Die Gangs von Berlin – der beste Schutzwall gegen Rechts?

Im Film „Die Kings von Kreuzberg" geht es um Kreuzberger Verhältnisse, heute und vor 40 Jahren. Migrationshintergrund und Bildungsferne. Gewalt und Vorurteile. Dass so eine Sendung die Gemüter der politischen Lager nur noch aufheizt – sei’s drum.

Screenprint: RBB / Die Kings von Kreuzberg

In dem dokumentarisch angelegten Film von Carmen Gräf und Susanne Heim über „Berlins berüchtigste Gang“ lassen die Filmemacherinnen unter dem unausgesprochenen Motto „Vereint gegen Rechts“ wieder einmal eine kritische Masse an Themen, die der Konservative mit gerümpfter Nase betrachtet und der Links-Alternative Grüne offenbar für den Himmel auf Erden hält, lustvoll aufeinanderprallen: Kreuzberger Verhältnisse, heute und vor 40 Jahren. Migrationshintergrund und Bildungsferne. Gewalt und Vorurteile.

Aus der Reihe „Unser Leben“ – die „Kings von Kreuzberg“

Dass so eine Sendung die Gemüter der politischen Lager nur noch aufheizt – sei’s drum: Hier geht es mittlerweile offenbar darum, so lange das immer gleiche Salz in die Wunde zu streuen, bis jeder verdächtige Zuschauer ein vermeintlich in ihm grassierendes Fieber der Intoleranz ein für alle Mal ausgeschwitzt hat.

Aus der Beschreibung beim RRB: „Im Kreuzberg der 90er Jahre dominierte eine Jugendgang die Straßen: ‚36 Boys‘ hieß sie und machte die Gegend sicher und unsicher zugleich. Sicher, wenn sie sich gegen die lokalen Neonazis stellten, unsicher, wenn sie Sprühdosen bei Karstadt mitgehen ließen oder Passanten beklauten.“ Die ARD dazu: „Der Film erzählt ein Stück Berliner Stadtgeschichte, das kaum bekannt ist und das Mut macht, auch mit schlechten Karten gut zu spielen – und manchmal sogar zu gewinnen.“

Sollte das nicht eher heißen: mit gezinkten Karten?

Mit derselben Chuzpe könnten wohl die Oberhäupter der dreizehn in Berlin ansässigen arabischen und kurdischen Großfamilien (zum Beispiel Remmo, Abou-Chaker, Miri und Al-Zein) in ein paar Jahren mit graumelierten Schläfen und sonorer Stimme von den Bildschirmen herab beschreiben, wie sie Berlin früher „sicherer“ gemacht haben.

Gräf und Heim haben sich mit vier der ehemaligen Gang-Mitglieder in Kreuzberg getroffen und sie, kurz unterbrochen von Rap-Gesängen und Kameraausflügen in die bunt besprayten Straßen des Bezirks, von ihrer großen Zeit berichten lassen. Muzaffar „Muci“ Tosun, Jahrgang 1975, Kickbox-Weltmeister und heute, wie er sagt, in der Sicherheitsbranche tätig: „Wir waren stark und glaubten etwas bewegen zu können. Viele trauten sich nicht nach Kreuzberg – Oh, 36 boys, die sind gefährlich!“ 1980, da fing alles an mit den 36 Boys. „Gang heißt ja nicht brutal oder so. Der Zusammenhalt war für uns wichtig, das war immer da – wir waren wie eine Familie, deshalb wollten viele zu uns gehören, die guckten: Die halten zusammen, die sind richtig cool – da hast Du wahre Freunde, wirklich!“

Sternekoch: „Unser Land war viel zu bescheuert, um sie zu integrieren“

Er ist das Ass im Ärmel der „36boys“ und auch der beiden Filmemacherinnen: Tim Raue, 49 Jahre alt, Starkoch und erfolgreicher Berliner Gastronom. Raue über sich: „Ich würde nicht sagen, dass ich Deutscher bin, sondern Berliner, und das muss ich noch spezifizieren: Kreuzberger – ich wurde hier groß. Und da kommen wir jetzt dazu, wie sich die Wege von mir und den 36boys trafen. Ich hatte einen Vater, der mich zwischen 9 und 13 miserabelst verprügelte, für nichts, nur aus Frust, ich habe nichts Böses gemacht, ich war ein lieber, wohlerzogener Junge, der gern in die Schule ging, der fleißig war, gute Noten hatte, Einsen und Zweien. Und diese Demütigung, die ich durch meinen Vater erlebte, die schürte eine Aggression in mir. Die hat ein schwarzes Kernkraftwerk des Hasses tief in mir ausgelöst, wo ich nach dem Hin und Her mit 14 keinesfalls ein Opfer sein wollte, auf gar keinen Fall.“

Was Raue von den Problemen mit seiner Mutter und ihrer Armut und seinem dauernden Hunger erzählt, gibt Einblick in seine Gefühlswelt, und warum er die Wärme der türkischen Großfamilien so schätzen lernte: „… es gab wenig zu essen, sie konnte nicht kochen …“ Was ihn am meisten geprägt hat, sei gewesen, dass die türkischen Eltern seiner Freunde ihn, „obwohl sie wenig gehabt hätten, immer zum Essen eingeladen hätten, obwohl sie 5, 6, 7 Kinder gehabt hätten: Breiteten die Arme aus, ließen mich an ihrem Tisch sitzen, öffneten die Türen für mich.“

Opfer oder doch lieber Täter?

Raue weiter: „Und auf der Straße traf ich meine späteren Freunde, Jugendliche, die auch gedemütigt wurden, eben von diesem Staat, die nicht akzeptiert, nicht integriert wurden, denen nicht zugehört wurde. Und dann fing ich an, am ‚Kotti‘ abzuhängen mit denen. Um aber Teil des Ganzen zu werden, musste man ein Aufnahmeritual absolvieren – das ich bis heute unter dem Auge trage (deutet auf eine alte Narbe, Anm.) –, gegen zwei Andere antreten und drei Minuten gegen die bestehen.“

Gangsterabenteuer zwischen abgewohnten Gründerzeithäusern

Raue über seine „Aufnahmeprüfung“, härter als beim berüchtigten Gebirgsjägerbataillon 233 (Ekel-Ritual-Skandal 2010): „Das kann man sich nicht vorstellen, wenn man sich selber nie prügelte. Da fährt die Zeit runter Richtung Zeitlupe, das Adrenalin schießt in den Körper und der Fluchtreflex sagt dir eigentlich: renn! Aber du darfst nicht rennen, sonst lässt du ja die anderen im Stich.“

Ex-Boxer und Ex-Anführer der 36boys, Muci Tosun, lobt Tim: „Hier vorne auf diesem Rasen hat sich Tim bewiesen, dass er zu 36boys gehört. Er hat sich tapfer geschlagen, sage ich mal. Tim hat es geschafft, er gehört zur Familie.“ Raue: „Die Straße ist rauh, aber herzlich und kann auch ein Zuhause sein! Wir waren Helden im Viertel, aber woanders nicht willkommen.“

Nachdenkliches trägt Neco Celic, 51 Jahre, einer der Gründer der 36boys, heute Theater und Filmemacher, bei: „Es war eine bedrückende Zeit, es war sehr dunkel, wenn man so zurückschaut. Wir lebten in einem Viertel, wo sozusagen Endstation war.“ Heute, so Celic weiter, könne man in der Muskauer Straße, wo sie damals gewohnt hätten, kaum Wohnungen bekommen oder bezahlen, so unglaublich teuer seien die. Seine Eltern hatten zwar den Plan gehabt, wieder zurückzufahren wie alle Gastarbeiter, aber daraus sei nichts geworden, weil die Eltern diese Pläne ohne sie gemacht hätten, die Kinder – sie seien älter geworden und hätten andere Pläne gehabt, seien ja in einer anderen Gesellschaft aufgewachsen (meint wohl die bundesdeutsche, Anm.) und „haben dann gesagt: wir machen andere Dinge“. Die Kunst, sagt er, „war für mich die Rettung“. ARD: „Er engagiert sich in der Arbeit mit Jugendlichen und reflektiert seine Erfahrungen heute in Theaterstücken und Filmen.“

Senol Kayaci (48) aus Kreuzberg ist Graffiti-Sprüher und betreut nebenher Jugendliche (wird vor den besprühten Fassaden gefilmt, Anm.): „Bis zu dem Zeitpunkt hat man keine Notiz von uns genommen … wir waren Kreuzberger Kinder, Kinder von Gastarbeitern … es war auch nicht geplant, dass wir in der Gesellschaft auftauchen und uns bemerkbar machen. Das war die erste Generation von Migranten, die sagte: Leute, wir sind auch noch da, wir bleiben vermutlich auch hier, am besten ihr freundet euch damit an.“

Die ARD über ihn: „Fünf Geschwister, eine heruntergekommene Wohnung ohne Bad, dafür mit Außenklo und Ofenheizung. So ähnlich wie Senol Kayaci wuchsen die meisten Mitglieder der 36th Boys in Kreuzberg in den 1980ern auf. Viele hatten Gewalterfahrungen in der Kindheit, manche gerieten auf die schiefe Bahn. Senol Kayaci saß im Gefängnis wegen schwerer Körperverletzung und räuberischer Erpressung. Inzwischen besprüht er Wände nur noch, wenn er dafür einen Auftrag hat.“

Auch Senol schwärmt von den 36boys: „Du warst Teil einer Familie, einer Gemeinschaft, die wirklich in jeder Lebenslage für Dich da ist. Selbst in extremsten Situationen, wir waren füreinander da, wenn es Dir an Geld fehlte oder du auf dich allen gestellt warst und das ging einigen Freunden so – dann sind wir losgezogen, haben Geld besorgt, dir den Kühlschrank vollgemacht. Geklaut und getan haben wir alle, wir hatten Bedürfnisse … wir besorgten uns unsere Sachen, auch Sprühdosen zum Beispiel. Aber was komplett verboten war, was ein No-go war: zum Beispiel ältere Menschen zu überfallen, oder von älteren Damen oder Herren die Handtaschen zu stehlen, also Ältere zu bestehlen war verboten.“

Zum Schluss der Doku darf Kayaci erzählen, wie ihm sein Glaube, der ihm sehr viel bedeute, geholfen hat: „Die Gebote des Korans halten, immer ansprechbar sein, ein guter Mensch sein.“ „Hier“, sagt er und zeigt auf eine Kneipe, „haben wir uns immer mit der Antifa getroffen … wegen der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit, den Skinheads und den Nazis … dem Widerstand.“

Auch Muci Tosun stimmt zu, da sei so ein „Bauchgefühl gewesen, nicht gewollt zu sein … diese Jungs haben die Antwort gemacht … und wenn ihre Eltern herablassend behandelt worden sind, dann haben die die Leute auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Ich hab‘ mich gerne geprügelt, ich bin ein intensiver Mensch, ich berühre immer gerne alles.“ Für die Skinheads sei es eine Mutprobe gewesen, mit der U-8 bis zum Kottbusser Tor zu fahren, dort schnell einmal aus – und gleich wieder einzusteigen; manchmal habe man „die aber auch erwischt“.

Umrahmt wird die Doku mit Bildern vom „Kotti“ (U-Bahnhof Kottbusser Tor), um den herum Obdachlose sitzen und deren Wäsche zum Trocknen über Geländern hängt. Einsatzfahrzeuge rollen vorbei, geschäftiges Treiben, das Leben pulsiert.

Tim Raue hat, wie er sagt, in seiner Zeit bei den 36boys auch etwas für die Durchsetzung im harten Gastgewerbe gelernt, was gegen brüllende Küchenchefs hilft: „Du siehst ihn an, du siehst, dass er schwach ist, dass Du ihn umhauen kannst.“ Sicher nichts aus dem Ausbildungsleitfaden für Jungköche.

Hätte der Film von Carmen Gräf und Susanne Heim sich um die Geschichte einer Gruppe Brandenburger Skinheads im Teenageralter gedreht, wäre vieles sicher in einem anderen Licht dargestellt worden. Noch krasser wird die seltsam zahnlose Einseitigkeit der Dokumentation, wenn man sie zum Beispiel mit denen des ZDF über die beiden rivalisierenden Jugendbanden „MS-13“ und „Barrio 18“ in San Salvador, welche einen Teil der Hauptstadt San Salvador und deren Einwohner kontrollieren, oder die Straßengangs von Paris – „Jung, arm, brutal“ vergleicht. Auch diese jungen Männer haben alle mal klein angefangen, haben vielleicht ähnliche Geschichten zu erzählen wie die 4 Kreuzberger Jungs.

Gemeinsam ist allen die angebliche Bemühung um mehr „Anerkennung“, „gesellschaftliche Teilhabe“, ihre Suche nach Geborgenheit in einer Art Ersatz-Familie, dem ständigen Kampf gegen Benachteiligung und den Klagen über die von Geburt an schlechten Umstände. Aber auch: Sie setzen Gewalt und kriminelle Methoden ein, um zu bekommen, was sie wollen. Muci Tosun: „Wir wurden als kriminell und gewalttätig wahrgenommen … Reaktion: Furcht, und daraus dann Respekt.“

Der Film weckt auch Zweifel daran, ob die bis heute gepflegte Erziehungsmethode, sowieso vorhandene Vorlieben für Gangster-RAP, Breakdance, Kampfsport und illegale Graffitis zu Tugenden zu erklären und intensiv zu fördern, der Weg zu einer besseren und tatsächlichen gesellschaftlichen Integration ist. Er wäre zum Beispiel die Gelegenheit für Starkoch Tim Raue gewesen, demnächst Kochkurse an Brennpunktschulen anzubieten.

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Kommentare ( 7 )

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Ralf Poehling
10 Monate her

Die Gangs von Berlin sind eine der Hauptursachen für das Erstarken von Rechts. Nicht andersherum. Wer sich nicht anpasst und sich andauernd daneben benimmt, der bekommt Widerstand. Und ab einem gewissen Punkt organisiert sich der Widerstand politisch. Und das eben auf der rechten Seite.

BK
10 Monate her

Das Problem mit den Gastarbeitern hatte man im Osten besser im Griff. Ein- und Ausreise waren feststehende Termine, was für beide Seiten von Vorteil war.

Rene Meyer
10 Monate her

Dazu passt in gewissem Sinne die Sendung „7 Tage … in der Hochhaussiedlung“ vom Hessischen Rundfunk vom 2. Februar 2023, zu finden in der ARD-Mediathek. Natürlich ist die Darstellung „ein wenig“ aufgehübscht. Immerhin geht es um die aktuelle Situation in einem Stadtteil einer südhessischen Großstadt, in dem der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund seit Ende der 1960 Jahre von Jahr zu Jahr zugenommen hat. Was man hier erfährt, in diesem Stadtteil, nicht in der Sendung, ist, dass sich Menschen mit Migrationshintergrund, die schon seit Jahrzehnten in Deutschland leben, hier nicht mehr wohlfühlen, die Politik nicht verstehen und zu einem überproportional… Mehr

cernunnos
10 Monate her

„Fünf Geschwister, eine heruntergekommene Wohnung ohne Bad, dafür mit Außenklo und Ofenheizung. So ähnlich wie Senol Kayaci wuchsen die meisten Mitglieder der 36th Boys in Kreuzberg in den 1980ern auf. Viele hatten Gewalterfahrungen in der Kindheit, manche gerieten auf die schiefe Bahn“ Mir kommen die Tränen. Als wäre das hier anders gewesen. Gebadet wurde noch im selben Wasser nacheinander. Das Nebenhaus wurde evakuiert, weil das Treppenhaus eingestürzt war. Ein Kumpel der schräg gegenüber wohnte hatte als einziges Möbelstück ein Bett, die Mutter war so arm, dass wenn da jemand etwas Privatsphäre wollte ein Bettlaken in den Raum gehängt wurde. Draußen… Mehr

Alrik
10 Monate her

Wenn die AfD einmal die Landesregierung in Brandenburg stellt, könnte sie dann die Mauer wieder aufbauen um dieses Klientel am Verlassen von Berlin zu hindern?

verblichene Rose
10 Monate her

“…bis jeder verdächtige Zuschauer ein vermeintlich in ihm grassierendes Fieber der Intoleranz ein für alle Mal ausgeschwitzt hat…”! Der war gut, denn nicht die “Sauna”, in der ich mich gerade befinde ist das Problem, sondern die von aussen hinzugefügte Hitze. Ich betrete übrigens keine Sauna, denn sie ist mir zu martialisch, ja zu stringent, was mein Gesundheitsgefühl betrifft. Die Lebenserwartung der “Erfinder” der Sauna liegt übrigens lediglich zwei Jahre über meinem. Aber natürlich geht es nicht um Saunas, oder dem erhitzten Kopf, sondern darum, glühende Kohlen vom Feuer zu entfernen, wenn dieses Feuer eine  Feuersbrunst bedeutet. “heute und vor 40… Mehr

Guenther Adens
10 Monate her

Zitat
„Aber was komplett verboten war, was ein No-go war: zum Beispiel ältere Menschen zu überfallen, oder von älteren Damen oder Herren die Handtaschen zu stehlen, also Ältere zu bestehlen war verboten.“
Als ich das gelesen habe, habe ich über dieses gute ehrenhafte, ja anrührende Verhalten laut und hemmungslos vor Rührung geweint.
Es ist wohl in den Augen des zwangsfinanzierten RBB ein ehrenhaftes Anliegen, nur Jugendliche, Heranwachsende und mittelalte Personen zu überfallen (evtl. Zusammenschlagen) und zu bestehlen, es sei denn, sie sind „Mitarbeitende“ beim RBB.