Den Menschen denken und Gott wissen

Edith Stein erblickte am Tag der Versöhung und am Tag der Entsühnung das Licht der Welt, an dem Tag, an dem den Menschen vergeben wird. Am 12. Oktober vor 131 Jahren wurde sie geboren.

In diesem Jahr feierten die Juden ihr hohes Fest Yom Kippur (Versöhnungsfest) vom 4. Oktober abends bis zum Abend des 5. Oktobers. Im Jahr 1891 fiel der Yom Kippur, der eine beweglicher Feiertag ist, auf die Zeit vom Sonntag, den 11. Oktober, bis zum Montag, den 12. Oktober. Am 12. Oktober 1891 nun, am Versöhnungsfest, wurde die bedeutende Philosophin Edith Stein in Breslau geboren. Insofern konnte Edith Stein im wahrsten Sinne als Sonntagskind gelten, kam sie doch zum höchsten Fest der Juden auf die Welt. Ihre fromme Mutter hatte darin immer eine besondere Fügung gesehen. Yom Kippur gilt als ein Tag vollständiger Ruhe, ein Tag der Versöhnung mit Gott und mit allen Mitmenschen, wozu Reue und Buße gehören.

Das Jahr beginnt mit Rosch ha-Schana im Monat Tischri (September/Oktober). Dieses zweitägige Neujahrsfest stellt Besinnung, Rechenschaft und das Gebet für eine schöne Zukunft in den Mittelpunkt. Es leitet die Hohen Feiertage ein. In zehn Tagen der Buße und der Sühne denkt man über das alte Jahr nach, versucht, begangenes Unrecht wiedergutzumachen und nach Aussöhnung mit denjenigen zu suchen, mit denen man sich zerstritten oder die man nicht gut behandelt hat. Ein fünfundzwanzigstündiges Fasten im Anschluss daran dient der Reinigung von Körper und Geist und leitet zum Versöhnungsfest hinüber.

Zum Neujahr wird nach jüdischem Glauben über die Menschen entschieden, die in drei Gruppen eingeteilt werden: die ganz Schlechten, die ganz Frommen und dazwischen die meisten Menschen, die weder ganz gut, noch ganz schlecht sind, sondern eben durchschnittlich. Das Urteil über die Schlechten und über die Frommen wird sofort gefällt, denn hier liegen die Dinge völlig klar und eindeutig. Aber die Entscheidungen hinsichtlich der Durchschnittsmenschen werden erst an Yom Kippur getroffen.

Gott ist König und Richter und er öffnet das „Buch des Gedenkens“. Das Buch wird von selbst vorgelesen – die Taten der Menschen sprechen für sich selbst. „Am Neujahrstag werden sie eingeschrieben und am Versöhnungstag besiegelt, wie viele dahinscheiden sollen und wie viele geboren werden, wer leben und wer sterben soll, wer zu seiner Zeit und wer vor seiner Zeit, wer durch Feuer und wer durch Wasser, wer durch Schwert und wer durch Hunger, wer durch Sturm und wer durch Seuche, wer Ruhe haben wird und wer Unruhe, wer Rast findet und wer umherirrt, wer frei von Sorgen und wer voll Schmerzen, wer hoch und wer niedrig, wer reich und wer arm sein soll. Doch Umkehr, Gebet und Wohltun wenden das böse Verhängnis ab.“ Edith Stein erblickte also an dem Tag der Vergebung und am Tag der Entsühnung das Licht der Welt, an dem Tag, an dem den Menschen vergeben wird.

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Der 6. April 1968 bleibt ein denkwürdiger Tag. An diesem Tag hielt auf Bitte des Kardinals Karol Wojtyła, des späteren Papstes Johannes Paul II., der bedeutende polnische Philosoph Roman Ingarden in Krakau vor geladenen Gästen einen Vortrag über Edith Stein. Dass sich der spätere Papst für die Philosophin und Karmelitin interessierte, ging im wesentlichen auf drei Gründe zurück.

Erstens wurde der junge Karol Wojtyła 1948 in Rom über die Glaubensdoktrin beim heiligen Johannes vom Kreuz promoviert, Edith Steins letzte große Arbeit unter dem Titel „Kreuzeswissenschaft“ stellte eine fulminante Auseinandersetzung mit dem mystischen Werk des Johannes vom Kreuz dar.

Als Schülerin des Philosophen Edmund Husserl, der mit der Begründung der Phänomenologie am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine nachhaltige Wirkung auf die Entwicklung der Philosophie auslöste, die einerseits über seinen Schüler Martin Heidegger und die deutsche Existenzphilosophie zum französischen Existentialismus eines Jean-Paul-Sartre führte, andererseits Derridas Dekonstruktivismus entscheidende Impulse verlieh, der zum Ausgangspunkt neuerer Ideologien wie Genderismus, Postkolonialismus und Identitätsphilosophie wurde, verdankte Edith Stein Husserls Gegenpol in der Phänomenologie, Max Scheler sehr viel.

Im Zentrum dessen Denkens steht die Person, deren Urgrund der Philosoph in der Liebe entdeckte. Alle Akte der Person sah Scheler in der Liebe begründet. Aus diesem Grund konnte er schlussfolgern, dass das Wesen der Person nicht Vernunft, sondern Liebe sei. Nicht nur Edith Stein erfuhr eine starke Anregung aus Schelers Personalismus, sondern zweitens auch Karol Wojtyła, der sich 1953 mit der Arbeit „Beurteilung der Rekonstruktionsmöglichkeiten einer christlichen Ethik auf der Basis der Voraussetzungen des ethischen Systems von Max Scheler“ habilitierte.

Drittens erfüllte Johannes Paul II. ein tiefer Respekt für das Judentum und die Juden, die er als die „älteren Brüdern im Glauben“ ansprach. In Edith Stein, die in einer jüdischen Familie in Breslau geboren wurde, die zum Katholizismus konvertierte, den Schleier nahm und die schließlich von den Nationalsozialisten am 9. August 1942 in Auschwitz wegen ihrer jüdischen Herkunft ermordet wurde, dürfte Karol Wojtyła eine Brückenbauerin zwischen Judentum und Christentum gesehen haben, eine Märtyrerin und Heilige war sie für ihn ohnehin. Man kann also sagen, dass mit dem Vortrag von Roman Ingarden in Krakau der Prozess begann, der am 1. Mai 1987 mit der Seligsprechung und schließlich am 11. Oktober 1998 mit der Heiligsprechung Edith Steins endete.

Ingarden leitete seinen Vortrag damit ein, dass er unter den noch Lebenden wahrscheinlich derjenige war, der Edith Stein am besten gekannt hat: „Wir gehörten beide derselben philosophischen Gemeinschaft, der Göttinger Gruppe der Phänomenologen an, und viele Jahre hindurch waren wir durch enge wissenschaftliche Beziehungen miteinander verbunden (1916-1939). 1916 und 1917 haben wir uns täglich gesehen, und fast bis zum Ausbruch des Krieges (1939) haben wir korrespondiert.“

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Ingarden stand ihrer Konversion und ihrem Eintritt ins Kloster kritisch gegenüberstand und sorgte sich um ihr philosophisches Erbe: „Auch die Veröffentlichungen über Edith Stein, die ihrer Biographie und der Tatsache ihrer Konversion zum Katholizismus gewidmet sind, lassen ihren früheren wissenschaftlichen Ertrag ganz und gar beiseite, so als ob er nicht existierte. Meines Erachtens wurde Edith Stein dadurch ein Unrecht angetan. Sie war Philosophin, Wissenschaftlerin, und ist es auch im Kloster geblieben. Auch unter schwierigen Bedingungen hat sie ihre wissenschaftliche Arbeit weitergeführt.“ Seit Ingardens Vortrag wurde und wird ihr philosophisches Erbe vorbildlich entdeckt.

Noch zu wenig wird gesehen, dass von der Philosophie Edmund Husserls zwei große Wege weiterführten, einerseits Heideggers Existenzphilosophie, anderseits Edith Steins phänomenologischer Neuthomismus oder Welteinheitsdenken, wobei die Einheit im Schöpfer der Schöpfung begründet ist. Während Martin Heidegger den Menschen als einen in sein Leben Geworfenen betrachtet, fragt Stein nach dem Werfer, der für sie der Schöpfer ist und mithin der Mensch sein Geschöpf. Es geht ihr schließlich nicht um die Geworfenheit, sondern um die Geschöpflichkeit, nicht um die Ausweglosigkeit der Zeit als Sinn des Seins, also für den Menschen als Sinn des Lebens, sondern um die Ewigkeit, weshalb der Sinn des Lebens, der Aufstieg zum Sinn des Seins in der Erlösung besteht, die dem Menschen als Geschöpf durch Christi Kreuzestod und Auferstehung von Anfang an gegeben ist: das Reich nicht von dieser Welt.

Das Leben besteht für Stein nicht wie für Heidegger in der Sorge vor dem Tod, in der Besorgnis, sondern in der Überwindung des Todes. Die Voraussetzung hierfür ist durch die Gottesebenbildlichkeit des Menschen gegeben. In dem Axiom, dass „jeder Mensch … ein Gottsucher und darin am stärksten dem Ewigen verbunden“ ist, findet sich die fundamentale Vorstellung ihrer Philosophie. „In allem Schönen und Guten, was der Mensch in sich und um sich findet, ahnt er ein Höchstes über sich und allem und fühlt sich angetrieben, es zu suchen und ihm zu dienen.“

Die Entscheidung, die Edith Steins Philosophie vorausgeht, wurde im metaphysischen Raum getroffen, sie ist nicht philosophisch, sondern vorphilosophisch und bedingt daher Philosophie. Sie beruht auf der persönlichen Erfahrung, dass der Mensch das Tiefste und Eigenste, was er ist, Gott verdankt, „Gott allein, und alles, was er irdischen Gemeinschaften verdankt, verdankt er mittelbar Gott. Gott ist er mit allem verpflichtet, was er ist. Durch Gott ist er in die Gemeinschaften hineingestellt, in denen er steht, und Gott bestimmt das Maß der Verpflichtungen, das er ihnen gegenüber hat. Was ich zu verantworten habe, das habe ich vor Gott zu verantworten. Worin es besteht, d. h. was meine Pflicht ist, das sagt mir mein Gewissen. Ihm zu folgen ist Sache meiner Freiheit.“

Steins Philosophie ist ein Weg des Denkens, den sie im Studium in Breslau beginnt, der sie nach Göttingen zu Edmund Husserl und zur Phänomenologie führt. Was sie an Husserls Denken begeistert, ist der Weg weg von der Erkenntnistheorie zur Wirklichkeit hin, „zu den Sachen“, wie der Schlachtruf der Phänomenologen in jenen frühen Jahren lautet.

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Husserls Grundidee besteht darin, dass die Wirklichkeit dem Menschen als Phänomene gegeben ist, die er durch besondere philosophische Verfahren von allen Überlagerungen und Überwucherungen befreien muss, damit er sie in der Reinheit, wie sie ihm ins Bewusstsein gegeben werden, erkennen kann. Gewissermaßen ist die Phänomenologie eher eine Methode, denn eine Philosophie, deren Letztbegründung Heidegger im Menschen und Stein in Gott sucht.

Husserls Anspruch, „Wissenschaft von der Wissenschaft zu sein“ beflügelt Edith Stein, die immer stärker erkennt, dass sie die Frage nach der Person, danach, was der Mensch ist und welche Möglichkeiten er besitzt, antreibt. In einem Brief an Roman Ingarden schrieb sie am 15.10.1921: „Meine Arbeiten sind immer nur Niederschläge dessen, was mich im Leben beschäftigt hat, weil ich nun mal so konstruiert bin, dass ich reflektieren muss.“

Die Veranlagung vom Ich, vom eigenen Erfahren auszugehen, führte sie zur Phänomenologie, doch die Frage, worin letztlich das Menschsein besteht, worin unsere Existenz besteht zu Gott. Die Begeisterung, die sie und Husserls frühe Schüler beherrschte, beschrieb Edith Steins Freundin Hedwig Conrad-Martius so: „Wir besaßen keine Fachsprache, kein gemeinsames System, das am allerwenigsten. Es war nur der geöffnete Blick für die geistige Erreichbarkeit des Seins … Es war das Ethos der sachlichen Reinheit und Reinlichkeit … Das musste natürlich auf Gesinnung, Charakter und Lebensweise abfärben.“ Umgekehrt war man für dieses Ethos nur empfänglich, wenn man durch „Gesinnung, Charakter und Lebensweise“ genau das suchte.

In den zwanziger Jahren arbeitete sie zunächst als Lehrerin, später als Dozentin, vor allem aber kam sie durch die Übersetzung des Descartes Buches von Alexandre Koyré mit dem Neuthomismus in Berührung. Diese Begegnung intensiviert sich, als sie Thomas von Aquin ins Deutsche bringt. Die Vorstellung von der Einheit der Welt in ihrer Vielheit, die ihren Grund in der Schöpferkraft Gottes findet, findet ihren ersten Niederschlag in der Arbeit „Potenz und Akt“. Die Phänomenologie wurde ihr zur Methode, um den Thomismus zu dynamisieren, ihn aktuell zu interpretieren und zu erweitern. Im Kloster wird aus der Überarbeitung von „Potenz und Akt“ ihr philosophisches Hauptwerk „Endliches und ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins“.

Indem sie alles zu Gottes Werk erklärte, quasi Gott zur Voraussetzung ihrer Philosophie machte, hatte Edith Stein der Phänomenologie oder besser dem phänomenologischen Neothomismus eine Letztbegründung ermöglicht. Mit den Mitteln der Phänomenologie schuf sie eine Summa des Sinns des Lebens als christliches Leben.

Als die Gestapo am 2. August 1942 an der Tür des Karmels in Echt klopfte, um sie nach Auschwitz zu verschleppen, hatte mit dem zutiefst persönlichen, zutiefst mystischen Werk „Kreuzeswissenschaft“ ihr Denken einen Abschluss gefunden. Da aber dem Ende im Denken produktiver Philosophen stets ein Anfang innewohnt, verrät uns nichts, wohin und wie sich Edith Steins Denken weiterentwickelt hätte.

So wurde sie mitten aus dem Denken gerissen. Der Weg aber zum Dialog mit Edith Stein eröffnen ihre Bücher und Aufsätze und ihre Art und Weise, in der Welt zu sein. Sie wäre auch im nichtkatholischen Sinne eine Heilige, in einem durch und durch menschlichen Sinn, in ihrem Suchen.

Dieser Beitrag, der anlässlich des Jahrestages von Edith Steins Heiligsprechung am 11. Oktober 1998 und ihres Geburtstags am 12. Oktober 1891 von Dr. Klaus-Rüdiger Mai überarbeitet und ergänzt worden ist, erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur, der wir für die freundliche Genehmigung zur Übernahme danken.

Klaus-Rüdiger Mai, Edith Stein. Geschichte einer Ankunft. Leben und Denken der Philosophin, Märtyrerin und Heiligen. Kösel, 352 Seiten, 22,00 €.


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