Das europäische Erbe verteidigen – dem Niedergang begegnen

Kann Europa sich noch retten, gerettet werden? David Engels legt eine präzise Analyse der existenziellen Krise des Kontinents vor – und Ansätze, die einen Weg in die Zukunft weisen.

Europa steckt nicht nur in einer Krise, es ist im Niedergang begriffen. Das ist nichts Neues. Wir sind umgeben von Nachrichten und Schlagzeilen, die uns diese Realität jeden Tag vor Augen führen. Wie aber mit diesem Umstand umgehen, wie ihm begegnen?

Nun, zuerst einmal mit einer gründlichen Analyse, die sodann ermöglicht, etwaige Lösungen zu skizzieren.

Beides, Analyse und Lösungsansätze, legt David Engels vor. Dass ein Althistoriker im Rückblick auf den Untergang vergangener Kulturen erläutern kann, wie es zur gegenwärtigen existenziellen Krise kam, ist einigermaßen nachvollziehbar. Dass er auch einen wagemutigen, konstruktiven Blick in die Zukunft zu werfen vermag, ist weniger selbstverständlich. Diesen Blick aus der Perspektive der Historie zu tun, ist indes äußerst hilfreich, wie Engels belegt.

Mit Das Abendland verteidigen – Einführung in den Hesperialismus legt er die deutsche Fassung seines Werkes Défendre l’Europe civilisationelle vor. Es ist ein schmaler Band, aber er hat es in sich. In erstaunlicher Dichte gelingt es Engels, die Ursachen und die Beschaffenheit der gegenwärtigen Situation darzulegen – und dabei trotz der Kürze einen ganzen Reigen konkreter Sachverhalte anzusprechen und präzise zu beschreiben, sowohl, was historische Entwicklungen angeht, als auch was aktuelle Probleme betrifft – von Klimawahn bis Transhumanismus, von Migrationsproblematik bis hin zu demokratischen Defiziten des „Milliardärssozialismus“, der vor unseren Augen Gestalt annimmt.

Präzision des Denkens und der Sprache – das ist vielleicht der wichtigste und wohltuendste Parameter, der Das Abendland verteidigen ausmacht. Denn viel wird über die Krise Europas gesprochen und geschrieben. Zumeist aber bleiben diese Gedanken überschattet von einem diffusen Gefühl der Hilflosigkeit, der Überforderung, manchmal des Zorns angesichts der Zerstörung einer reichen Kultur, Tradition und Lebensart.

Im ideologischen Nebel zwischen linkem Wokismus und seiner rechten Entsprechung – national- oder ethnochauvinistischer Rückwärtsgewandtheit, die kaum weniger geschichtsvergessen ist – und flankiert von schlaffer Nostalgie, die sich nicht eigentlich um Tradition kümmert, sondern ein bequemes Leben ersehnt, tastet sich der Europäer durch ein Minenfeld der Herausforderungen. Die Erläuterungen, wie es zu diesem Zustand kam, und was man jetzt tun müsse, sind zumeist von starker ideologischer Einseitigkeit geprägt.

KLASSIKER NEU GELESEN
Es war die Kultur, Dummkopf!
Engels verpflichtet sich akademischer Integrität und wissenschaftlicher Unvoreingenommenheit. Obwohl, oder gerade weil er als Europäer spricht, idealisiert oder verabsolutiert er die europäische Zivilisation keineswegs. Engels‘ Haltung ist geprägt von Liebe für das Eigene und von Respekt gegenüber dem objektiv Wertvollen, man könnte auch sagen, gegenüber dem Guten, Wahren und Schönen. Aber diese Haltung ist frei von Chauvinismus, der die edlen und wahren Aspekte anderer Kulturen nicht erkennen kann oder will.

Damit erweist sich Engels als kritischer Beobachter auch der „Konservativen“ oder „Rechten“, oder wie immer man jene, die sich linker, woker, neo- und kulturmarxistischer Narrative erwehren, nennen möchte. Denn die Versuchung ist groß, die eigene prekäre Situation durch die Abwertung anderer stabilisieren zu wollen.

Das aber wäre nur eine Scheinlösung. Am eigenen Untergang verändert sie langfristig nichts. Sie sorgt lediglich dafür, dass man ihm trotzig, bitter und arrogant entgegengeht.

Stattdessen plädiert David Engels gegenüber einer „euroföderalistischen Linken“, die die „traditionelle kulturelle Identität Europas durch einen körperlosen, materialistischen und hedonistischen Globalismus ersetzen will“ und einem „rechten Souveränismus“, der in „fehlgeleiteter Übertragung des „Make America Great Again“ Europa zu einem „Schachbrett der imperialen Interessen der anderen Großmächte der neuen multipolaren Welt“ machen würde, für einen „dritten Weg“: Europäische Einigung ja, aber sie müsse auf der Verteidigung und Pflege der europäischen Identität beruhen.

Als Ideal, nicht als Utopie kennzeichnet Engels diesen Vorschlag, den er in Anlehnung an den griechischen Begriff für Westen bzw. Abendstern als „Hesperialismus“ bezeichnet.

Und tatsächlich: Was erst einmal utopisch klingen mag, entfaltet unerwartet eine gehörige Portion Praxistauglichkeit. Engels begnügt sich nicht damit, im historisch-philosophischen Elfenbeinturm Konzepte zu kreieren, er macht deutlich, dass es auch um politische Entscheidungen und politische Realität geht. So erweist er sich nicht als Feind der Europäischen Union, sondern macht deutlich, wie reformbedürftig sie ist, wo sie Europa in die falsche Richtung steuert, und wie man diesen Kurs korrigieren könnte.

Die Anwendbarkeit seiner Gedanken ist eher dadurch begrenzt, dass zum einen die schiere Masse und Komplexität der Herausforderungen ein systematisches Vorgehen notwendig machen würde, das nur schwer umzusetzen wäre, und freilich dadurch, dass alle, die sich zumindest gegen den linken und woken Globalismus stemmen, eine höchst fragmentierte Gruppe bilden, die sich nur schwer zusammenfindet.

Von der Ekstase der Normalität
„Was uns glücklich macht, bindet uns“
Die Grundstimmung des Buches zeichnet sich dennoch nicht durch Resignation aus. Engels macht deutlich, dass die Verteidigung des Abendlandes eine Verpflichtung ist, die sich nicht dadurch auflöst, dass man nicht von einem „Sieg“ ausgeht.

Hier hilft der schonungslose Blick des Historikers. Während es ein Leichtes ist, sich einzureden, das Ende Europas sei das Ende der Welt, sieht er nüchtern die Riege großer Zivilisationen und Imperien über die Bühne der Weltgeschichte wandeln, und Europa sich darin einreihen. Nicht den Erhalt Europas im Ist- oder „War“-Zustand einer angenommenen idealen Epoche betrachtet Engels als Ziel, sondern die Bewahrung und Festschreibung dessen, was Europa zur Geschichte der Menschheit beizutragen hat – gleich, ob und wie es sich in der Zukunft als Zivilisation zu erhalten vermag.

Das stimmt einerseits traurig, ist aber andererseits eine Entlastung: Es lädt dazu ein, sich konkret umzuschauen, was von dem, was Europa ausmacht, weitergetragen werden kann.

Womit wir bei einem Kern des Buches angelangt sind, der angesichts eines derart kämpferischen Titels vielleicht erstaunlich wirken mag: Das gesamte Werk ist durchdrungen von dem Bekenntnis zur Transzendenz. Die Transzendenz ist es laut Engels, die einer Zivilisation Beständigkeit verleiht, sie ist, was das Streben des Individuums und das der Völker in der Ausrichtung auf ein Ziel vereint und zusammenhält.

Den Verlust der Transzendenz macht er denn auch als entscheidenden und grundlegenden Faktor aller Krisen aus – und belegt dies nachvollziehbar und überzeugend.

Der Aktivist, der lediglich nach effizienten Mitteln sucht, um die eigenen Ziele zu erreichen, wird irritiert innehalten müssen, und sich dem von Engels eingeforderten Nachdenken über die Basis der eigenen Handlungen stellen müssen. Eine lohnende Aufgabe.

Ein geistiger und geistlicher Kontinent
Vielmehr eine Geschichte als ein Ort: das Abendland
Engels identifiziert als Kern der europäischen Kultur die spezifische Form, die das Streben des Menschen zur Transzendenz in Europa angenommen hat, geformt vor allem – aber nicht nur – durch Europäer.

Das lässt als vollkommen folgerichtig erscheinen, warum mit der Hinwendung zum Materialismus auch Europa zugrunde gehen muss. Eine unangenehme Wahrheit für jene, die die Freiheitsrechte und Werte Europas schätzen, aber die religiöse Grundlage der europäischen Gesellschaften missachten. Das rein säkulare Streben, politische und gesellschaftliche Gegebenheiten zu erhalten, ohne zu den eigenen Wurzeln zurückfinden zu wollen, wird gewogen und als zu leicht befunden.

Aus diesem innersten Kern der europäischen Identität heraus entwickelt Engels die Überzeugung, dass sich Geschichte dialektisch vollziehe. In der europäischen Geschichte sieht er demgemäß eine These und Antithese: Erstere in der Institution des Heiligen Römischen Reiches und der mittelalterlichen Ordnung, Letztere in der „Emanzipation“ von den Gegebenheiten und Selbstverständlichkeiten jener Zeit.

Nebenbei sei bemerkt, dass Engels hier zutreffend den Umschwung bereits in der Neuzeit ansetzt – es wird häufig übersehen, dass nicht erst Aufklärung oder Moderne Ursachen heutiger krisenhafter Entwicklungen sind.

Engels sieht in der Antithese allerdings nicht nur negative Entwicklungen. Postmoderne Exzesse sollen überwunden werden – indem man zur Synthese schreitet, und damit die europäische Zivilisation gewissermaßen vollendet.

Wie gesagt birgt dies einen gewissen herbstlichen, abendlichen Schmerz: Obwohl ein reines Sachbuch, fühlt man sich an Tolkien erinnert, der das Thema der Vergänglichkeit literarisch in ähnlicher Weise aufgreift.

Weder ergibt sich David Engels einem hoffnungslosen Pessimismus, noch propagiert er einen Enthusiasmus, der meint, man müsse nur in die Hände spucken und das Rad kräftig zurückdrehen, um Europa zu retten.

Auch hier wählt er die Synthese: Aktiv bewahren, aktiv weitergeben, aktiv bauen, wo alles um uns herum abzubauen scheint. Um damit künftigen Generationen etwas übergeben zu können, ja, um womöglich der Ewigkeit etwas übergeben zu können.

Dass sich dieses gewaltige Panorama bescheiden und unprätentiös in nicht einmal 200 Seiten vor dem Leser entfaltet, ihn zum Nachdenken, Trauern, Handeln anregt, ist ein Verdienst des Autors: Jeder Satz trifft ins Schwarze, regt zum Weiterdenken an.

Wer nach einer denkerischen Grundlage sucht, um sich den Herausforderungen zu stellen, denen Europa gegenübersteht, wird hier fündig: Schonungslos ehrlich, ohne Großsprecherei, ohne ideologischen Tunnelblick.

David Engels, Das Abendland verteidigen. Einführung in den Hesperialismus. Renovamen-Verlag, Klappenbroschur, fadengeheftet, 138 Seiten, 18,00 €


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Kommentare ( 16 )

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16 Comments
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MartinKienzle
1 Monat her

Zitat: „Im ideologischen Nebel zwischen linkem Wokismus und seiner rechten Entsprechung – national- oder ethnochauvinistischer Rückwärtsgewandtheit, die kaum weniger geschichtsvergessen ist – und flankiert von schlaffer Nostalgie, die sich nicht eigentlich um Tradition kümmert, sondern ein bequemes Leben ersehnt, tastet sich der Europäer durch ein Minenfeld der Herausforderungen.“

Meine Güte, Fräulein Diouf: Abgesehen davon, dass die beiden sogenannten „Weltkriege“, worauf Sie rekurrieren, durch Dritte initiiert wurden https://www.reddit.com/r/AlternativeHistory/comments/8ies6q/albert_pike_a_33rd_degree_freemason_wrote_a/?tl=de&rdt=41202), ist nationales Denken für die eigene Sicherheit als Volk ebenso unerlässlich wie Sie die Haus- respektive Wohnungstür absperren, um sich vor ungebetenem Besuch zu schützen!

Last edited 1 Monat her by MartinKienzle
moorwald
1 Monat her

Das beschworene Europa gibt es schon lange nicht mehr Die traurigen Reste werden gerade widerstandslos der Islamisierung und Arabisierung preisgegeben.

WandererX
1 Monat her

Wilde Behauptung: Europa sei im Niedergang?! Quatsch! Mit solchen Thesen Geld zu machen ist unseriös!

Nibelung
1 Monat her

Der Thron dahinter war einst noch das deutsche Markenzeichen, was schon lange her ist und die heutigen unterbelichteten Cäsaren nur noch einen Abklatsch darstellen und selbst der Weißkopf-Seeadler ist im freien Fall ist, indem er wild mit den Flügeln schlägt. Das alles wird den Westen und insbesondere die USA nicht begünstigen, wenn die US-Währung in ihrer weltweiten Akzeptanz sinkt und furchtbare Schneisen in ihre Reihen schlägt, die US-Anleihen verkaufen, wo sie dann woanders hausieren müssen, wenn es überhaupt noch geht und die Lieferverschleppungen aller Art erst mal einsetzen, was uns dann den Rest gibt. Zum Schluß benötigen sie keine weiteren… Mehr

Kuno.2
1 Monat her

Es sollte sich doch irgendwann herum sprechen, dass Europa eine geografische Bezeichnung aber kein Kontinent ist!
Sonst läge, weil die Alpen dazwischen liegen, Italien auf einem anderen Kontinent.

Ohwehnene
1 Monat her

Mit der Linken, deren Mekka Moskau ist, wird es nicht gelingen. Genau wie der Kreml ist diese auf Destruktion des (hier) Bestehenden aus.
Die Konstruktion der hiesigen, z.Zt. dysfunktionalen Demokratie sollte korrigiert werden im Sinne von „wer zahlt bestellt“, weil umgekehrt funktioniert es ja nicht. In der Antike wurde dem Ältestenrat Entscheidungskompetenz verliehen und nicht Grünschnäbeln und Halbstarken oder Backfischen (von engl. back, zurück).

Last edited 1 Monat her by Ohwehnene
verblichene Rose
1 Monat her

Wahrscheinlich bin ich als „Rechter“ linker als jeder Linke.
Aber erklären Sie das mal einem Linken 😉
Und wer trotzdem nicht „national“ denkt und lebt, macht höchstwahrscheinlich schon in seiner eigenen Familie alles verkehrt.
Aber erklären Sie das mal einem Woken.

LiKoDe
1 Monat her

Wer das laut David Engels auf die Antike und das Christentum sich gründende Weltbild des Hesperialismus als geistige Grundlage Gesamteuropas verstehen will, dem seien 1. Renovatio Europae und 2. Europa Aeterna empfohlen, damit er die hier vorgestellte kompakte Übersicht des Hesperialismus [3. Das Abendland verteidigen] begreift.

Peter Triller
1 Monat her

Alle Gedanken und Vorschläge zur Rettung Europas oder Deutschlands vor zielen ins Leere, wenn sie keinen Adressaten finden. Der Entdeckergeist, der Mut, Risiken einzugehen, das Tüffteln und Ringen bis in die Nacht hinein, um Neues zu erfinden, Selbstbewusstsein und Stolz, ja auch Gier und Egoismus sind zu vielen Bürgern in Europa abhanden gekommen. Im Zustand der trägen Sättigung reißt man keine Bäume aus oder entwickelt aus Langeweile verrückte Ideen, wie den Klimawandel zu stoppen. Mit einem Satz: das revolutionär-konservativ-libertäre Subjekt fehlt heute in Europa, damit unser Kontinent wieder genesen kann.

Lucius de Geer
1 Monat her

Engels ist ein hochgebildeter und feinsinniger Zeitgenosse – als Historiker sollte er aber wissen, dass Geschichte nicht mit immer neuen „ismen“ von oben gemacht wird, sondern sich entlang großer Linien und in Zyklen vollzieht und sich dabei talentierter Köpfe und Verkörperer des Zeitgeistes bedient. Europa hat mangels intellektueller und im Alltag (!) gelebter kultureller Substanz seine große Zeit hinter sich, die USA stehen etwas besser da, da sie nicht so sehr mit Islamikern geflutet sind und das Leistungsprinzip noch hochgehalten wird. Doch die Zukunft gehört Ostasien – neben China vor allem Indien. Das soll nicht heißen, dass der Einzelne hierzulande… Mehr