoppen – so der Plan.“
https://www.mdr.de/thueringen/mitte-west-thueringen/erfurt/corona-lockdown-einzelhandel-oeffnung-innenstadt-schnelltest-100.html
Da wird wohl so etwas wie eine neue Form von „Apartheit“ getestet. Früher wurden in Deutschland mal Menschen mit Gelbem Stern vom Einkaufen ausgeschlossen. Einfach nur noch gruselig.

Peter Mueller
3 Jahre her

Nein, den modernen Geßlerhut gibt es schon wesentlich länger: Es ist die Maske. Die Maske ist Geßlerhut, Uniform und neuer Deutscher Gruß zugleich – sie erfüllt nämlich genau diese Funktionen.

Und nein. So paranoid ging es bei weitem nicht mal in der DDR zu. Glauben Sie’s einfach. Ich kann das beurteilen, ich habe es nämlich jahrzehntelang erlebt. Das, was ich heute erlebe, ist dagegen wesentlich paranoider.

gast
3 Jahre her

Das Verweilverbot erlässt ja noch nicht einmal dieses neu gegründete Kaffeekränzlchen von Merkel und Ministern. Das erlassen die kleinen Stadthalter.

Kassandra
3 Jahre her
Antworten an  gast

Genau deshalb wird man sie nicht ungeschoren davon kommen lassen dürfen. Auch der durchgesetzte Maulkorb im Freien ist eine durch nichts bewiesene Zumutung.

usalloch
3 Jahre her

Ein “Verweilverbot” gab es zur Zeit Goethes nicht. Aber es gab schon realistische Zeitgenossen, die nach Goethes ableben konstatierten , Freiheit, sei eines der kostbarsten Güter der Einbildung. ( Ambrose Bierce) Und dieses Gut wird wieder einmal auf dem Markt des Internationalismus verhökert.

Vox critica
3 Jahre her

Das Kompositum „Verweilverbot“ sollte zum Unwort des Jahres 2021 gekürt werden, denn es steht als pars pro toto für den ganzen proto- bzw. paratotalitären Wahnsinn der dt. Corona-Politik.

Jochen Selig
3 Jahre her

Goethe beschrieb einst die EU (Faust II): So hört und schaut das schicksalschwere Blatt, Das alles Weh in Wohl verwandelt hat. (Er lies’t.) „Zu wissen sey es jedem der’s begehrt: Der Zettel hier ist tausend Kronen werth. Ihm liegt gesichert, als gewisses Pfand, Unzahl vergrabnen Guts im Kaiserland. Nun ist gesorgt, damit der reiche Schatz, Sogleich gehoben, diene zum Ersatz.“ Kaiser. Ich ahne Frevel, ungeheuren Trug! Wer fälschte hier des Kaisers Namenszug? Ist solch Verbrechen ungestraft geblieben? Schatzmeister. Erinnre dich! hast selbst es unterschrieben; Erst heute Nacht. Du standst als großer Pan, Der Kanzler sprach mit uns zu dir heran:… Mehr

Wilhelm Roepke
3 Jahre her

Ich habe mir selbst ein Verweilverbot auferlegt. Bei Talkshows von ARD und ZDF. Bis jetzt habe ich bei mir keine Verstöße festgestellt. Ja im Gegenteil, mir fällt es sogar relativ leicht.

Onan der Barbar
3 Jahre her

„Goethes Vermächtnis ist unsterblich?“
Im Jahr 2100 wird Deutsch eine untergegangene Sprache sein, für die – und deren Literatur, bzw. den Teil derselben, der die akute „Reinigungswelle“ überstanden haben wird – es weltweit noch eine Handvoll Lehrstühle gibt, vergleichbar mit Assyrologie oder Mayanistik. Die deutschen Behörden hängen ja mittlerweile einsprachig türkische Schilder auf (neulich aus Heidelberg zu sehen).