Vom Verlust des Verlustes

Am Sonntag, den 12. Januar, ist der britische Philosoph Roger Scruton gestorben. Sein Tod hat den Westen ärmer gemacht.

Andy Hall/Getty Images

Die Zahl zeitgenössischer Intellektueller, die sich als konservative Denker verstehen und die im christlich abendländischen Wertekosmos verwurzelt sind, ist überschaubar. Jetzt ist deren Zahl noch kleiner geworden. Am 12. Januar 2020 verstarb nach einem sechs Monate währenden Kampf gegen eine Krebserkrankung Roger Scruton. Ein großer Verlust. Sein Tod hat den Westen ärmer gemacht.

Roger Scruton (geboren am 27. Februar 1944 im mittelenglischen Lincolnshire) wird gemeinhin als „Schriftsteller und Philosoph“ bezeichnet. So beschreibt er sich auf seiner Website selbst: als „Writer & Philosopher“. Aber Scruton ist natürlich eine andere Hausnummer als die vielen, die sich auch so benennen oder von der Mainstreampresse so betitelt werden.

Die Studentenproteste der 68er stießen ihn ab

Scruton, Spross einer „linken“ Lehrerfamilie, hatte Philosophie am Jesus College der Universität Cambridge studiert und dort 1967 mit einem „MA“ abgeschlossen. Prägend waren für Scruton später seine Erfahrungen mit den Studentenprotesten von 1968 in Paris. Damals schon wurde er zum Konservativen. Die protestierenden „widerspenstigen Hooligans der Mittelklasse“ mit ihrem „lächerlichen marxistischen Gobbledegooks“ (Kauderwelsch) stießen ihn ab.

Nachruf von Douglas Murray
Roger Scruton: Ein Mann größer als seine Zeit
Von 1971 bis 1992 lehrte Scruton am Birkbeck College der Universität London, von 1992 bis 1995 war er Professor an der renommierten, privaten Boston University, von 2005 bis 2009 am Institute for the Psychological Sciences im texanischen Arlington. Allein diese Lehrtätigkeiten machten ihn noch nicht berühmt, sondern es waren seine mehr als 30 Bücher, mit denen er so unterschiedliche Bereiche erkundete wie die Ästhetik, die Architektur, die Musik, das Jagdwesen, den Weinbau und so weiter.

Seine Bücher tragen Titel wie „The Aesthetics of Architecture“ (1979), „The Meaning of Conservatism“ (erstmals 1980), „Kant“ (1982), „Thinkers of the New Left“ (1986), „The Aesthetics of Music“ (1997), „On Hunting“ (1998), „An Intelligent Person’s Guide to Modern Culture“ (1998), „The West and the Rest“ (2002), „How to Be a Conservative“ (2014) und „Confessions of a Heretic“ (2016). Einige der Bücher sind ins Deutsche übersetzt; bekannt wurden vor allem die deutschen Übersetzungen der letzten beiden: „Von der Idee, konservativ zu sein“ (deutsch 2019) und „Bekenntnisse eines Häretikers“ (deutsch 2019).

Mit seinen Büchern begründete Roger Scruton seinen Ruf als einflussreicher konservativer Intellektueller. Seinen Anhängern galt der anglikanische Christ als „einer der größten Konservativen unserer Zeit“. Für seine Gegner war er ein „Paläokonservativer“. Scruton mischte sich auch politisch ein. 1974 wurde er Gründungsmitglied der „Conservative Philosophy Group“, die die Tories zurück an die Regierungsverantwortung bringen sollten. Auch darüber hinaus beriet er die Tories.

Scruton war auch das Objekt unfairer Attacken

Neuestes Opfer des modernen Empörungsmobs
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Im November 2018 übernahm Scruton im Auftrag des Ministers für Bauwesen, James Brokenshire, den Vorsitz der Kommission „Building Better – Building Beautiful“. Damit begann eines der schwärzesten Kapitel der Attacken gegen Scruton. Scruton hatte in einem Interview mit dem linksliberalen „New Statesman“ etwas dezent Kritisches über China, über Muslime und über den Multi-Milliardär George Soros gesagt. Vom Magazin waren diese Aussagen äußerst vergröbert wiedergegeben worden, so dass am Ende Scrutons angeblicher Antisemitismus gegen den Juden Soros übrigblieb. Der Bauminister enthob Scruton deshalb mit sofortiger Wirkung seines Amtes. Einige Zeit später entschuldigte sich das Magazin dafür, dass Scrutons Aussagen verzerrt wiedergegeben und falsch dargestellt worden waren. Scruton kehrte in die Kommission zurück. (Am Rande: Scruton war über Jahre hinweg Weinkolumnist des Magazins.)

Scruton hat hinreichend Erfahrung mit totalitären Systemen. Bereits zu Zeiten der Charta 77 besuchte er Dissidenten in der Tschechoslowakei, er schmuggelte Bücher dorthin und unterstützte verbotene Künstler. 1985 wurde er in Brünn inhaftiert und des Landes verwiesen. Für seinen Einsatz zur Überwindung des Kommunismus verlieh Präsident Vaclav Havel 1998 Scruton die tschechische Verdienstmedaille, 2019 erhielt er aus der Hand von Viktor Orban den Ungarischen Verdienstorden und ebenfalls 2019 den Verdienstorden der Republik Polen. 2016 war er von Königin Elisabeth II. für „Dienste an Philosophie, Lehre und Bildung“ zum Ritter (Knight Bachelor) geschlagen worden.

„Wir studieren die Vergangenheit nicht einfach, wir erben sie.
Und eine Erbschaft bringt nicht nur Eigentumsrecht
mit sich, sondern auch Pflichten der Treuhänderschaft …
als Eigentum jener, die noch nicht geboren sind“
Roger Scruton

Dass ein Kopf wie Scruton Gesinnungsblockwarte auf den Plan rief, versteht sich von selbst. Vor allem weil Scruton den Sozialismus und seine „intellektuellen“ Anhänger schon lange vor dem Fall des Eisernen Vorhangs attackiert hatte: „Ich sah nun in der Realität die Fiktionen, die in den Hirnen meiner marxistischen Kollegen herumschwammen.“ Im Oktober 2017 unterzeichnete er die „Pariser Erklärung“ „A Europe We Can Believe in“ – ein Manifest mit 36 Punkten. Darin wenden sich die Unterzeichner, darunter Robert Spaemann, gegen die dekonstruktivistische Ersatzreligion eines geschichtsvergessenen und fortschrittsbesessenen Universalismus. Sie schreiben dort auch: „Immigration ohne Assimilation ist Kolonisation und muss abgelehnt werden.“

Die zentrale Sorge Scrutons aber war, dass man im Westen „den Verlust des Verlustes“ nicht mehr spürt. „Verlust des Verlustes“ – ein widersprüchliches Wort. Man kann es Scrutons Buch „Von der Idee, konservativ zu sein“ entnehmen. Darin schreibt Scruton: Wer den christlichen Glauben verliere, der verliere die primäre Erfahrung von Heimat und die europäische Zivilisation, die zwei Jahrtausende geprägt habe. Ja, mehr noch: Wer keinen Verlust mehr erfahren und empfinden könne, der sei auch unfähig zu trauern. Zugleich fragt Roger Scruton mit Blick auf die Institution Kirche: „Wie können wir spirituellen Trost von einer Institution empfangen, die so sehr von dieser Welt ist?“ Und noch ein Satz von Scruton: „Wir studieren die Vergangenheit nicht einfach, wir erben sie. Und eine Erbschaft bringt nicht nur Eigentumsrecht mit sich, sondern auch Pflichten der Treuhänderschaft … als Eigentum jener, die noch nicht geboren sind.“

Tiefe Gedanken zu Ewigkeit und Vergänglichkeit

Roger Scrutons letztes Lebensjahr
"Indem man dem Tod nahe kommt, beginnt man zu wissen, was das Leben bedeutet"
Scruton sagt damit etwas, was der große, 1997 verstorbene christliche Anthropologe Josef Pieper einmal so ausdrückte: „Dem Menschen ist es mehr vonnöten, erinnert als belehrt zu werden. Er kommt nicht allein dadurch zu Schaden, dass er das Hinzu-Lernen versäumt, sondern auch dadurch, dass er etwas Unentbehrliches vergisst und verliert.“ Übrigens geißelte den dahinterstehenden typisch westlichen Relativismus kein Geringerer als der Noch-Kardinal Joseph Ratzinger anlässlich der Predigt, die er am 18. April 2005 beim Eröffnungsgottesdienst zum Konklave hielt. Er sprach von einer „Diktatur des Relativismus“.

Wir wissen nicht, in welcher geistigen Verfassung Roger Scruton am Sonntag, dem 12. Januar 2020, im Beisein seiner Frau, seines Sohnes und seiner Tochter verstorben ist. Hier hat Neugier nichts zu suchen, denn der Tod ist das Intimste des Menschseins. Wir können aber erahnen, dass der Christ Scruton mit sich im Reinen das Weltliche verlassen hat. In seinem jüngsten Buch „Bekenntnisse eines Häretikers“ (2015, deutsch 2019) finden wir dazu einen Hinweis im Essay „Rechtzeitig sterben“: „Wäre es möglich, unser Leben mit Hilfe eines Unsterblichkeits-Elixiers bis in alle Ewigkeit fortzusetzen, würde all das, was für uns einen Wert hat – Liebe, Abenteuer, der Reiz des Unbekannten, Mut, Güte und Mitgefühl – unweigerlich daraus verschwinden.“

Dieser Nachruf von Josef Kraus erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur.  Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.


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Kommentare ( 3 )

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4 Jahre her

Von all den Hiobsbotschaften, mit denen 2020 begann, ist die Nachricht vom Verlust dieses Kopfes für mich wohl die härteste. Ist es nicht auch bezeichnend, dass er in den letzten Jahren in Deutschland nach meiner Kenntnis nie aufgetreten ist? Nach dem Lesen vieler seiner Bücher, wäre ich wohl immer dabeigewesen. Aber was will auch eine wunderbare Blume von Wissen und Inspiration in einer geistig versifften Wüste?

Unterfranken-Pommer aus Bayern
4 Jahre her
Antworten an  [email protected]

„Aber was will auch eine wunderbare Blume von Wissen und Inspiration in einer geistig versifften Wüste?“ Ich höre Sie! Gestatten Sie mir dennoch einen anderen Gedanken zur Auswahl: auch in einer Wüste können Blumen sein. Wenngleich nur als Same, der jahrelang auf den notwendigen Regenguß wartet. Kommt dieser, entfaltet sich eine unvergleichliche Pracht. Ich möchte gerne sagen, daß Roger Scruton ein solcher Same war und selber weitere gesät hat. Und nun warten diese, warten wir, auf den nächsten Regen. (Und ja, des Hinkens dieses Vergleichs bzgl. der Kürze der Blütenpracht bin ich mir bewußt. Dennoch…) Einen schönen Sonntagabend der ganzen… Mehr

Bozo-Zoo
4 Jahre her

Sehr schön und hoffnungsvoll auch der Hinweis des verstorbenen Limburger Bischofs Franz Kamphaus: „Das Samenkorn reift auch im Winter.“