Tichys Ausblick Talk: Unterwerfung oder Zerstörung – Militärexperten zur Lage in der Ukraine

Im Gespräch mit dem Ex-BND-Chef August Hanning, dem Militärexperten Ralph Thiele und dem Korrespondenten Boris Kálnoky aus Budapest.

 
Was kaum einer mehr für möglich gehalten hat, ist Wirklichkeit geworden: Der Krieg ist zurück in Europa – und ein neuer kalter Krieg bahnt sich an. Täglich erreichen uns Bilder aus der Ukraine, die entsetzliches Leid zeigen, die Rücksichtslosigkeit der russischen Invasoren und den Mut des ukrainischen Volkes.

Trotz des Grauens müssen wir einen klaren Kopf behalten – mit diesem Anspruch entstand die heutige Ausgabe der Talkshow Tichys Ausblick. Ausgewiesene Fachleute analysieren die militärische Situation vor Ort und schauen, wie es nun weitergehen kann.

Ralph Thiele ist Oberst a.D. der Bundeswehr und hatte Schlüsselpositionen beim Nato-Oberbefehlshaber und im deutschen Verteidigungsministerium inne, bevor er Präsident von EuroDefense Deutschland und Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft zu Berlin wurde – er gibt einen Überblick über die militärische Lage in der Ukraine und darüber, was vom weiteren Kriegsverlauf zu erwarten ist.

Auch August Hanning hat einen klaren Blick auf die weitere Entwicklung des Krieges; er war von 1998 bis 2005 Präsident des Bundesnachrichtendienstes und anschließend Staatssekretär im Bundesinnenministerium.

Aus Budapest zugeschaltet ist Boris Kálnoky, er ist Leiter der Media School des Mathias Corvinus Collegium, davor war er lange Jahre als Korrespondent für verschiedene deutsche Medien tätig, zuletzt für Die Welt – bei Tichys Ausblick erklärt er die osteuropäische Perspektive auf den Konflikt und die viel diskutierte Haltung Ungarns.

Einigkeit besteht in der Runde zunächst über den gegenwärtigen Verlauf des Krieges. August Hanning analysiert, dass Putins Ursprungsplan nicht realisiert werden konnte. Ralph Thiele meint, Putin habe erwartet, „mit Blumensträußen“ empfangen zu werden. Auch die Wirtschaftssanktionen aus dem Westen habe Putin so nicht erwartet, meint Hanning.

Dennoch ist er nicht optimistisch: Hanning erwartet, dass Putin seinen Plan mit aller erforderlichen Gewalt durchsetzen wird. Zu vermuten sei, dass die Innenstädte mit Artillerie beschossen werden und sich dann ein brutaler Häuserkampf anbahne. „Die russische Kriegsführung nimmt vermutlich wenig Rücksicht auf die Belange der Zivilbevölkerung“, so Hanning. Der Widerstand der Zivilbevölkerung mit Molotowcocktails könne zum Vorwand für Putin werden, den Häuserkampf mit schweren Waffen und ohne Rücksicht auf die Bevölkerung zu führen.

Ralph Thiele zeigt, dass die Zunahme von zivilen Toten auch durch militärtechnische Begebenheiten bedingt wird – Russland gehen die Präzisionswaffen aus. Jetzt komme eine Form der konventionellen Kriegsführung mit massiven zivilen Schäden.

Moderator Roland Tichy fragt, ob der Krieg eigentlich nur zwei Ergebnisse haben könne: totale Zerstörung oder totale Unterwerfung. Thiele glaubt, dass Putin das Land zwar zunächst mit der nötigen Entschlossenheit erobern werde, der Kampf dann aber weitergehe. Ähnlich wie in Afghanistan könnte die entschlossene ukrainische Bevölkerung zu einem Guerillakrieg übergehen. Auch Hanning hält einen solchen Ausgang für realistisch. Hanning erinnert an den ukrainischen Partisanenkampf gegen die Sowjetunion bis in die 1950er Jahre hinein – es gebe hier eine gewisse „Tradition der Partisanenkriege“.

Trotz dieser Lage verweigert Ungarn aktuell europäische Waffenlieferungen an die Ukraine. Boris Kálnoky führt die zurückhaltende Rolle Ungarns auf eine andere Perspektive auf die Situation zurück – einer „realistischeren Sichtweise auf die Ereignisse“. Kálnoky sagt: „Eingangs wurde erwähnt, dass die westliche Gesellschaft es gar nicht mehr für möglich hielt, dass es Krieg überhaupt noch geben könne. Das ist in Ungarn nicht so.“ Der Jugoslawienkrieg sei noch im Gedächtnis, genauso wie das Wissen, dass man russische Panzer sehr ernst nehmen müsste. Und vom Westen werde man im Ernstfall ohnehin im Stich gelassen – das habe sich 1956 beim ungarischen Volksaufstand erwiesen. So seien die „nüchternen, vorsichtigen Reaktionen Viktor Orbáns“ zu verstehen.

Die Diskussion schaut zunächst nach vorne und dann noch einmal zurück. Hanning sieht eine „Neuauflage des kalten Krieges“. Thiele rät dazu, den Fokus darauf zu legen, eine weitere Eskalation zu verhindern. Auch in Zukunft werde man mit Russland auskommen müssen, dafür müsse man mindestens im Gespräch bleiben. Auch die Fehler des Westens bleiben nicht unausgesprochen – Hanning analysiert, Deutschland habe sich „fahrlässig auf eine Abhängigkeit von Russland eingelassen“, aus dieser Situation müsse man sich befreien.

Bei aller Analyse der geostrategischen Begebenheiten darf aber eines nicht zu kurz kommen: Gekämpft, zerstört, getötet wird in der Ukraine. Hanning erinnert daran, dass Russland nicht zum ersten Mal unerträgliches Leid über das Land bringt und spricht über den Holodomor, Stalins genozidal angelegte und gezielt erzeugte Hungersnot in der Ukraine. Putins Lüge von der „Faschistenclique“ in Kiew widerlegt er schon mit der Tatsache, dass die Ukraine von einem jüdischen Staatschef regiert wird.

Es sind düstere Aussichten, die sich abzeichnen. Moderator Roland Tichy fasst die Lage mit diesem Bild zusammen: „Wir sitzen auf den Rängen einer römischen Arena und können nur zuschauen, wie Russland ein unvorstellbares Blutbad in der Ukraine anrichtet.“

Es bringt nichts, die Realität schönzureden. Tichys Ausblick bringt sie heute Abend auf den neuesten Stand.


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Kommentare ( 33 )

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Till Eulenspiegel
2 Jahre her

Ein neuer kalter Krieg bahnt sich an??? Der kalte Krieg hat nie aufgehört!!! Es wurden nur neue Etiketten verwendet.

Peter Zinga
2 Jahre her

Dass Oligarchen im Westen ein Teil ihrer Luxusvermőgen eingefroren oder gar konfisziert wurde, lősste bei vielen „normalen“ Russen bestimmte schadensfreude.

Mausi
2 Jahre her

Herr Tichy, natürlich ist es ein verführerischer Gedanke zu hoffen, dass Unterdrückung wie „1956“ nicht mehr funktioniert.

Mausi
2 Jahre her

Immer diese Einleitungen: Die Einen, die „dem Krieg Einhalt gebieten wollen“ gegen die Anderen, die Putinisten. Dieses Aufbauen von Gut und Böse ist einfach nicht der Punkt. Sie können ja gerne „Putinisten“ Propaganda nachweisen oder ad absurdum führen. Aber die Emotionen zu bespielen ist wenig hilfreich. Glücklicherweise sehen die Gesprächspartner zu, ihre Einschätzungen nüchtern zu halten. Im Grunde ist es nicht mehr hilfreich, über die verschüttete Milch zu reden. Putin ist wie er ist. Politik muss Wege finden, mit solchen Machthabern umzugehen. Frieden zu sichern, ist gescheitert. Anscheinend haben die westlichen Staaten auch keine Pläne in der Schublade, um diesem… Mehr

Last edited 2 Jahre her by Mausi
Lara Berger
2 Jahre her

Das war eine wirklich sehr spannende und für mich hilfreiche Runde, die dort diskutierte. Vielen Dank dafür und bitte, bitte mehr davon! Ich habe mir die Sendung mittlerweile dreimal angeschaut. Sie hat mich sehr nachdenklich gemacht. Ich frage mich, ob es nicht an der Zeit wäre, mit dem alten Blockdenken zu brechen und neue Wege zu versuchen, die in die Zukunft weisen, statt immer nur böse, alte, dunkle und völlig ausgelatschte Pfade zu beschreiten, die uns immer in Abhängigkeit des einen oder anderen Blockes halten. Es sitzen drei Parteien am Tisch: Europa, Russland und die USA. Aber es wird ständig… Mehr

Mausi
2 Jahre her
Antworten an  Lara Berger

Unendlich grauenvoll für die Bevölkerung, wenn es der eigenen Regierung nicht gelingt, Krieg zu verhindern. Oder zu verhindern, dass das eigene Land zum Spielball wird.

Hieronymus Bosch
2 Jahre her

In der Ukraine werden Tausende totgeschossen; in Berlin rennen Tausende in die wiedereröffneten Bars und Clubs, um sich zu amüsieren! Welche Logik steckt dahinter? Ein bisschen Spaß fehlt wohl nie, wenn woanders der Krieg tobt!

Endlich Frei
2 Jahre her

Der Krieg in der Ukraine ist sinnlos. Am Ende werden die Russen siegen. Es ist falsch, Durchalteparolen über ukrainische (und deutsche) Sender und Zeitungen zu verbreiten. Es ist falsch durch Waffenlieferung den Krieg zu verlängern, einen Atomkrieg zu provozieren, sinnlos Menschenleben in der Ukraine zu opfern, die ukrainischen Städte in Schutt und Asche zu verwandeln und wohlmöglich 10 Millionen oder mehr Menschen in die Flucht zu treiben. Es ist auch falsch, weil das Gro der Flüchtlinge – samt vieler Trittbrettfahrer – nach Deuschland flüchten wird und der Bundesrepublik die ihm mittlerweile fest zugedachte Aufgabe des Wiederaufbaus der Ukraine zukommen wird.… Mehr

Nigella
2 Jahre her
Antworten an  Endlich Frei

Was wäre, wenn die Ukraine sofort aufgegeben hätte? Es hätte keine Toten und keine Zerstörung gegeben und Putin wird dieses Jahr 70 und wird nicht ewig an der Macht bleiben. Mit guter wirtschaftlicher Zusammenarbeit, sowohl mit der Ukraine als auch mit Russland, wäre der Lebensstandard überall gestiegen. Und eine freiheitliche Gesinnung der Bevölkerungen hätte auch wenigstens kleine, aber wachsende Freiheiten zustande gebracht.

Juergen Waldmann
2 Jahre her

Was heute schon fast vergessen ist , gegen Stalin führte die Ukraine ab Kriegsende 1945 schon einen Partisanen Krieg . Beendet wurde er mit Stalins Tod und Chruschtschow , der selber aus der Ukraine stammte und die Grenzen des Landes nach Osten erweiterte . Auch die Krim kam erst da zur Ukraine !

Christian E.
2 Jahre her

Ganz tolle und sehr informative Diskussion. Vielen Dank !!!!!

bkkopp
2 Jahre her

Danke für das interessante Gespräch. Trotz allem möchte ich die Hoffnung aufrechterhalten, dass Putin in 3-6 Monaten gestürzt wird. Ein Großteil der Russen, und der Elite ganz besonders (zurück bis Gorbatschow und Solschenizyn) die immer gedacht haben, dass die Ukraine eine durch ein Unglück der post-sowjetischen Geschichte abtrünnig wurde, wissen bereits, dass die Ukraine durch Putin’s Krieg noch viel mehr verloren ist als je zuvor. Wer auch immer geträumt haben mag, dass man die Ukraine “ heim ins Reich“ holen könnte, sieht seinen Traum zerplatzt, zerschossen und im Blut und Leid von Millionen Ukrainern ertränkt. Das wäre die vaterländische Ebene,… Mehr