Fortschrittskonservative und Modernitätstraditionalisten

Seit das Illegitime normalisiert und das Normale stigmatisiert wird, erscheint ein Mensch, der seinen gesunden Menschenverstand bewahrt hat, den Linken als reaktionär. In Wahrheit beweist er aber nur den Mut, das Offensichtliche zu sehen und zu sagen.
Von Norbert Bolz

Wer ein Manifest schreibt, will nicht analysieren und argumentieren, sondern bestimmte politische oder kulturelle Ziele öffentlich deklarieren und «Gesinnungsgenossen» aktivieren. Das ist Jordan Peterson mit seinem «Konservativen Manifest» gelungen: Es resümiert Einsichten und Erfahrungen, denen wohl jeder Konservative, aber eigentlich auch jeder Liberale zustimmen kann. Dazu gehört die Einsicht, dass es zur freien Marktwirtschaft – oder sagen wir deutlicher: zum Kapitalismus – keine vernünftige Alternative gibt. Dazu gehört auch die Einsicht, dass den ökologischen Anliegen des Umweltschutzes durch den apokalyptischen Alarmismus der Grünen ein Bärendienst erwiesen wird. Zu Recht verweist Peterson auf den «menschlichen Einfallsreichtum», der uns den wissenschaftlich-technischen Fortschritt gebracht hat und der allein in der Lage ist, die ökologische Krise zu bewältigen. Hier zeichnet sich eine Position ab, die man «Fortschrittskonservativismus» nennen könnte.

Die kulturpolitische Dimension des Manifests wird vor allem dort deutlich, wo sich Peterson gegen die historische Ignoranz der «Wokeness» und ihren Absolutismus der Gegenwart positioniert. Gegen den Vulgärnietzscheanismus, der alles auf den Willen zur Macht zurückführen möchte, gegen Relativismus und Normalitätsleugnung hält Peterson an unserer Verpflichtung fest, nach Wahrheit zu suchen. Dazu gehört der Mut der Aufklärung, sich des eigenen Verstandes ohne Anleitung anderer zu bedienen, aber auch der Mut zu bürgerlichen Tugenden.

In der Frage nach den Maßstäben geistiger Orientierung ist Peterson klar und einfach – vielleicht zu einfach. Die «Vorgaben des zeitlosen westlichen Kanons» sind ihm unproblematisch. Aber wir haben ja gerade in den letzten Jahren gesehen, dass das, was uns im Westen als universalistischer Anspruch etwa von Menschenrechten selbstverständlich ist, vom Rest der Welt als Kulturimperialismus betrachtet wird. Schon vor über 100 Jahren hat der große Soziologe Max Weber dieses Problem mit der Vorsichtsformel «nur im Okzident» markiert: Der Universalismus der Werte ist unsere westliche Perspektive auf die Welt. Und hier liegt die wohl größte geistige Aufgabe der Konservativen heute: das Paradoxon einer «universalistischen Perspektive» zu entfalten.

Lebensform der Freiheit
Die bürgerliche Gesellschaft ist die letzte konkrete politische Utopie
Natürlich geht das über die Absichten und Möglichkeiten eines Manifests hinaus. Aber auch andere Fragen behandelt Peterson mit einer – durchaus sympathischen! – Naivität. Das wird besonders deutlich, wenn er etwa von «Menschen guten Willens» oder von «ewigen Wahrheiten», ja von «erlösender Wahrheit» spricht. Das grenzt an religiöse Rhetorik, während Konservative ja vielmehr die Aufgabe hätten, die gesellschaftliche Funktion von Religion herauszuarbeiten. Über dem ganzen Manifest schwebt das Phantom einer Wertegemeinschaft, die bei Lichte betrachtet aber nur das Inkognito einer Religionsgemeinschaft ist. In einer modernen, pluralistischen Gesellschaft ist das aber völlig unrealistisch. Hier herrscht ein ewiger Kampf der Werte, und deshalb darf die Politik vom einzelnen nicht ein Wertebekenntnis, sondern lediglich Gesetzesloyalität verlangen.

Wenn man bei Google das Wort «konservativ» eingibt, werden als «ähnlich» angeboten: rückschrittlich, rückständig, althergebracht. Das fasst die Vorurteile derer, die sich selbst für fortschrittlich und der Zukunft zugewandt halten, ganz gut zusammen. Und obwohl man mittlerweile Zweifel hat, ob die politische Szene heute noch sinnvoll per Unterscheidung von links und rechts beschrieben werden kann – zumal die Linke seit über hundert Jahren «ideenkonservativ» auftritt –, erscheint den meisten die Unterscheidung von progressiv und konservativ nach wie vor plausibel.

Doch die Welt so zu sehen, erweist sich mittlerweile selbst als rückständig und althergebracht. Man muss die Konservativen auf einem anderen Schauplatz suchen, nämlich auf dem der Bürgerlichkeit und des gesunden Menschenverstands.

Konservativismus ist der Glaube an die Normalität, gesunder Menschenverstand ist der Sinn für Normalität.

Doch der gesunde Menschenverstand hat es heute schwer. Es gibt nichts Selbstverständliches mehr. Man könnte das Normalitätsschwund nennen. In allen Lebensbereichen sind die traditionellen Standards fragwürdig geworden. Doch wie soll man ohne Normalität leben? Sollen wir täglich alles immer wieder neu aushandeln? Eine solche Praxis des permanenten Aushandelns ist die Politik der Verständigung als Farce, denn sie verdrängt die Frage nach dem Richtigen. Gerade die regierungsoffizielle Kultur der sogenannten «Diversity» sieht keine Unterschiede mehr. Mit ihrem Diskriminierungsverbot tabuisiert sie die Unterscheidung von normal und pathologisch.

Dadurch wird die Neurose zum Identitätsentwurf aufgewertet. Der Neurotiker klammert sich an seine Angst und wird darin von den Warnern und Mahnern in den Medien bestätigt. Im Klartext bedeutet das, dass Hysteriker nicht mehr psychoanalytisch behandelt, sondern politisch geadelt werden. Jeder Wahn verlangt heute Respekt.

Aus dem Maschinenraum des Nonsens
Konservativer Philosoph dekonstruiert die Lieblingstheorien der Linken
Und wie reagiert der Konservative auf diese Komödie der Empfindlichkeiten? Nicht mit Protest, sondern mit Humor und Ironie, mit Witz und befreiendem Lachen – in unbeirrbarem Vertrauen auf seine Urteilskraft und seinen gesunden Menschenverstand. G. K. Chesterton hat einmal gesagt, nichts sei aufregender als die Orthodoxie. Modern, snobistisch, verrückt zu sein ist einfach. Aber gesund und bei klarem Verstand zu sein, ist ein spannendes Abenteuer. Seit das Illegitime normalisiert und das Normale stigmatisiert wird, erscheint ein Mensch, der seinen gesunden Menschenverstand bewahrt hat, den Linken als reaktionär. In Wahrheit beweist er aber nur den Mut, das Offensichtliche zu sehen und zu sagen.

Der Konservative ist nicht reaktionär. Er versteht sich nicht als Aufhalter des Bösen. Vielmehr ist er ein Anknüpfer, der in unserer Geschichte die bewahrenswerten Errungenschaften pflegt.

Während die sich fortschrittlich Dünkenden in einer Filterblase der absoluten Gegenwart leben und denken, lebt der Konservative von der Kraft der Tradition. Diese Tradition wird aber nicht einfach nur «weitertradiert», sondern behutsam rationalisiert. So wird eine pragmatische Politik möglich, die von der Vermutung ausgeht, dass das Bestehende vernünftig ist.

Das stärkste Argument für den Konservativismus ist die Komplexität der modernen Welt. Unvorhersehbarkeit und Unsicherheit sind ihre wesentlichen Charakteristika. Die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg haben uns das in dramatischer Weise vor Augen geführt. Solche Komplexitätserfahrungen machen konservativ und ersparen uns den Realitätsverlust, der so charakteristisch für die utopisch planende Vernunft der Linken ist. Im Politischen gibt es nämlich keine Wahrheit, sondern man schafft Wirklichkeit. Deshalb kann man politische Urteile auch nicht beweisen, sondern nur bewähren. Urteilskraft ist eine unhintergehbare Kategorie. Kant hat sie als eine Sache der Reife verstanden.

Es stimmt zwar, dass die moderne Welt dort beginnt, wo der Mensch viele seiner Traditionen hinter sich lässt, das heißt, wo sich seine Zukunft von seiner Herkunft befreit. Das ist ja auch die stolze Selbstbehauptung der Moderne. Dieser Prozess der Aufklärung, der sich von der Tradition emanzipierte, hat aber selbst eine mächtige Tradition entwickelt, nämlich die Tradition der Freiheit. Mit anderen Worten: Indem sich die Moderne erfolgreich in einem radikalen Bruch mit der Tradition entwickelt, stiftet sie selbst die Tradition der Moderne.

Konservativ ist seither derjenige, der sich im Zweifel für die Tradition entscheidet – aber eben für diese Tradition der Moderne. Insofern ist echter Konservativismus – mit einem guten Begriff des Philosophen Odo Marquard – Modernitätstraditionalismus. Der Konservative, der sich so versteht, verteidigt die fantastischen Errungenschaften der Moderne – als da sind: wissenschaftlicher Fortschritt, technische Weltbeherrschung und gesellschaftlicher Wohlstand.

Norbert Bolz ist Publizist. Als Kommunikationstheoretiker und Designwissenschaftler lehrte er als Professor für Medienwissenschaften an der TU Berlin. Sein hier veröffentlichter Beitrag ist als Resonanz in Petersons Werk «Konservatives Manifest» enthalten.

Jordan B. Peterson, Konservatives Manifest. Fontis Verlag, Hardcover mit Überzug, 88 Seiten, 15,90 €.


Empfohlen von Tichys Einblick. Erhältlich im Tichys Einblick Shop >>>

Unterstützung
oder

Kommentare ( 4 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

4 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
giesemann
1 Jahr her

Kommt schon: Offenbar eine Philippika gegen die Blödsichtigkeit: Man sieht zwar, was ist, kann das Gesehene aber nicht einordnen im Hirn. Mit Martin Heidegger wäre zu sagen: Nur der Gott kann uns da noch retten. Bloß: Dem isses egal. So ist der/die/das Mensch auf sich selbst zurückgeworfen – als wie er/sie/es dereinst in die Welt geworfen worden ist. Die Vertreibung aus dem Paradies, die alte Leier; mal sehen, ob diesmal, im Jahr des Hasen, also via Ostern das Ei gelegt wird für das Pfingsterlebnis. Die Orthodoxen Moskau/Kiew haben dazu etwas länger Zeit, müssen den Frühlingsneumond erst noch abwarten. Inzwischen können… Mehr

Deutscher
1 Jahr her

Ich fand den Peterson gut, aber irgendwann hat er mal dermaßen neoliberale Plattheiten von sich gegeben, dass ich inzwischen sagen muß, er ist auch nur ein privilegierter Hau-drauf des Sozialdarwinismus.

LiKoDe
1 Jahr her

Fortschrittskonservative und Modernitätstraditionalisten schufen, schaffen und verteidigen eine bürgerlich-intakte Gesellschaft.

G
1 Jahr her

Irgendwann war für mich nicht mehr erkennbar, ob der Text noch Buchbesprechung ist oder schon die Ansichten von Herr Bolz wiedergibt.