Amerika, du hast es nicht besser

Vladimir Nabokovs Romane und Erzählungen genießen immer noch Kultstatus. Die Zahl seiner Bewunderer ist jedoch ungleich größer als die seiner Leser. Auch dem Autor selbst schien die perfekte private Inszenierung zeitweise wichtiger gewesen zu sein als seine Prosa.

IMAGO

Es gibt Schriftsteller, die das Lesepublikum auf Anhieb faszinieren und dennoch der Nachsicht bedürftig sind. Sie leisten Meisterhaftes und man verneigt sich vor ihnen; trotzdem kommt man nicht umhin, sie insgeheim zu bemitleiden. Was der russisch-amerikanische Schriftsteller Vladimir Nabokov einst in Zeitungsinterviews über Thomas Mann und Robert Musil oder etwa über Fjodor Dostojewski und Boris Pasternak erzählt hat, ist aus heutiger Sicht lächerlich. Nabokovs Romane und Kurzgeschichten werden jedoch weiterhin in allen Ländern der zivilisierten Welt gedruckt und von Millionen Lesern geliebt. Der Schlüssel zum Erfolg liegt also offensichtlich zunächst einmal in der Technik des Auslassens und Aussparens.

Literarische Feinkost

Als Epiker erwies sich Nabokov nämlich als Meister des hochdramatischen Schweigens, als Erfinder des schreienden Understatements. Vor allem aber erzählte er von elementaren Gefühlen und Situationen – von Liebe und Hass, Treue und Verrat. Daher blieben seine Bücher auch jenem Publikum verständlich, das eher an Trivialliteratur interessiert war. Zugleich wird seine Prosa immer noch von literarischen Feinschmeckern bewundert. Den unbedarften Lesern machte er es leicht, den anspruchsvollen ersparte er ästhetische Gewissensbisse. So konnte Nabokov zu Lebzeiten beides werden: Der Puschkin der kleinen Leute und der Tolstoi der großen Snobs. Spätestens dann, wenn sein berühmtester Romanheld Humbert Humbert endgültig dem Mädchen Dolores verfällt, sind wir geneigt, uns dieser Prosakunst bedingungslos zu ergeben. Hier ist jeder Satz durchsichtig, ohne je simpel zu sein, und gleichzeitig gehaltvoll, ohne je schwerfällig zu werden.

Das Einfühlungsvermögen sowie die Menschenkenntnis des Erzählers verblüffen bei jeder Relektüre des in zahlreiche Sprachen übersetzten Romans „Lolita“ (1955). Die Psychologie, Phantasie und Detailkunst Nabokovs hätten allerdings nicht ausgereicht, um vor unseren Augen eine solche Welt entstehen zu lassen. Dank der Kraft des hier ausgedrückten Lebensgefühls sowie der Suggestivität der Figuren und Stimmungen ist fortwährend die ungewöhnliche Persönlichkeit des Autors spürbar. Selbstredend muss uns nicht der naive Fehler unterlaufen, Vladimir Nabokov mit seinem Helden zu verwechseln, doch es mag im Leben des Schriftstellers Momente gegeben haben, in denen ihm solche Bedürfnisse nicht ganz fremd waren. Es ist immerhin auch anzunehmen, dass Dostojewski „Verbrechen und Strafe“ geschrieben hat, ohne je eine Frau ermordet zu haben. Eines steht fest: Seit „Lolita“ genoss Nabokov zweifelsfrei Kultstatus.

Fast schon könnte man den Eindruck gewinnen, dass die vortrefflichen Romane des im April 1899 in Sankt Petersburg geborenen Autors allenfalls Nebenprodukte seines Ruhmes waren. Selbstredend hatten sie ihn erst ermöglicht, aber die Zahl der Bewunderer Nabokovs ist nach wie vor ungleich größer als die seiner Leser. Dies hat damit zu tun, dass die Motive und Gestalten in seinen Texten ebenso Millionen Kinobesuchern in den entlegensten Winkeln der Welt vertraut sind. Überdies vermochte Nabokovs Lebensweg, mit dem sich die Illustrierten in den USA immer wieder befassten, auch jene zu begeistern, die seine Bücher kaum oder überhaupt nicht kannten.

Provokative Selbstinszenierung

Was im Laufe der Jahrzehnte über Vladimir Nabokovs Biografie bekannt wurde, trug zu seinem spektakulären Erfolg nicht weniger bei als die Qualität seiner literarischen Texte. Die teilweise von ihm selbst angestrebte und organisierte Legende, die sich bis heute um ihm rankt, sollte man jedoch nicht allein als ein rein kommerzielles Phänomen missverstehen. Die provokative Selbstinszenierung war zunächst gewollt, bestimmte aber bald auf eine von ihm keineswegs gewünschte Weise das Verhältnis der Öffentlichkeit zu seinen Ansichten und Reflexionen. Der von Nabokov geschaffene Mythos um seine Person schränkte später dessen intellektuelle Bewegungsfreiheit ein. Dies versuchte er durch öffentliche Auftritte und derbe Interviews wettzumachen, die bisweilen im krassen Gegensatz zu der subtilen Kraft seiner Prosa standen. Dieser Spagat zwischen Fiktion und Realität hat den Erfolg seiner Bücher freilich eher gesteigert als geschmälert.

Er lieferte dem Lesepublikum weiterhin, wonach es sich sehnte: In den Romanen „Pnin“ (1957) und „Fahles Feuer“ (1962) führt Nabokov sein bekanntes Spiel mit Erzählinstanzen und metafiktionalen Kunstgriffen fort. Zudem versammelt er in den englischsprachigen Texten zentrale Motive aus seiner Petersburger Jugend und entwirft ein Bild, das für die russische Literatur des 20. Jahrhunderts von größerer Bedeutung ist, als man bislang erkannt hat. Um dies erfassen zu können, muss man unweigerlich den autobiographischen Subtext seiner Romane berücksichtigen, der sich oft nur „eingeweihten“ Nabokov-Forschern erschließt, jedoch kaum der breiten Leserschaft. Denn auch das Leben des Autors ist verfilmungswürdig.

Wenn es in der Familie Nabokov eine Religion gab, dann wohl den Glauben daran, dass verschiedene Kulturen sich nicht ausschließen, sondern befruchten. Für einen jungen wohlhabenden Mann aus Sankt Petersburg bedeutete dies, dass man schon dann mehrsprachig sein sollte, bevor man sich den „schwierigeren“ Problemen der Bildung hingab. Reichtum, Kosmopolitismus sowie Verbindungen zum einstigen Zarenhaus waren – gelinde gesagt – nicht die optimalen Voraussetzungen für ein glückliches Leben in einem bolschewistischen Russland. Vladimir Nabokovs Großvater hatte einstmals im Zarenreich als Justizminister gedient. Der Vater war nach dem Sturz von Nikolaus II. noch an der republikanischen Regierung beteiligt, welcher die Oktoberrevolution von 1917 ein abruptes Ende setzte. Nabokovs Familie war zunächst auf die Krim geflohen und hatte zwei Jahre später Russland endgültig verlassen.

Literarisches Versuchslabor

Anhand dieses konkreten Biografiebeispiels lässt sich veranschaulichen, wie sich die russische Kultur als Folge von Weltkrieg, Revolution, Bürgerkrieg und Vertreibung zu Beginn der 1920er Jahre zwischen Mutterland und Exil spaltete. Die russische Diaspora verteilte sich auf zahlreiche Städte in Europa sowie Nord- und Südamerika. Flüchtlingsmassen und kulturelle Eliten bildeten erstmals ein „Russland jenseits der Grenzen Russlands“ („zarubežnaja Rossija“ oder „Rossija za rubežom“). Als der Sieg der Bolschewisten sich nicht mehr fortwünschen ließ, zogen die Nabokovs zu Verwandten nach Berlin, wo sich mittlerweile die meisten russischen Flüchtlinge aufhielten. Nun gilt Berlin gegenwärtig kaum als ein Schulbuchbeispiel für eine gelungene Integration von Migranten. Vor hundert Jahren sah dies aber ganz anders aus: Die Hauptstadt der Weimarer Republik wurde für zahllose russische Intellektuelle zu einem regelrechten Versuchslabor des literarischen Exils. Der junge Vladimir Nabokov wahrte hingegen einen achtungsvollen Abstand zur deutschen Kultur, beschränkte den Kontakt mit der Landessprache lediglich auf das „Allernotwendigste“, wie er später selbst zugab. Besonders das Berliner Idiom sei „widerwärtig“, schrieb er in seinen Memoiren „Erinnerung, sprich“. Nabokovs Aufenthalt im Zwischenkriegsdeutschland gestaltete sich auch alles andere als zufriedenstellend. Nach dem Verlust der Heimat verlor er 1922 seinen Vater, der bei dem Versuch, einen Freund vor Attentätern zu schützen, selbst tödlich verletzt wurde. Die Ergebnisse intensiver Forschung haben allerdings gezeigt, dass das Fundament für Nabokovs späteren Weltruhm gerade mit den Texten der Berliner Jahre gelegt wurde. Im Rathaus Wilmersdorf hatte er zudem seine langjährige Freundin Véra Slonim geheiratet.

Nabokovs russischsprachige Gedichte und Novellen wurden in den zwanziger Jahren bereits ins Deutsche übersetzt, er selbst erlangte in Charlottenburg einen hervorragenden Ruf als Schriftsteller. Schließlich musste die Familie vor den deutschen Nationalsozialisten flüchten und gelangte über Frankreich in die USA. Nabokov publizierte da schon längst auf Englisch, bekam Lehraufträge an renommierten Universitäten an der amerikanischen Ostküste und hatte eine Stelle als Kurator für Schmetterlingssammlungen bekleidet. Außerdem war er ein begnadeter Tennis- und Schachspieler, was die Damenwelt nicht ganz unbeeindruckt ließ. Sein Charme hatte jedoch Grenzen: In beiden Disziplinen ließ er seine Frau nur selten gewinnen.

Ganz unproblematisch war der Wechsel vom Schreibpult zum Katheder nicht. Als Nabokov 1957 für eine Harvard-Professur vorgeschlagen wurde, wollten namhafte Slawisten diese Kandidatur torpedieren. Der russische Semiotiker Roman Jakobson, damals wortführend in dem dortigen Slavic Department, demontierte sie mit den Worten: „Nehmen wir an, Nabokov sei tatsächlich ein bedeutender Autor. Berufen wir dann aber künftig gleichfalls einen Elefanten als Professor für Zoologie?“

Intellektuelle Lebensaufgabe

Die perfekte Beherrschung des Englischen – und da mag man Vladimir Nabokov mit dem kongenialen Epiker Józef Konrad Korzeniowski (Joseph Conrad) vergleichen – ließ dessen Popularität sprunghaft ansteigen. „Amerika, du hast es besser als unser Kontinent, das alte, hast keine verfallenen Schlösser und keine Basalte“ – hieß es bei Goethe, dem wir allerdings nicht verübeln wollen, dass er von Amerika keine Ahnung hatte. Der russische Exilautor vertrat da eine andere Meinung. Nabokov liebte die englische Sprache, verabscheute jedoch die Untiefen der amerikanischen Alltagskultur. Nach eigenem Bekunden machte er es sich zu seiner schriftstellerischen und intellektuellen Lebensaufgabe, den Amerikanern in ihrer eigenen Sprache nachzuweisen, „wie weit sie es noch hatten, um in der Zivilisation anzukommen“.

Der Roman „Lolita“, der dem Autor zu Weltruhm verhalf, löste jedenfalls schlagartig sämtliche Geldprobleme. Nabokov konnte 1959 seine Professur aufgeben und sich vollends dem Schreiben widmen. Seine literaturtheoretischen Glaubensbekenntnisse waren ohnehin weniger wert als die fiktionalen Texte. Die vorzüglichen Prosaarbeiten Nabokovs fügen sich zu einem Bild, das so gegenwärtig wie anschaulich ist.

1961 siedelte er mit seiner Ehefrau in die Schweiz über und verbrachte seinen Lebensabend im Palace-Hotel in Montreux. Wurde er zumindest dort glücklich? Überall, wo er hinkam, war der Schmetterlingsjäger offenbar ein Außenseiter. In einer Zeit, in der sich Exilrussen auf die Hacken traten, waren es aber gerade die Außenseiter, die zu repräsentativen Figuren avancierten.

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Kommentare ( 4 )

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Wilhelm Roepke
11 Tage her

Ich kann den Hype um Nabokov nicht verstehen. Tut mir leid, aber „Lolita“ bedient vielleicht die Phantasien bestimmter Männer mit seltsamen Neigungen, die als Fotodokumentation zurecht verboten wären und als Literatur wegen Fiktionalität erlaubt sind. Aber „große“ Literatur? Oder auch nur große russische Literatur? Im Vergleich zu „Krieg und Frieden“, „Anna Karenina“, „Archipel Gulag“ oder den Texten grosser Musikstücke? Hm. Das kann ich auch mit erwachsenen Damen hochwertiger haben, wie z.B. „Carmen“ von Bizet, gut, das ist auch musikalisch unterlegt. Aber, dass ein Mann einer Frau verfällt, wobei Lolita noch nicht einmal eine Frau ist, war jetzt nicht so originell,… Mehr

Ulric Viebahn
11 Tage her

Auch wenn ich nicht jede Pirouette verstanden habe: Ein schöner Artikel.

kasimir
11 Tage her

Danke. Eine sehr schöne Würdigung anlässlich seines 125. Geburtstages. Leider habe ich bisher nicht so viel von ihm gelesen. Nur zwei Romane (Lolita, Fahles Feuer). Die beiden sind aber auch noch Jahren präsent für mich, sehr eindrucksvoller Schreibstil.
Ich werde es gleich mal auf meine Bücherliste setzen, noch mehr von ihm zu lesen…

Kaesebroetchen
11 Tage her

Vielen Dank für diesen schönen und interessanten Artikel. Seine Memoiren sind ein faszinierender Blick in eine vergangene Welt. Das für die hoch gebildete Oberschicht wunderbar kultivierte, zaristische Russland und die darauf folgenden Schrecken des Zerfalls, der Revolution und des Berlins der 1920er Jahre.