Das Totalversagen der Politiker in der Corona-Krise

Die meisten Politiker sperren sich gegen jede Denkfigur, die die Grenzkosten der umfassenden Lähmung der Gesellschaft gegen den Grenznutzen der Vermeidung von Krankheit und Tod aufrechnet. Von Thilo Sarrazin

Ich bin 76 Jahre alt, erfreue mich guter Gesundheit und lebe gern noch etwas länger. Also halte ich seit einem Jahr penibel alle Corona-Regeln ein – so, wie sie gerade gelten. Das ist streckenweise langweilig und auch ein wenig deprimierend, aber was wäre die Alternative? Ich maße mir kein Wissen an, das ich objektiv nicht besitze, und bleibe im Zweifel auf der sicheren Seite. Die Autorität der Experten stelle ich nicht infrage und sehe ohne Häme, dass sie – auf zweifellos höherem Erkenntnisniveau, als ich es besitze – häufig unterschiedlicher Meinung sind und ihre Meinung auch öfters ändern.

Ich habe registriert, dass Erkrankungen an Covid-19 zu schweren Spätfolgen führen können, auch wenn sie nicht tödlich verlaufen – z.B. was die Leistungsfähigkeit der Lunge angeht. Ich habe aber auch zur Kenntnis genommen, dass die Verläufe in jungen und jüngeren Jahren überwiegend sehr milde sind und häufig gar keine Symptome auftreten. 85 Prozent aller Corona-Toten in Deutschland sind älter als 70 Jahre, und das Median-Alter der an und mit Covid-19 Gestorbenen liegt bei 84 Jahren.

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Schaut man sich die Corona-Häufigkeit, die sog. Inzidenz, nach Altersgruppen an, so sticht ins Auge, dass die über Achtzigjährigen am stärksten und die Kinder bis 14 Jahre am geringsten betroffen sind. Gering betroffen, fast so gering wie die Kinder, ist aber auch die Altersgruppe von 64 bis 79 Jahren, der ich angehöre. Diese können ja größtenteils noch für sich selber sorgen und halten sich, genau wie ich, offenbar weitgehend an die Corona-Regeln. Außerdem ist diese Gruppe jenseits der Zwänge des Berufslebens und der Kinderaufzucht und kann ihre Kontakte besser steuern. Das geschieht offenbar auch mit Erfolg.

Kampf der Mutanten

Bei den Hochbetagten über 80 ist es dagegen offenbar der Kontakt mit dem Pflegepersonal – egal, ob Familienangehörige oder andere – der für die die hohen Ansteckungsraten und in dieser Altersgruppe auch für die Todesfälle gesorgt hat.

Diese kurzen Hinweise zeigen, wie kompliziert alles ist und dass man mit schlichten Formeln nicht weiterkommt. Das Corona-Virus verändert seine Eigenschaften durch Mutationen. Gegenwärtig macht die britische Mutante B.1.1.7 von sich reden, sie ist offenbar noch ansteckender und gefährlicher und verdrängt gegenwärtig in Deutschland weitgehend die ursprüngliche Virenform. Dies löst im Infektionsgeschehen eine Gegenbewegung zum nur langsam wachsenden Schutz der Bevölkerung durch Impfung aus. Die unvermeidliche Schlussfolgerung ist, dass eine No-Covid- oder gar Zero-Covid- Strategie zumindest in Europa gescheitert ist. Das Virus ist gekommen, um zu bleiben.

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Deshalb können (und dürfen) Politik und Gesellschaft sich nicht länger vor der Abwägung drücken, welche sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kosten man für die Bekämpfung des Virus auf sich nehmen soll. Man gerät damit allerdings auf ein Gebiet, das der Mainstream der gesellschaftlichen und politischen Debatte bisher sorgfältig vermieden hat:

– Wie viele wirtschaftliche Existenzen dürfen vernichtet werden,
– wie viele zusätzliche Arbeitslose darf es kosten,
– welche Bildungslücken unserer Kinder müssen wir akzeptieren,

damit weniger Menschen an Corona erkranken und am Ende auch sterben?

Grenzkosten und Grenznutzen

Jeder Corona-Tote ist einer zu viel. Aber der gesellschaftliche Preis der Vermeidungskosten muss auch diskutiert, benannt und abgewogen werden. Moralisch gesehen hat jedes menschliche Leben einen eigenen Wert, der auch nicht bezifferbar ist. Aber die Bildungschancen der Kinder, die Lebenschancen der beruflich aktiven Generation, die wirtschaftlichen Existenzen in Einzelhandel und Gastgewerbe und die beruflichen Perspektiven von Schauspielern, Musikern und Künstlern müssen gleichwohl gegen das Ziel eines absoluten Lebens- und Gesundheitsschutzes abgewogen werden.

Das ist vor allem eine Aufgabe der Politik. Aber die meisten Politiker scheinen in dieser Hinsicht von Sprachlosigkeit – und mehr noch, von begleitender Gedankenleere – befallen zu sein. Sie sperren sich gegen jede Denkfigur, die die Grenzkosten der umfassenden Lähmung der Gesellschaft gegen den Grenznutzen der Vermeidung von Krankheit und Tod aufrechnet. Wie ein unmündiges Kind, das sich Entscheidungszwängen verweigert, möchte man alles gleichzeitig.

Die Explosion der staatlichen Schulden hat in diesem Zusammenhang jenseits ihrer realen Problematik einen zutiefst symbolischen Charakter. Aber klagen wir nicht, die Gesellschaft hat in dieser Pandemie jene Politiker, die sie sich durch ihre eigene Widersprüchlichkeit verdient hat.

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche

Thilo Sarrazin ist u.v.a. Verfasser zahlreicher politischer Sachbuchbestseller. Dazu zählt das meistverkaufte Sachbuch der Nachkriegszeit:
Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. Neuausgabe mit aktualisiertem Vorwort, LMV, 512 Seiten, 18,00 €.


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Kommentare ( 22 )

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Deutscher
3 Jahre her

Sarrazin: Neoliberaler = Globalist und damit letztenendes Migrationsförderer, auch wenn er es selber nicht kapiert.

HDieckmann
3 Jahre her

Schade, dass Herr Sarrazin sein analytisches und kritisches Denkvermögen im Gegensatz zur Migrationskrise in der Corona-Krise nicht zum Einsatz bringt und sich an die Meinungen der „Fachleute“ und Anweisungen der Staatsverwaltung hält. Er macht also genau das, was man von einem pensionierten Staatsbeamten erwartet. Aber warum sollte eine Regierung, die beim Thema Einwanderung, Energieversorgung, EU-Zentralismus usw. die Weichen falsch gestellt hat, bei Corona plötzlich auf einem richtigen Weg sein. Die Grundsatzfrage ist doch, was ein Staat in einer Epidemie machen kann oder besser unterlassen sollte, damit das Staatshandeln und auch die Maßnahmen im Gesundheitswesen und den Krankenhäusern nicht schädlicher sind,… Mehr

Klaus D
3 Jahre her

ach der Thilo! auch ER ist doch ein teil des problems bzw ER hat doch mitgemacht und kassiert entsprechend ab.

M.E.S.
3 Jahre her

Die Regierung ist ganz entscheidend für die Folgen ihrer Verordnungen verantwortlich, die großen menschlichen und wirtschaftlichen Schaden verursachen. Da der Staat das Gesundheitssystem im wesentlichen selbst organisiert hat, ist er für die Bereitstellung ausreichender Kapazitäten verantwortlich. Der Staat, bzw. die Regierung sind aber nicht dafür verantwortlich, Krankheit und Tod zu minimieren. Der Staat kann Kriterien dafür definieren, was eine Katastrophe ist, und in einem solchen ein passendes Risikomanagement umsetzen. Staatliche Stellen sind für die Zulassung von Impfstoffen und für die Verfolgung von Impfschäden verantwortlich, nicht aber für die Bereitstellung von Impfstoffen, falls das auch privat organisierbar ist. Gäbe es ein… Mehr

drnikon
3 Jahre her

In einem Bericht des letzten Sentinelberichts (RKI) ist der Anteil der virologisch untersuchten, hospitalisierten Patienten mit sars-cov2 rund 6%. Potzblitz. Es gibt noch andere Krankheitserreger, die uns nach dem Leben trachten? Ab in den Keller, am besten Atombunker mit ABC-Schutzausrüstung.

Anton Mohr
3 Jahre her

Die Lockdowns sind nötig, um die Überlastung der Intensivstationen zu verhindern. Auch wenn kein Land soviel Intensivbetten hat wie Deutschland, so sind ist die Zahl dieser Betten und mehr noch des dafür qualifzierten Pflegepersonals doch endlich. In sofern gilt „flatten the curve“, man muß mit Lockdowns die Zahl der Infektionen begrenzen. Und wenn Corona eine Grippe wäre, würde man über Intensivstationen garnicht reden müssen. Das Versagen der Bundesregierung besteht darin, nicht wie die USA früher den Impfstoff bestellt zu haben und bei mehr Herstellern, da man ja nicht wußte, wer würde wann liefern können. Nur durch genügend Impfstoff wird man… Mehr

Last edited 3 Jahre her by Anton Mohr
Lucius de Geer
3 Jahre her
Antworten an  Anton Mohr

Das haben Sie schön auswendig gelernt. Die Lage auf den Intensivstationen ist also die einzige Größe, die in einer Volkswirtschaft mit 80 Mio. Menschen zählt? Wieso dürfen die nicht auch einmal überlastet sein? Was machen wir bei der nächsten Sturmflut, um Feuerwehren und THW nicht zu „überlasten“? Warum muss sich partout alles auf den Schutz angeblicher Corona-Patienten konzentrieren und warum werden nicht alle Ressourcen auf das Verhindern anderer, viel häufigerer Todesursachen konzentriert? Straßenverkehr einschränken, weil mehrere tausend Tote pro Jahr zuviele und „vermeidbar“ sind? Lassen Sie mich raten: Sie gehören nicht zu den Bürgern, denen untersagt wird, ihren Leensunterhalt zu… Mehr

Peer Munk
3 Jahre her
Antworten an  Anton Mohr

In vergangenen Jahren waren die Intensivstationen während Grippewellen überfüllt. Für alte Leute kann eine Grippe sehr wohl „Intensivstation“ bedeuten. Was Ihre Behauptung angeht, man müsse mit Lockdowns die Infektionen begrenzen: Prof. Ioannidis zeigte in einer Studie Anfang des Jahres, dass Lockdowns da offenbar fast nichts oder gar nichts bringen, möglicherweise sind sie sogar kontraproduktiv. A propo „Infektionen „: Meinen Sie positive PCR-Testergebnisse? Das sind noch keine Infektionen. Belastbare Daten sind: Zahl der täglichen Coronatoten pro Millionen Einwohner. Die sinken seit Anfang des Jahres, in Schweden (ohne Lockdown) sind sie teilweise niedriger als in D, das widerspricht der Lockdownstrategie. Im Lagebericht… Mehr

Last edited 3 Jahre her by Peer Munk
Anton Mohr
3 Jahre her

Eines hat Herr Sarrazin übersehen: Die inzwischen dominierende britische Variante befällt auch junge Leute, die bisher wie Sarrazin es beschreibt wenig betroffen waren.

Vielfahrer
3 Jahre her
Antworten an  Anton Mohr

Befällt, aber tötet sie nicht. Das ist ein kleiner, aber entscheidender Unterschied!

Peer Munk
3 Jahre her
Antworten an  Anton Mohr

Wo ist das in den täglichen Coronatoten pro Millionen Einwohner zu erkennen? In U.K. sinken die Zahlen konsequent.

Prof.Rainer Gladisch
3 Jahre her
Antworten an  Anton Mohr

Sehr geehrter Herr Mohr, ich fürchte, Sie beziehen Ihr „Wissen““ ausschließlich von ARD und ZDF, Ihre Schlagworte sind wohlbekannt. Zu keinem Zeitpunkt waren Intensivstationen (und Krankenhäuser allgemein ) auch nur in der Nähe der Überlastung, Sie hätten die DIVI-Berichte lesen sollen. Welche „Infektionen“ begrenzen Sie mit Lockdown? Meinen Sie PCR-Positive ? Das sind mehrheitlich symptomlose, gesunde Leute! Corona (Covid-19 ) IST eine Grippe, vielleicht ein wenig heftiger . Sie wissen mit Sicherheit nicht, daß jedes Jahr gut 10000 Menschen an der Grippe sterben.Es war entweder eine taktische Dummheit oder schlimme Lüge, die Bürger auf eine lebensrettende Impfung zu fixieren, die… Mehr

E. Thielsch
3 Jahre her

Die Zerstörung von Wohlstand tötet! Es geht nicht darum, dass da einzelne oder bestimmte Gruppen durch den Lockdown finanziell geschädigt werden, sondern dass Meschen deshalb sterben. Nicht wegen individueller Depressionen oder anderen persönlichen Gründen. Trotz unseres Sozialstaats beträgt der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen der reichsten und der ärmsten Bevölkerungsgruppe 9 (NEUN!) Jahre. Die Corona-Politik macht uns alle ärmer und das auch nochauf sehr lange Sicht, wenn man die Bildungsverluste der Kinder und Jugendlichen einbezieht, die sich zweifellos auf deren zukünftigen beruflichen erfolg und damit auch auf die gesamte Volkswirtschaft Deutschlands auswirken werden. Der zu erwartende Verlust an Lebensjahren dürfte… Mehr

Last edited 3 Jahre her by E. Thielsch
Michael Palusch
3 Jahre her

Jeder Corona-Tote ist einer zu viel. Wie steht’s um das Schlaganfallopfer, den Krebstoten, den Mukoviszidoseversorbenen, das Unfallopfer, das Gewaltopfer, den Erfrorenen, den Verhungerten, den Suzidierten, den Malariaverschiedenen, den MRSA Verblichenen …? Warum ist jeder Corona-Toter ein Toter zuviel und die anderen >2000 Toten pro Tag nicht? Was ist der Unterschied, zwischen einem 85jährigen Vorerkrankten der an/mit/durch Covid-19 verstorben ist und einem gleichaltrigen, gleicherkrankten und am gleichen Tag Verstorbenen ohne diese Diagnose? Warum sollte der eine Tod um jeden Preis vermieden werden, während der andere als Teil des Lebens akzeptiert wird? Gibt es Tote 1. und 2.Klasse? Ist nicht jeder Tote… Mehr

Last edited 3 Jahre her by Michael Palusch
Mozartin
3 Jahre her
Antworten an  Michael Palusch

Gegen andere Todesursachen wird teils schon sehr viel unternommen, ohne dass man vollends erfolgreich wäre. Deshalb empfinde ich auch eine Art Hybris derjenigen, die sich zu No-Covid m.E. übersteigen. Gleichwohl, wir stehen bei dieser Krankheit noch eher am Anfang. andererseits wird schon viel mehr (AHA) getan, als bislang bei Grippe, obschon Impfstoff von Krankenkassen bezahlt wurde, aber nicht ausreichend angenommen, was sich evtl. jetzt auch in erhöhter Empfänglichkeit für Covid 19 zeigen könnte. Es gibt jedenfalls Forschung an Medikamenten. Darüber sollte öfter berichtet werden, zweifellos sind auch Appelle an gesundes Leben, das wir eben doch auch selbst in der Hand… Mehr

Michael Palusch
3 Jahre her
Antworten an  Mozartin

„Gegen andere Todesursachen wird teils schon sehr viel unternommen, ohne dass man vollends erfolgreich wäre.“

Das ist doch Satire?!

„Vollends erfolgreich“
Das kann nur heißen, ein Leben ohne Tod!

Fehlende Grippeimpfung als Grund für „erhöhter Empfänglichkeit für Covid 19“, ernsthaft?

„die Kluft zwischen vorhandenen Impfstoffen und zu geringen Mengen davon.“
Ja was nun, vorhanden oder nicht?

„Appelle an gesundes Leben,“
Mit Lockdown, Maskenzwang, „Bleiben Sie zu Hause!“, Schwimmbäder geschlossen, Sportstudios zu, kein Urlaub, keine Ablenkung, mediales Corona-Dauerfeuer, Impfungen als Heilsversprechen,…?

Ich bin sicher, das ist Satire!

Dozoern
3 Jahre her

Merkel und die Politik insgesamt sind einfach überfordert mit der Steuerung einer Gesundheitskrise. Man sollte einen erfahrenen Manager und ein Gremium von Fachleuten damit befassen. Natürlich müssen Nutzen und Kosten aller mit der Corona-Bekämpfung zusammen hängenden Maßnahmen bewertet werden. Und man sollte endlich mal Abschied nehmen von falschen Indikatoren, wie dem Inzidenwert. Dieser korreliert einfach zu deutlich mit der Anzahl der Tests. Die beiden wichtigsten Zahlen sind die echten Toten, die durch Obduktion festgestellt, an Corona gestorben sind. Und die Anzahl der mit Corona belegten Intensivbetten. Beide liegen übrigens unter dem Werten von vor 12 Monaten. Wird deshalb nicht mehr… Mehr