Die bürgerliche Gesellschaft ist die letzte konkrete politische Utopie

Vor mehr als einem Jahrzehnt schrieb Norbert Bolz, damals Professor an der TU Berlin, im „Schweizer Monat“ einen Aufsatz über Bürgerlichkeit. Wer sich dem bequemen Ausweg der Gesellschaftskritik versage und Verantwortung übernehme, sei der wahre Nonkonformist. Die These gilt immer noch

Hinter uns liegen Jahrzehnte des Antiliberalismus und der Antibürgerlichkeit, die zunächst im Nationalsozialismus und dann 30 Jahre später in der Studentenbewegung ihre gespenstischen Höhepunkte fanden. Und auch wenn heute gern Vorträge über „Zivilgesellschaft“ gehalten werden, so ist doch zweifelhaft, ob wir unsere Gesellschaft noch als bürgerliche beschreiben können. Aber die Idee der Bürgerlichkeit lebt. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus gibt es nur noch eine konkrete politische Utopie: die bürgerliche Gesellschaft. Die Experimente mit dem Antibürgerlichen sind alle tödlich verlaufen.

Tichys Einblick Talk vom 02.03.2023
Wie arm wäre die Welt ohne den alten weißen Mann und die weiße Frau: Interview mit Norbert Bolz
Der deutsche Begriff Bürger unterscheidet nicht zwischen Citoyen und Bourgeois – zu Recht. Die falsche Übersetzung von „bourgeois“ mit „Bürger“ geht auf das polemische Bedürfnis der Boheme zurück. Der Bürger wird hier als Spießer zur anachronistischen Negativfigur stilisiert. Und genau komplementär dazu bildet der Erfolglose das Kultzentrum des antibürgerlichen Affekts  – früher in Gestalt des Bohemiens, der den Bürger als Bourgeois denunziert, heute in Gestalt des „Losers“, dessen Unglück von den Medien in eine Dauerklage gegen „die Gesellschaft“ verwandelt wird.

Bis zum heutigen Tag setzt die Antibürgerlichkeit eine Prämie auf Weltfremdheit. Bei Niklas Luhmann heißt es dazu sehr schön: „Dass in solchen Kreisen die verlorene Freiheit in der Gesellschaft als Freiheit von der Gesellschaft zum Stilmoment ausgebaut wird, ist bezeichnend genug und bringt die Ersatzfunktion dieser ‚Subkulturen‘ deutlich zum Ausdruck. Der Bohemien zum Beispiel ist eine Variante der bürgerlichen Kultur  – und zwar nicht im Sinne einer Revolte  – das ist seine Selbstdarstellung  –, sondern im Sinne eines Selbstdarstellungsasyls  – das ist seine Funktion.“

Doch zum Glück gibt es auch Menschen, die ihre Energien nicht im bohemehaften Protest gegen den biedermeierlichen Alltag verbrauchen und sich auch nicht an dem billigen Spott über die bürgerliche Innerlichkeit, diesen Weltinnenraum der Freiheit, beteiligen. Sie glauben an die Transzendenz, sie lieben ihre Familie, sie hoffen auf den Erfolg, sie sind stolz auf ihr Eigentum und bilden sich in nimmermüder Anstrengung. Die Welt, in der sie sich bewähren, ist die Welt des Üblichen, der Routine, der Pensums, der Pflichten und Gewohnheiten, also die Welt der nächsten Dinge. Diese Bürgerlichkeit ist nicht mittelmäßig, sondern maßvoll. Sie ist die moralische Ressource, von der die freie Marktwirtschaft und der soziale Rechtsstaat zehren.

Der alte, weiße Mann
Liberale und Konservative im Abwehrkampf
Die Lebensform der Bürgerlichkeit ist vielleicht die wichtigste Bedingung erfolgreichen Wirtschaftens in einer modernen Gesellschaft. Auch wenn es politisch unkorrekt ist, muss man doch sagen: Nicht alle Kulturen leisten das. Was die bürgerliche Welthaltung voraussetzt, hat Joachim Fest am besten bestimmt: „den Zweifel gegen jedwede fundamentalistische Position, das Verlangen nach Berechenbarkeit, den Kompromiss, den Respekt vor dem Einzelnen, vor Institutionen und dem bewährten Herkommen sowie das Misstrauen gegen alle grandiosen Projekte, kurz die Abneigung gegen jeden gesellschaftlichen oder menschlichen Extremismus.“

Der amerikanische Psychologe Jonathan Haidt hat die Traditionen und Institutionen deshalb unser moralisches Exoskelett genannt. Alte Institutionen zeigen durch ihr Alter, dass sie evolutionäre Errungenschaften sind, also erfolgreiche Anpassungen an eine sich ständig wandelnde Welt. Wie die Traditionen stabilisieren sie Erwartungen, geben Lebenssicherheit und garantieren eine gewisse rationale Vorhersehbarkeit. Und wo all das fehlt, herrschen Angst und Frustration.

Lebensform der Freiheit

Bürgerlichkeit ist die Lebensform der Freiheit in der modernen Welt. Wer frei ist, lebt nicht einfach, sondern führt ein Leben. Die Würde des Menschen muss also geleistet werden. Diese Leistung, bürgerliche Lebensführung, ist der Kernbestand realer Freiheit. Sie erwächst aus der Sorge um das wirklich Wichtige. Was wirklich wichtig ist, kann heute aber nur der Einzelne entscheiden; soziale Systeme funktionieren, aber sie sind nicht auf etwas aus. Wenn heute also der vorsorgende Sozialstaat beansprucht, die Lebensführung der Menschen durch lebenslange Betreuung zu begleiten, dann heißt das im Klartext: Er nimmt den Menschen die Lebensführung ab.

Es ist kein Zufall, dass man heute gern von Lebensstilen, aber nur selten noch von Lebensführung spricht. Denn Lebensführung ist methodisch, Lebensstil ist bloß modisch. Die einen leben, die anderen führen ein Leben. So kann man die Freien von den Knechten, die Selbstständigen von den Betreuten unterscheiden. Denn Freiheit ist Lebensführung, statt bloß zu leben.

Schon rein anthropologisch gilt eigentlich, dass der Mensch, weil er von Natur künstlich und labil existiert, nur leben kann, wenn er sein Leben führt. Entscheidend für Max Weber war hierbei das Ethos, die Formung der Lebensführung. Sie setzt eine systematische Selbstkontrolle voraus; das heißt, die Berufsarbeit wird von einer Dauerreflexion begleitet, die ein „waches bewusstes helles Leben“ ermöglicht.

Erst die methodische Lebensführung des Bürgers macht aus dem Leben ein System. Tatsächlich spricht Weber in diesem Zusammenhang von „Lebenssystem“. Es gibt zwar keine absoluten Orientierungsmaßstäbe mehr, aber doch Maximen des vernünftigen Handelns, wie sie schon Descartes in sein provisorischen Moral formuliert hat, welche eben nicht nur vorläufig, sondern auch vorsorglich ist: Folge den Gesetzen und Gewohnheiten, vermeide Extreme, orientiere dich am wahrscheinlich Richtigen und beschränke dich auf das, was in deiner eigenen Macht liegt.

Der (Erb-)Sündenbock ist alt, weiß, männlich
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1953 sprach der Soziologe Helmut Schelsky noch vom einheitlichen Lebensstil der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ und prognostizierte die „Herausbildung einer nivellierten kleinbürgerlich-mittelständischen Gesellschaft, die ebenso wenig proletarisch wie bürgerlich ist“. Doch zwanzig Jahre später hat er erkannt, dass sich diese Gesellschaft erneut polarisiert hat: kulturelle Verelendung ästhetischer Analphabeten auf der einen Seite und neue Bürgerlichkeit auf der anderen. Sein berühmter Vortrag aus dem Jahr 1973 hat denn auch den Titel „Der selbständige und der betreute Mensch“.

Selbstständig ist jeder, für den es Konsequenzen hat, ob er seine Arbeit gut oder schlecht macht. Die Betreuten dagegen sind die Opfer der Betreuer, die ihnen beibringen, sich hilflos zu fühlen und die sie hilfsbedürftig machen. Die Betreuten fragen sich: Was wird uns geschehen? Dagegen fragen die Selbstständigen: Was können wir tun? Während der Selbstständige „in Form“ ist, lässt sich der Betreute gehen. Dessen extremste Ausprägung ist der „Proll“, der den Hedonismus der Unterschicht kultiviert.

Finde deinen Platz, tue deine Pflicht

Der freie Bürger führt sein Leben selbstverantwortlich und lässt es sich nicht vom Daseinsfürsorgesystem abnehmen. Bürger ist, wer aufhört, gegen sich bequem zu sein. Seine Freiheit setzt also Selbstdisziplin voraus. Frei ist ein Mensch, dessen Selbstwertgefühl aus Selbstdisziplin erwächst. Persönlichkeit kann man deshalb als das System von Erwartungen definieren, die jemand an sich selbst hat. Sie ist ein Gefühlskonstrukt, mit dessen Hilfe man die Zwänge des Alltags pariert. Dazu gehören Höflichkeit und gute Manieren. Was einmal bürgerliche Tugend war, ist zum geheimen Erkennungszeichen einer neuen Elite geworden.

Finde deinen Platz, begreife und ergreife deine Lage, erfülle die Forderung des Tages, tue deine Pflicht, halte deine Existenz aus. Das ist die Tapferkeit des Bürgers, der sich den bequemen Ausweg der „Gesellschaftskritik“ versagt. Denn zu nichts braucht man heute mehr Mut als zur Wahrnehmung des Positiven. Und damit erweist sich der Bürger auch als der letzte Träger der Aufklärung. Kants Mut zum Selbstdenken konkretisiert sich heute politisch als Mut zur Bürgerlichkeit. So hat Odo Marquard den Begriff „Zivilcourage“ übersetzt. Es gibt heute eine Neue Bürgerlichkeit, auch wenn es keine bürgerliche Gesellschaft mehr geben sollte. Das ist der wahre Nonkonformismus.


Auszug aus: Norbert Bolz, Der alte weiße Mann. Sündenbock der Nation. LMV, Hardcover, 256 Seiten, 24,00 €


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Kommentare ( 9 )

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WandererX
1 Jahr her

Diese Art der „bürgerlichen Lebensführung“ war nicht zufällig ein Begriff aus Untertanen- Zeiten: er setzt eine Lebensart- oder gar Ordnungsvorgabe durch eine weltliche und eine göttliche Autorität voraus, und dann lebt man selbstverantwortlich DANACH! Wer das immer noch für möglich hält (es war immer nur eine Uropie!), ist ein katholisch-romantischer Träumer! Mich selbst führen kann ich logischerweise ja nicht, und wenn das eigentlich erhoffte Geführtwerden nicht erfolgt, zieht man sich als „sogenannter Konservativer“ (etwas, was notwendig rein fiktional ist) in seinen (ggf. mühsam und erfolgreich) eingerichteten Lebensmechanismus zurück und ist sauer bis misstrauisch auf alle, die das so nicht betreiben,… Mehr

Johann Thiel
1 Jahr her
Antworten an  WandererX

Denke schon, dass eine bürgerliche Lebensführung möglich und sinnvoll ist, wenn man sie weit genug fasst. Durchaus kann man sich auch selbst führen, wenn man sich einen entsprechenden Ordnungs- und Werte-Rahmen schafft. Christliche und konservative Anschauungen bieten dazu alle erforderlichen Möglichkeiten. Das hat nichts mit katholisch-romantischer Träumerei zu tun, oder einer Art von Missgunst gegenüber jenen, welche diese Auffassung nicht teilen. Es ist vielmehr die nüchterne Betrachtung, dass eine überbordende Abkehr von all dessen, was Norbert Bolz als Grundlagen einer bürgerlichen Gesellschaft beschreibt, eine Gesellschaft zum Einsturz bringt. Auch sind die Traditionen, seien es die Katholischen oder ganz allgemein gesellschaftlichen,… Mehr

WandererX
1 Jahr her

Bolz und Co machen es sich zu einfach: man kann sich ja gerade nicht in eine Umwelt frohgemut einrichten und ein Leben NACH den Determinanten der Tradition „führen“, wo doch diese sogenanten Traditionen LÄNGST zuvor gebrochen wurden und ein zynischer Materialismus oder reiner Kapitalismus vielerorts durchscheint! Da wird eine Tradition behauptet, die es so noch nie gab! Man kann sich also eben nicht so einfach in das angeblich vorhandene „Große Ganze“ einordnen und dann sein Leben FÜHREN! Dieses Ganze, das Katholiken als Tradition behaupten, gibt es nicht und gab es noch nie. Nein, das Leben ist schon immer wesentlich komplexer.… Mehr

Johann Thiel
1 Jahr her

Norbert Bolz besticht durch seinen Umgang mit Sprache und Argumentation, steht aber, wie es mir nicht zum ersten Mal auffällt, für einen etwas zweifelhaften und viel zu schwachen Begriff von Bürgerlichkeit. Zu sehr klingt mir das ganze nach Passivität, Ruhe-ist-die-erste-Bürgerpflicht, sich fügen, abfinden, seinen Platz kennen. Aus Herr Bolz spricht vielleicht zur sehr die Lebenswelt eines verbeamteten Hochschulprofessors, zu sehr die akademische Erfahrungswelt. Zwar stimme ich Prof. Bolz in vielem zu, sehe aber in seiner Beschreibung von Bürgerlichkeit gleichzeitig ihr Hauptproblem – Angepasstheit. Eine Eigenschaft die insbesondere in Deutschland gleichermaßen Stärke wie Schwäche ist, und heute in nahezu ungekannten Ausmaß… Mehr

giesemann
1 Jahr her

Um nun doch auf Herrn Prof. Bolz ein zu gehen: Vielleicht weniger Pflichterfüllung bei sich selbst einfordern, sondern mehr bei denen, die Probleme schaffen, teils einheimische, immer mehr aber importierte. Wer ausgestattet ist mit der BERAZ (= beste Reli aller Zeiten), mit dem unglaublichen Selbstbewusstsein eines Afrikaners, der sollte nicht zu uns kommen, um unsere Hilfe zu ernötigen. Wir sollten sagen: Selber groß, wir wollen euch doch nicht mit unserer „bürgerlichen“ white supremacy beleidigen. Das muss denen reichen. 

Nibelung
1 Jahr her

Eine Gesellschaft hängt von der eigenen inneren Reinheit ab und die kommt aus dem Elternhaus und ist eine rein ethische Frage, entweder christlicher Natur oder humanistischer Prägung und wer das nicht vorbildhaft durchlaufen hat, der wird eben später zu dem, was er ist und die Varianten des schlechten sind leider weit größer und das führt dann zu unseren heutigen Verhältnissen, die im totalen Widerspruch zwischen Wunsch und Wirklichkeit stehen. Wenn dann noch die Institutionen selbst versagen ist das Chaos perfekt und wie heißt es so schön, es gibt nichts Gutes, außer man tut es und diese sichtbare Diskrepanz ist eines… Mehr

WandererX
1 Jahr her
Antworten an  Nibelung

Qutsch: Gesellschaft kommt nicht aus dem elternhaus, dort ist das Gegenteil, nämlich Gemeinschaft! Und rein ist nur der Himmel und sicherlich nie die Gesellschaft.

alter weisser Mann
1 Jahr her

Jahrzehnte des Antiliberalismus und der Antibürgerlichkeit, die zunächst im Nationalsozialismus und dann 30 Jahre später in der Studentenbewegung ihre gespenstischen Höhepunkte fanden Diese Herleitung mit gepflegtem West-Herkunftsfokus macht dem Rest der Betrachtung schon mal die Grundlage kaputt. Die rasant antiliberale, antibürgerliche Entwicklung seit 1990 ist ohne die eingeflossenen 40 Jahre DDR Sozialisierter und ohne die, auch in jüngster Zeit zugeflossenen Menschenmassen ohne jede westbürgerliche Prägung gar nicht zu fassen, auch wenn einiges davon in den Horizont des Bürgers West, der unverdrossen in seinem gewohnten Kanon stochert, scheinbar nicht eingeht. «Dieses Gejammer des alten weissen Mannes ist unmännlich», damit hatte Norbert Bolz… Mehr

giesemann
1 Jahr her

„to master one’s life“, vielleicht ist es das. Oder „dem Leben einen Sinn geben“ mit Antoine de Saint-Exupéry. À quoi sa sert? Sa sert à rien. Jedenfalls ist er im Jahre 1944 über dem Mittelmeer bei Marseille abgeschossen worden, weil er nicht einsehen wolllte, dass er mit seinen 44 Jahren nicht mehr geeignet war, ein Kriegsflugzeug zu fliegen und zu beherrschen. Auch weil er viel zu viel gesoffen hatte all die Jahre. Er wurde von einem deutschen Jäger herunter geholt, leichte Beute, sein Flugzeug hat man vor einigen Jahren auf dem Meeresgrund vor Marseille gefunden. Le dernier vol. Vielleicht muss… Mehr