Lass uns mit der Liebe beginnen, jetzt, wo alles zu Ende geht

Mit „Vernichten“ erzählt Michel Houellebecq die Geschichte einer unwahrscheinlichen Heilung. In seinem scheinbar sanften neuen Roman ist der Autor politisch wie eh und je. Denn in der Welt, die er entwirft, werden Provinz, Familie und Bindung plötzlich zur Subversion

Um es gleich zu sagen, es gibt von Houellebecq kürzere und auch dichtere Bücher. In seinem Erstling „Ausweitung der Kampfzone“ von 1994 brauchte er nur 155 Seiten, um eine Geschichte zu erzählen, die der Leser nicht mehr vergisst. „Vernichten“ füllt 615 Seiten, was nicht nur, aber auch an dem liegt, worüber er schreibt: es handelt sich um einen beinahe klassischen Familienroman, doppelt eingerahmt durch eine politische Nebenhandlung und einen globalen Geheimdienstplot. Ganz zum Schluss, in der Danksagung, deutet Houllebecq an, dieser Roman sei sein letzter („für mich ist es Zeit, aufzuhören“). Natürlich könnte es bei einem Autor wie ihm auch ganz anders kommen. Aber „Vernichten“ wirkt tatsächlich wie ein sehr großer, geradezu ausladender Schlusspunkt in seinem Werk, weil der Roman trotz des Titels und trotz des Stoffs (Krise, Krankheit, naher Tod) einen gut verpackten Kern in sich trägt, mit dem sich Houllebecq bisher noch nie so intensiv beschäftigt hatte: Der Autor erzählt auf eine paradoxe Weise von Heilung und vom Wiedergutwerden einer eigentlich schon zerstörten Liebesbeziehung.

In der Büchse der Pandora steckte bekanntlich neben dem vielgestaltigen Unglück auch die Hoffnung (die in der Büchse bleibt, weil deren Deckel dann zu schnell wieder verschlossen wird). „Vernichten“ entspricht ziemlich genau diesem Pandoraprinzip. Auch hier muss der Leser zusehen, dass ihm das Heilungs- und Hoffnungsmotiv nicht entgeht.

Wie immer bei diesem Autor steht ein mittelalter gutsituierter Mann aus dem bürgerlichen Milieu im Zentrum des Geschehens. Das Sechshundert-Seiten-Trumm erzählt die Geschichte von Paul Raison, knapp fünfzig, ENA-Absolvent, Beamter und einer der engsten Mitarbeiter des französischen Wirtschaftsministers Bruno Juge. Von Paris und dem Ministerium aus wirft Houllebecq sein episches Netz über Pauls Familie und in die französische Provinz. Dort, aus Pariser Sicht in der Peripherie und unter sehr normalen, fast biederen Leuten spielt ein großer Teil des Romans. Der Autor verbirgt nicht, dass er mit diesem Personal sympathisiert. Kaum etwas lässt sich so schwer beschreiben wie das Biedere, sogar für jemand wie Houellebecq, dessen Blick zwar nie zynisch ist – diese Unterstellung zählt zu den größten Missverständnissen seiner Kritiker – andererseits aber auch völlig unverklärt.

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Im Leben dieser normalen Leute in dem kleinen Ort namens Saint-Joseph, gruppiert um Pauls von einem Schlaganfall gelähmten Vater liegt allerdings etwas Subversives unter den Bedingungen des leicht dystopischen Frankreichs von 2027, in dem „Vernichten“ spielt. Figuren an der Peripherie wie Pauls Schwester Cécile und ihr Mann Hervé leben längst nicht mehr mit dem Strom der Gesellschaft. Sie leben dagegen an, genauso wie die Freundin des Vaters und Pauls Bruder Aurélien.

In dieser nicht so fernen Zukunft geht die Teilung noch tiefer als heute; die Wirtschaft der Großunternehmen floriert wieder, auch dank der Politik des begabten Technokraten Juge lassen französische Autohersteller ihre deutschen Konkurrenten sogar hinter sich. In vielen Gegenden jenseits von Paris und den großen Städten gehören Verarmung und Verfall trotzdem zur Normalität. Niemand glaubt dort ernsthaft noch an eine Wende zum Besseren. Gesellschaftliche Kommunikation gibt es fast nur noch durch das Fernsehen und die Internetplattformen, die Presse hat, wie es an einer Stelle heißt, „fast alle ihre Leser verloren“. Ein bekannter Fernsehkomiker tritt als aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat an.

Auf diese Gesellschaft, in der die Teile nur noch lose zusammenhängen, trifft die Anschlagsserie einer anonymen Untergrundbewegung, die Botschaften in einer unentzifferbaren Zeichensprache zusammen mit Aufnahmen ihrer Aktionen über das Internet sendet. Ganz am Anfang des Romans verbreiten die Unbekannten ein computergeneriertes Video, das die Hinrichtung Juges mittels einer Guillotine zeigt, wobei die Animation so perfekt wirkt, dass sich die Experten des Geheimdienstes DGSI die Frage stellen, welche Organisation über die dafür nötigen Großrechner verfügt. Auf die virtuelle Enthauptung folgt ein echter Anschlag, die Versenkung eines chinesischen Containerschiffs mit Kurs auf Europa durch ein technisch avanciertes Torpedo, mit der die unbekannte Terrororganisation alle Lieferketten aus Ostasien in Frage stellt.

In diesem Romanstrang entwirft Houellebecq ganz nebenbei eine Entglobalisierung mit erstaunlichem Anklang an das Decoupling der Handelsbeziehungen zu Russland und auch zu China, an dem sich Politiker des Westens gerade versuchen. Der Autor beweist nicht zum ersten Mal ein Talent zur literarischen Vorahnung; sein Roman „Unterwerfung“ über eine islamische Machtübernahme in Frankreich erschien am 7. Januar 2015, dem Tag des Massakers in der Redaktion des Satireblatts „Charlie Hebdo“. Der Plot von der apokryphen Macht im Untergrund und dem Versuch des Geheimdienstes, wenigstens den Sinn der Anschläge zu entschlüsseln, führt zwar zu Paul, denn sein Vater, ein pensionierter DGSI-Mann, scheint etwas über die Hintergründe zu wissen. Mit dieser Fährte täuscht Houellebecq seine Leser. Was wie ein Thriller im Stil von Thomas Pynchon beginnt, führt ganz woanders hin.

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Auch in Pauls Leben hängen die einzelnen Teile seiner Existenz am Beginn der Geschichte bestenfalls noch schwach aneinander. Mit seiner Frau Prudence lebt er seit zehn Jahren in einer zwischen den beiden aufgeteilten Eigentumswohnung, selbst im Kühlschrank herrscht eine strikte Trennung zwischen seinem und ihrem Bereich. Um ihre kalte Ehe zu beschreiben, genügt Houellebecq ein Satz: „Allein zu schlafen fällt schwer, wenn man nicht mehr daran gewöhnt ist, man friert und fürchtet sich; doch dieses beschwerliche Stadium hatten sie längst hinter sich gelassen; sie hatten eine Art vereinheitlichte Hoffnungslosigkeit erreicht.“

„Vernichten“ kehrt den Lauf klassischer Familienromane um, die üblicherweise von einem Niedergang erzählen. Nach dem Schlaganfall seines Vaters fährt Paul nach Saint-Joseph, auch die anderen Familienmitglieder kommen im Haus der Eltern zusammen. Dort stellt Paul fest, dass es doch noch so etwas wie eine letzte, aber eben auch elementare Bildung gibt. In der Provinz entsteht um ihn herum eine Gegenwelt, die er bisher höchstens im Augenwinkel wahrgenommen hatte. Zu den kleinen, aber bedeutenden Fußnoten dieser Schilderung gehört, dass Paul, der politisch etwa in der Mitte steht, einen Modus mit seinem Schwager Hervé findet, der ganz selbstverständlich Le Pen wählt und nie etwas anders wählen würde. Auch darin liegt das Motiv einer Heilung:  Es muss nicht alles ausgekämpft werden. Wo das Politische nicht mehr verbindet, kann das Private und Familiäre trotzdem und sogar erst recht existieren.

„Familie und Ehe“, lässt Houllebecq seine Hauptfigur in einer der vielen halbessayistischen Passagen denken, „waren die beiden verbliebenen Pole, die das Leben der letzten Bewohner des Abendlandes in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts ordneten. Andere Modelle waren von Menschen, denen das Verdienst zukam, die Abnutzungserscheinungen der traditionellen Modelle vorauszuahnen, vergeblich in Betracht gezogen worden, ohne dass es ihnen gelungen wäre, neue zu entwickeln, und deren historische Rolle war daher gänzlich negativ gewesen. Die liberale Doxa ignorierte weiterhin beharrlich das Problem, erfüllt von ihrem ebenso unbedingten wie naiven Glauben, das Lockmittel des Profits könnte jeden anderen menschlichen Ansporn ersetzen und allein die für die Aufrechterhaltung einer komplexen sozialen Organisation erfolgreiche geistige Energie hervorbringen.”

Mit Hilfe einer anderen, gewaltlosen Untergrundorganisation entführt die Familie den gelähmten Vater aus dem Krankenhaus und bringt ihn wieder nach Hause (aus rechtlichen Gründen ist es in dem Land, das er beschreibt, gar nicht so einfach, jemand aus dem Gesundheitssystem herauszuholen, der sich selbst nicht mehr artikulieren kann). Ungefähr in der Mitte des Buchs ereignet sich die unwahrscheinliche Wende; in der Wärmestube von Provinz und Familienumgebung endet die zehnjährige Eiszeit zwischen Paul und Prudence. Zwei mittelalte Menschen, die in Paris nur noch aus Konvention zusammenhingen, finden wieder zusammen. Geheimdienst, Anschläge und Präsidentenwahl erzeugen von jetzt an nur noch das erzählerisches Hintergrundrauschen zu dieser völlig unwahrscheinlichen Fügung. Natürlich verschwindet die bindungslose Welt nicht. Sie rückt nur vorübergehend an den Rand.

Realismus
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„Paul hatte Menschen gekannt“, heißt es in einer Art Resümee, „die nicht im Traum daran gedacht hätten, ein einmal gegebenes Wort zurückzunehmen, bei ihnen war es nicht einmal nötig, auf die Formalität des Versprechens zurückzugreifen. Es war überraschend, dass es solche Menschen immer noch gab, und das nicht einmal allzu selten. Seit ungefähr einem Jahrhundert waren immer mehr Menschen anderer Art aufgetaucht; sie waren spaßig und schmierig, sie besaßen nicht einmal mehr die relative Unschuld von Affen, sie waren beseelt von der höllischen Mission, jedes Band zu zernagen und zu zerfressen, alles, was notwendig und menschlich war, zu zerstören. Leider hatten sie am Ende die breite Öffentlichkeit, die einfachen Menschen erreicht.”

Bei einem Autor wie Houellebecq spielt es immer eine Rolle, wie er erzählt. Auch darin unterscheidet sich „Vernichten“ von seinen Vorgängern. Und zwar nicht nur durch seinen Umfang. Nach den ersten Seiten, die beim Geheimdienst spielen, erzählt der Autor ganz klassisch durch die Augen seiner Hauptfigur. Etwa in der Mitte spaltet Houellebecq die Perspektive, der Leser folgt für eine Weile der Schwester Cécile, dann Aurélien, um später wieder zu Paul zurückzukehren. Längere reflektierende Passagen lösen sich nicht in Handlung auf, sie stehen wie Essays im mäandernden Erzählfluss. Wobei auch sie sich auf der Höhe seiner Erzählkunst bewegen, etwa, wenn er seinen Minister Juge eine ganze Abhandlung über Fortschrittsglauben und Reaktion in den Mund legt, in der er, überraschend genug, aus Alfred de Mussets radikal antimodernistischem Poem Rolla zitiert.

Alles in allem hätte die Streichung von gut hundert Seiten dem Roman nicht geschadet. Allerdings in der Lässigkeit und manchmal Nachlässigkeit, mit der er schreibt, liegt andererseits etwas Hinreißendes. „Vernichten“ ist ein Alterswerk mit breitem Pinsel und einer bemerkenswerten Geringschätzung für Konventionen.

In einem Punkt folgt er allerdings wieder der wichtigsten Regel für einen Roman, zumal für alles über 500 Seiten: Es geht um Leben und Tod. Der Schlusssatz (er gehört Prudence) gehört zu der Kategorie großer Sätze, die auf das ganze Buch zurückwirken.

Und auch in einem anderen wichtigen Punkt bleibt Houellebecq mit „Vernichten“ bei seiner Tradition: Von Anfang an, von „Ausweitung der Kampfzone“, „Elementarteilchen“ und „Unterwerfung“ bis zu diesem vorläufigen Schlussstück machte er immer Gedanken zu Literatur, die außer ihm bis dahin noch keiner auf den Begriff bringen konnte. Ein spiritistisches Medium besitzt angeblich die Fähigkeit, in Zukunft, Vergangenheit oder beides zu sehen. Der französische Autor besitzt die unterschätzte Fähigkeit, wie ein Medium eine Struktur in der Gegenwart zu erkennen, wo andere nur Nebel wahrnehmen.

Wer etwas über unsere Jetztzeit wissen will, erfährt seit fast dreißig Jahren bei Houellebecq mehr als in den Zeitungen. Und nur mit dieser Geistesgegenwart lässt sich auch die Zukunft ahnen. Er ist der aktuellste aller europäischen Autoren.

Houllebecq ist Medium und Botschafter zugleich.

Michel Houellebecq, Vernichten. Roman. Aus dem Französischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek. DuMont Verlag, 624 Seiten, 28,00 €.


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Kommentare ( 4 )

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j.heller
2 Jahre her

Es geht doch letztlich immer darum, dass die Grundlage unserer Gesellschaft, die geistige Freiheit, vom Staat lediglich durch einen Organisationsrahmen geschützt, nicht trägt, um wenigstens ein Jahrhundert für Ruhe zu sorgen. Vor allem deshalb, weil die Unruhigen, die Charaktere, die ihre eigene existenzielle Angst durch Welt-Verbesserung besiegen wollen, also die „Progressiven“, nie Ruhe geben können. Während Konservative und „einfache Menschen“ nur ohne Katastrophen durchs Leben kommen wollen und sich ein wenig bereichern, wollen die „Mitfühlenden“ ständig alles umbauen, weil es natürlich nie genügt. Das Paradies auf Erden wird immer ferner, je näher man ihm kommt. Das Ausmerzen der Sünde, des… Mehr

Freiburger
2 Jahre her

In der Tat befindet sich auch Frankreich im Prozess der Auflösung. Die Frankfurt School of Marxism hat auch in Frankreich volle Arbeit geleistet. Die eigentlichen Franzosen werden als böse weiße Ausbeuter, üble Patriarchen usw. verteufelt. Gleichzeitig gibt es eine Politik der großangelegten Einwanderung von Nichteuropäern. Diese Nichteuropäer leiden nicht an der marxistischen Krankheit und haben deshalb im Schnitt vier oder mehr Kinder. Was lernen wir daraus ? Deutsche, Franzosen, Engländer, Spanier kann es weiterhin geben – aber nur wenn wir unsere Familien von den giftigen Einflüssen dieses Marxismus abschirmen. Staatliche Schulen und Mainstream-Medien sind der Gegner unserer Völker. Der Staat… Mehr

ikone
2 Jahre her

Die Rezension ist treffend. Ein wunderbares Buch und trotz Tod gibt es Hoffnung . Die Liebe rettet uns. Wenn wir sie finden, müssen wir sie halten und darum kämpfen. Die bittere Erkenntnis ist , dass die beiden Protagonisten, Paul und Prudence, die Zeit verschwendet hatten mit Kälte und Distanz und erst in der Zeit des Leids wieder zusammen fanden .
Immerhin Michel Houellebecq hat es doch noch geschafft einen Liebesroman zu schreiben, auch wenn es sein letzter Roman ist. Hoffentlich nicht …..

j.heller
2 Jahre her
Antworten an  ikone

Omnia vincit amor