Alles, was die westliche Gesellschaft wertvoll macht, steht auf dem Spiel

Alexander Wendt – TE-Lesern bestens vertraut – hat ein neues Buch vollendet, das Ende Februar erscheint, aber schon jetzt gelobt wird: so von Uwe Tellkamp und Norbert Bolz. In »Verachtung von unten« beschreibt Wendt nicht nur, was aktuell auf dem Spiel steht. Sein Buch zeigt auch Wege, den Kulturkrieg wieder einzudämmen. – TE-Leser erhalten bereits jetzt einen ersten Leseeindruck.

Für die klassische Linke, wie sie im vorvorigen Jahrhundert in Europa und nur dort entstand, bildete die Kritik an den ökonomischen Verhältnissen den Kern der Gesellschaft. Sie formierte sich in der Absicht, ungerechte Verhältnisse zu überwinden, und nicht, um sie zu bewirtschaften. Die ursprüngliche linke Bewegung besaß viele Schwächen und ausgedehnte blinde Flecken. Sie konnte mit Liberalität wenig bis nichts anfangen, sie überschätzte die Ökonomie als eigentliche Gesellschaftsgrundlage. Kultur samt Religion galt ihr nur als Überbau. Aber der Marxismus, der reformerische Teil der Arbeiterbewegung, auch verwandte Modelle wie die heute vergessene Staatswirtschaftsutopie Fichtes versprachen immerhin, die Menschen aus ihren Fesseln zu lösen. Ihr Stand sollte nach der gelungenen Befreiung keine Rolle mehr spielen. Nicht ihre Hautfarbe, nicht ihr Geschlecht oder die Tatsache, dass es sich bei den Befreiten um Europäer handelte. Gesellschaftsmitglied, das reichte ihnen als Identität.

Die klassische linke Ideologie plädierte gerade dafür, dass nicht der Einzelne eine Schuld an schlechten Zuständen tragen sollte, sondern dass ökonomischer Druck sie verursacht, wie es bei Bertolt Brecht heißt: Der Mensch wäre lieber gut als roh/aber die Verhältnisse, sie sind nicht so.

Deshalb sollten bekanntlich alle Verhältnisse umgeworfen werden, die aus Menschen verächtliche Wesen machten.

Kritik am linken Neusprech als Denkaufgabe
Roger Scruton kritisiert die Meisterdenker des Marxismus
Marx und Engels glaubten, schon im Kapitalismus sei alles Stehende und Ständische verdampft. Das stimmte nie. Über die Beständigkeit kleiner Formen selbst unter großen Veränderungswellen gibt Lampedusas »Gattopardo« besser Auskunft als viele Bände großer Gesellschaftstheoretiker. Aber dass Theoretiker und Praktiker, die sich heute die alten linken Symbole borgen, nach einer neuen stehenden und ständischen Gesellschaft streben, dass sie es für Fortschritt halten, wenn sich eine Gesellschaft wieder nach Eigenschaften wie Hautfarbe, Geschlecht und Herkunft gliedert und dass sie eine unabänderliche Verächtlichkeit bestimmter Menschengruppen als neue Doktrin verkünden – diese Entwicklung hätte die Klassiker der alten Linken mindestens verblüfft. Es wäre für sie auch eine Lektion darüber gewesen, was sich mit ihren Begriffen anstellen lässt.

Wo das Bewusstsein das Sein regieren will, spielt kulturelles Kapital eine wichtigere Rolle als das Materielle. Die neue Priesterkaste stützt ihre Macht darauf, dass sie kulturelles Kapital schöpft, verteilt und auch wieder entziehen kann. Statt wie die alte Linke Produktionsmittel zu beherrschen – ein mühsames Geschäft –, möchten die neuen Priester die Sinnproduktion kontrollieren.

Wer unter einem neuen Vorzeichen zur alten Stammes- und Standesgesellschaft zurückwill, der muss auslöschen, was im Zentrum der alten Linken und der Sozialreformer stand: die soziale Frage.

Wer von Gruppenidentität spricht, muss sich sozial blind stellen. Wer Menschen vor allem als Träger einer Hautfarbe und einer Herkunft sehen will, darf sich nicht für ihr Einkommen interessieren. Denn nur dann fügt sich der zum Mindestlohn bezahlte Kraftfahrer als Träger des weißen Privilegs in das Gesellschaftsbild ein, während die Staatssekretärin, deren Eltern als arabische Einwanderer kamen, lebenslänglich zu den Marginalisierten und potenziell Diskriminierten zählt, unabhängig von Status und Gehalt. Sie kehren damit die linke Klassik um.

Der angemessene Begriff für sie lautet: verkehrte Linke, regressive Progressive, Kräfte, deren Zukunftsentwurf sich die Vergangenheit zum Vorbild nimmt. Soziale Blindheit ist die erste Forderung, die verkehrte Linke an sich selbst stellen müssen. Dieses Buch handelt von den Kräften, die in ihrem Moraldünkel Schwächere von oben belehren und an den Rand der Gesellschaft drängen, und das in sozialer und in kultureller Hinsicht. Wer nicht zur Kaste der neuen Hohepriester gehört, soll keine legitimen Interessen mehr vertreten dürfen. Sondern sich schuldig fühlen und schweigen.

Neue Gesellschaft, das bedeutet nicht, dass alles umgestürzt würde. In dem moralischen Kapitalismus steckt selbstverständlich noch der alte, so wie die kleinere Matrjoschka-Puppe in der größeren. Dieses Buch versucht deshalb, auch eine politische Ökonomie dieser im Entstehen begriffenen neuen Verhältnisse zu entwerfen.

Mit Roland Tichy und Diether Dehm
Streit-Bar: Wie viel Wannsee steckt in Potsdam?
Die neue moralische Klasse, die sich links ausstaffiert, arbeitet in den westlichen Ländern gerade daran, die Früchte von Aufklärung zu vernichten – und das unter dem Banner des Fortschritts. Wer die bürgerliche Emanzipation verteidigt, egal aus welcher Perspektive, handelt nach ihrer Logik als Reaktionär. Die aufsteigende moralische Kaste praktiziert nicht nur die einfache, sondern gleich die mehrfache Verdrehung von linken und überhaupt von modernen politischen Begriffen. Für dieses Phänomen gibt es in der Ideologiegeschichte kein Vorbild: Den Weg zurück in die Vormoderne erklärt eine einflussreiche Allianz von Theoretikern, Politikern, Anführern von Institutionen und Medienvertretern heute nicht nur für Fortschritt, sondern sogar für den Fortschritt schlechthin, für seine einzige legitime Form.

Verachtung nach unten handelt von dem Versuch, die Bürgergesellschaft durch eine neue, von Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht und Religion definierte Gesellschaft der Stämme zu ersetzen, Parlamente durch Ständeversammlungen, den westlichen Individualismus durch das Denken im Kollektiv, die Meritokratie durch die Zuteilung von Ressourcen nach Quoten, das Aushandeln von Begriffen mit Rede und Gegenrede durch eine unkritisierbare Orthodoxie und den westlichen Rationalismus durch einen Okkultismus.

Dieses Buch beschreibt, was die Gesellschaft verlieren würde, wenn sich die neue Kaste tatsächlich als unangefochtene Macht etablieren sollte. Ihr Glaubenssystem enthält nichts Menschenfreundliches, nichts Befreiendes, nichts, was eine Gesellschaft befrieden könnte. Es macht die Gesellschaft hysterischer, paranoider, instabiler, ärmer und primitiver. Es verbessert außerhalb der Priesterkaste selbst nirgendwo die Lebensbedingungen.

Die dauernde Anklage bildet den Modus dieser Kaste, die ihrerseits nirgends erkennen lässt, welche Kritik, welche Gegenentwürfe sie denn noch zuließe, wenn sie einmal vollständig herrschen würde.

Alles, was den Westen wertvoll macht, steht auf dem Spiel: die Idee des Bürgers, die Rationalität, das Prinzip von Rede und Gegenrede, die offene Entwicklung. Die Alternative dazu wäre eine Gesellschaft, die in eine Finsternis fortschreitet.

Auszug aus:
Alexander Wendt, Verachtung nach unten. Wie eine Moralelite die Bürgergesellschaft bedroht – und wie wir sie verteidigen können. Edition Olzog im Lau-Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 372 Seiten, 26,00 €.


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Kommentare ( 30 )

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Nibelung
2 Monate her

Libanesische Verhältnisse die in Berlin und ganz Deutschland produziert werden und dazu sollte man die Geschichte und eigene Erlebnisse dort gehabt haben um zu wissen was es bedeuten könnte, wenn dieser Irrsinn auf uns überschwappt und immer noch anhält, wenn auch gerade mal die Waffen schweigen, aber stündlich wiederkommen kann, wenn man sieht, welche mörderischen Interessen dort zuhause sind. Das die Welt überwiegend von Dummen bevölkert ist, streitet ja niemand ab, wenn aber Ahnungslose und Unerfahrene das Zepter überreicht bekommen, kann es äußerst problematisch werden und nicht jedes Szenario müßte gleich im Waffengang ausarten und deshalb wäre ein TÜV für… Mehr

LiKoDe
2 Monate her

Die Klassiker der alten Linken und tatsächliche Linke wären, waren und sind über diese Entwicklung mitnichten verblüfft gewesen, denn sie bekämpften seinerzeit vehement revisionistische, reaktionäre und bornierte Kleinbürger in ihren eigenen Reihen. Ab den 1960ern verkleinbürgerlichte die SPD sich mit dem Godesberger Programm schliesslich selbst und Neue Linke [Horkheimer, Gramsci …] traten an, alles Fortschrittliche und Erreichte abzuwerten und durch ihren eigenen ‚Kultur-Marxismus‘ zu ersetzen. Das leistungslos wohlversorgte Kleinbürgertum [SPD, 68er, Grüne …] wuchs zahlenmässig ab den 1960ern bis heute stetig an und besetzte mehr und mehr Positionen in Verwaltung, Medien sowie Regierungen und setzte seine Weltsicht durch. Die geistigen… Mehr

Medienfluechtling
2 Monate her

Man kann den Kulturkrieg eindämmen, indem man sich an der Diskussion beteiligt. Weniger in den Leserkommentaren, sondern mehr in den Möglichkeiten vor Ort, wie z.B. Bezirksausschuß, Quartiersmanagement, Stadtwerkstatt, etc. Überall schmoren Leute im eigenen Saft und werden von den Grünen weichgekocht, weil sich keiner mit einer anderen Meinung blicken lässt.

giesemann
2 Monate her

„Die Alternative dazu wäre eine Gesellschaft, die in eine Finsternis fortschreitet“. Kurz: Die Islamisierung. In Griechenland nennt man die Türkenzeit unter der Herrschaft der Osmanen die „dunklen Jahre“. Immerhin ca. 400 Jahre. Aber der Islam wird verschwinden, nicht wir. Wir sind unschlagbär – wenn wir nur wollen. Denn GANZ von alleine geht es auch nicht. Bisschen Anstrengung mecht schon netig sein. Pour le siècle de la lumière. https://www.tichyseinblick.de/feuilleton/buecher/alles-was-die-westliche-gesellschaft-wertvoll-macht-steht-auf-dem-spiel/ 
 

dienbienphu
2 Monate her

Der Zug ist leider bereits abgefahren. Nicht umsonst haben „Errungenschaften“ wie universelle Menschenrechte keine Relevanz außerhalb der westlichen Hemisphäre. Hier wird das Thema nicht mal kontrovers diskutiert. Und so werden Verbrecher mit Samthandschuhen angefasst, Faulenzer hofiert, usw. Über Geschichte darf man schon gar nicht streiten.

j.heller
2 Monate her

Die Pervertierung des „Linksseins“ durch Wokeness muss dringend analysiert werden. Dies ist anscheinend ein guter Beitrag dazu.
Das Phänomen ist allerdings gewaltig und komplex. Wenn wir Pech haben, ist es nicht nur ein korrigierbarer Fehler, sondern sozusagen systemimmanent. Gesellschaften, die die höchste Entwicklung erreicht haben, scheitern möglicherweise daran, dass die Gruppe der Progressiven erkennt, dass es nun nicht mehr signifikant weiter geht. Da das klassische linke Projekt der Ökonomie gescheitert ist, und „Sünden“ wie Rassismus und Sexismus zwar zurückgedrängt, aber nie völlig beseitigt werden können. Aus dieser Frustration entsteht ein quasireligiöser, verkappter Revanche- und Vernichtungswille gegenüber den „weißen“ Gesellschaften.

brummibaer_hh
2 Monate her

Schon komisch… Was die westliche Gesellschaft wertvoll macht. Wer legt das eigentlich fest? Mir ist zum Beispiel Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft, Respekt wichtig – das hatten mich meine Eltern seinerzeit so gelehrt und ich bin ihnen dankbar dafür. Ein Teil der Menschen in diesem Lande rufen laut „Wir sind das Volk“ und meinen bestimmen zu dürfen, wofür die Werte unseres Landes stehen. Komisch, genau gegen die, die diese lauten Menschen parlamentarisch vertreten sollen, gehen andere – nd vor allem noch viel mehr Menschen – auf die Straße. Nicht mit dem Anspruch das Volk zu sein, aber genauso dazu zu gehören wie die,… Mehr

hoho
2 Monate her

Das alles ist eine gute Dokumentation von dem was in diesem Land passiert. Ich brauche das aber nicht. Ich kann mit meinen Augen sehen, wie es lang geht. Das schlimmste dabei ist, dass bei fast jedem Versuch sich aus dem Sumpf zu befreien, sinkt man weiter darin.

A rose is a rose...
2 Monate her

Es verschwindet doch mehr und mehr, was das Leben über das Arbeiten hinaus noch wertvoll und schön gemacht hat. Abendliches Bummeln durch die Innenstädte Im Park auf einer Bank ein Buch lesen oder auf der Wiese liegen und in die Luft gucken Sylvester mit andern Menschen einfach so auf der Straße ins Gespräch kommen und gemeinsam auf’s Neue Jahr anstoßen Weihnachten einen Glühwein trinken und an den Verkaufsständen entlangbummeln Sich Abends mit Freunden im Restaurant treffen In der Kneipe lautstark die Welt retten Die Kinder sicher in Schule und Kindergarten schicken können Deutsches Essen (viel Fleisch und Milchprodukte, besonders Schwein)… Mehr

Haba Orwell
2 Monate her
Antworten an  A rose is a rose...

> Und die Frage bleibt für mich, ob diese Beschlüsse wirklich die Meinung der Wähler darstellen.

Zum Teil sind die Michels leider tatsächlich zu faul, sich wirklich unabhängig zu informieren und nachzudenken. Lieber werden einfach Woke Narrative nachgeplappert – ob es sich mit dem Leidensdruck ändern kann?

Kaltverformer
2 Monate her
Antworten an  A rose is a rose...

Ich bin immer wieder über die Diskrepanz verblüfft, was meine Mitmenschen vor und nach einer Wahl so von sich geben und dem Ergebnis der Wahl.
Irgendwo, irgendwie muss es da bei vielen einen Mechanismus geben, der im Moment der Stimmabgabe die Vergangenheit und Zukunft verschwinden lässt und nur einen sonnigen Moment der Heiterkeit simuliert, der spätestens nach dem Verlassen des Wahllokales spurlos verschwindet.

Medienfluechtling
2 Monate her
Antworten an  A rose is a rose...

„Es verschwindet doch mehr und mehr, was das Leben über das Arbeiten hinaus noch wertvoll und schön gemacht hat.“, wie wahr.
Leider habe ich das Gefühl, das eh kaum noch einer ein Hobby pflegt oder das Auto für etwas anderes braucht, als in die Arbeit zu fahren. Vielleicht auch ein Grund warum sich viele für die aktuellen Demonstrationen so einspannen lassen, anstatt einfach, z.B. zum Sport im Verein zu gehen. Man möchte meinen, den Leuten fehlt nichts, weil sie eh ein langweiliges Leben leben.

Enrico Stiller
2 Monate her

Habe das Buch gerade bestellt. Von Herrn Wendt habe ich noch nie etwas gelesen, was nicht unbedingt lesenswert gewesen wäre.