Journalisten: Alarmismus ist der Normalfall

Der Skandal um „Spiegel“-Märchenonkel Claas Relotius erschüttert das gesamte Gewerbe. Autor Laszlo Trankovits – mehr als 37 Jahre Korrespondent und Büroleiter der Deutschen Presse-Agentur (dpa) – schildert, wie Haltung an die Stelle handwerklicher Standards getreten ist.

imago/ZUMA Press

Der Skandal um den „Spiegel“-Reporter Claas Relotius hat erfreulicherweise eine längst überfällige, sachliche Diskussion über die aktuelle Qualität des deutschen Journalismus angestoßen.

War es bislang relativ einfach, sich gegen maßlose Anwürfe wie „Lügenpresse“ oder „Mainstream-Medien“ zu wehren, erweist sich der Fall inzwischen als die Spitze des Eisbergs Medienkrise. Wobei es hier nicht um die (weltweite) strukturelle Krise der Branche geht, sondern um gravierende professionelle und inhaltliche Probleme.

Zwar ist eine „Beißhemmung der deutschen Medien“ (Mathias Döpfner) gegen das Hamburger Leitmedium trotz des ungeheuren Skandals erkennbar. Viel mehr als die Pflichtberichterstattung gibt es nicht. Dennoch wird in mehreren nüchternen Beiträgen zu Recht maßgeblich das redaktionelle Umfeld für das ungehemmte Wirken des Scharlatans mitverantwortlich gemacht. Es geht eben nicht nur um einen dramatischen Einzelfall.

Was für das selbst ernannte „Sturmgeschütz der Demokratie“ gilt, ist leider auch für die meisten anderen Medien in Deutschland von höchster Relevanz. Das mag auch ein Grund dafür sein, warum der Skandal eher ein Randthema ist. Denn von der Krankheit eines neuen Gesinnungsjournalismus ist fast die ganze Branche befallen – mit nachhaltigen Gefahren für Demokratie und Gesellschaft.

Dabei machen manche Journalisten gar keinen Hehl aus ihrer bewussten Ablehnung journalistischer Standards und ihres Plädoyers für einen „werte-orientierten“ Journalismus. Der Chef der WDR-Sendung „Monitor“, Georg Restle, sprach von „Neutralitätswahn“ und forderte, endlich damit aufzuhören, „nur abbilden zu wollen … was ist“.

Sehr populär in manchen Redaktionen sind Experimente mit dem (aus Dänemark stammenden) „konstruktiven Journalismus“, der sich gegen einen „übertriebenen Negativismus“ im Journalismus wendet und mehr „positive Berichte“ und „Lösungsansätze“ für die Probleme in der Welt propagiert.

Agenturen tragen zur Misere bei

Der Virus der Moralisierung hat selbst die Basis jeder journalistischen Arbeit infiziert: Auch die nachrichtliche Berichterstattung leidet unter den neuen, unausgesprochenen Geboten des Haltungsjournalismus. Sogar das Rückgrat der deutschen Medien bei der nachrichtlichen Berichterstattung aus aller Welt, die Nachrichtenagenturen, tragen mit der ständigen Verletzung traditioneller journalistischer Standards zur allgemeinen Misere bei.

Was die Öffentlichkeit kaum wahrnimmt, ist der traditionell enorme Einfluss der Nachrichtenagenturen auf die Berichterstattung in Zeitungen, Radio und Fernsehen. Auch die Agenturen müssen sich heute den Vorwurf gefallen lassen, immer wieder tendenziös zu berichten. Auf Feldern wie der Klimadebatte und anderen grünen Themen, bei der USA-, EU- und Israel-Berichterstattung sowie der Migrations-/Flüchtlingsfrage ist es besonders augenfällig.

Das zu schreiben fällt einem Journalisten wie mir, der fast 38 Jahre als Korrespondent und Büroleiter für die Deutsche Presse-Agentur (dpa) im In- und Ausland gearbeitet und noch immer eine hohe Meinung über das professionelle Niveau bei dpa, AP oder Reuters hat, ganz besonders schwer. Es ist für mich persönlich nur ein schwacher Trost, dass viele Nachrichten- und Politikredaktionen, insbesondere der öffentlich-rechtlichen Anstalten, die Verletzung journalistischer Standards längst schon auf die Spitze treiben.

Relotius hat Fakten und Geschichten frei erfunden. Das ist sicher völlig untypisch für den Arbeitsethos deutscher Journalisten. Viele von ihnen müssen sich dennoch den Vorwurf gefallen lassen, die wirklichen Ideale journalistischer Arbeit ständig zu verletzen. Weil sie beispielsweise systematisch Fakten und Aspekte, die ihnen nicht genehm sind, ignorieren. Das hat dann mit sauberem Journalismus nicht viel zu tun.
Die traditionellen Standards des Nachrichtenhandwerks sind gegenüber den neuen, mehr oder minder ausgesprochenen Regeln in den Hintergrund getreten, die überkommenen Vorgaben für eine saubere Berichterstattung werden meist nur formal eingehalten, nicht mehr in der Substanz. Stattdessen dominieren neue Regeln und Prioritäten, die, obwohl höchst fragwürdig, meistens nicht einmal verborgen werden.

Ereignisse und Konflikte in einer globalisierten, zunehmend komplexen und beschleunigten Welt verständlich zu machen ist seit den 90er-Jahren immer wichtiger geworden. Allerdings ging mit dem redaktionell eingeforderten „Einordnen“ und „Gewichten“ die schleichende Auflösung des Ideals der Trennung von Nachricht und Kommentar einher.

Als wäre das schon nicht gefährlich genug, trägt die Realität in den deutschen Redaktionen zu einer weiteren Verschärfung bei. Bei der thematisch und inhaltlich eingeforderten „Gewichtung“ spiegeln sich die bekannten politischen Präferenzen der Mehrheit der deutschen Redakteure wieder. Kaum jemand wird am Ergebnis einschlägiger Untersuchungen zweifeln, denen zufolge die meisten Journalisten in Deutschland – sehr generalisierend formuliert – eine klar grün-linke Präferenz haben.

Unter dem Deckmantel von „Einordnen“ und „Gewichten“ werden Nachrichten tendenziös und gegenüber den Protagonisten parteiisch und unfair. Beispiele gibt es unzählige: Migrationspakt, Klimadebatte, Migrations-/Asylpolitik, Israel, Trump, um nur einige zu erwähnen.

Nach links wird gern auch einmal verharmlost („Aktivisten“ statt „Linksradikale“). Antidemokratische oder antisemitische Parolen bei linken Demonstrationen finden kaum Erwähnung. Geht es um „Rechte“, werden dagegen gezielt angreifbare Parolen zitiert. Ohnehin scheint schon die Zuschreibung „rechts“ einen erkennbar diskreditierenden Unterton zu haben und signalisiert undemokratische, inakzeptable Positionen.

Es gibt zwar viele Parteien, Politiker und Regierungen, die in den Nachrichten – sicher meist berechtigt – den Stempel rechtsradikal oder rechtspopulistisch aufgedrückt bekommen. Allerdings wird der Begriff linksradikal oder linkspopulistisch nur sehr selten angewandt. Meldungen über den brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro enthalten meist die Kennzeichnung „rechtsradikal“, bei den Regierungen und Politikern Kubas oder Venezuelas gibt es fast nie einen Verweis auf ihre linke Radikalität.

Begriffe wie „umstritten“ oder „populistisch“ werden überwiegend im Zusammenhang mit konservativen und rechten Politikern oder Positionen verwendet – als ob linke oder grüne Positionen nicht umstritten oder zuweilen populistisch wären. Schon das Wort „umstritten“ ist in der Regel eine Verletzung des journalistischen Standards, der vorschreibt, höchstmögliche Objektivität anzustreben.

Haltung demonstrieren

Würden sich Nachrichtenredakteure bei der Arbeit strengen Standards unterordnen, wäre die Dominanz linker und grüner Sympathien in den deutschen Redaktionen zumindest ausreichend eingehegt. Leider entspricht das nicht den Erfahrungen, die ich und viele meiner Kollegen seit vielen Jahren machen. Sowohl der Nachrichtenausstoß der Nachrichtenagenturen als auch die Nachrichtensendungen von ARD und ZDF sind in mehrfacher Hinsicht parteiisch geprägt, deutlich getragen von dem Wunsch, Haltung zu demonstrieren.

Die Parteilichkeit spiegelt sich in der Themenauswahl, den Quellen, den zitierten Personen und den erläuterten Positionen. Es gibt eigentlich überall, grob verallgemeinernd gesagt, ein deutliches Ungleichgewicht zwischen der Zahl der Nachrichten mit einer links/ grünen Tendenz gegenüber Meldungen, die eher neutral oder konservativ/rechts sind. Bei den aktuell strittigen Topthemen dominieren EU-freundliche, Trump-feindliche, Israel-kritische, Grünen-freundliche oder oft unter- schwellig antikapitalistische und pro-sozialdemokratische Positionen gegenüber neutralen oder konservativen.

Auch die Parteilichkeit bekommt eine zusätzliche Verschärfung durch mehr oder minder offene Unfairness. Der journalistische Grundsatz, beide Seiten zu Wort kommen zu lassen, wird zuweilen ganz ignoriert. Noch viel häufiger aber präsentiert die Redaktion die ihr sympathische Position mit den besten Argumenten, die Gegenseite kommt mit unsachlichen, emotionalen oder skandalisierungsfähigen Aspekten zu Wort.

Ein besonders krasser Fall war die Debatte um den Migrationspakt, bei der in deutschen Medien suggeriert wurde, dass ihn quasi nur Rechte und Rechtsradikale ablehnten. Dass ausgerechnet Einwanderungsländer wie die USA, Australien und Israel neben einer Reihe anderer Staaten den Pakt ablehnten und – wie Österreich – sehr sachlich die Gründe erläuterten, wurde so gut wie ausgeblendet. Auch Reden der AfD im Bundestag (die zuweilen erstaunlich sachlich sind) finden vor allem mit zugespitzten, emotionalen und polemischen Zitaten Eingang in die Berichterstattung.

Auslandsberichte mit Berliner Brille

Die richtige Einsicht, dass die Berichterstattung aus dem Ausland gezielt Themen aufgreift, die auch für Deutschland interessant oder wichtig sind, ist längst zu einer Berichterstattung mit klar nationaler Brille entgleist – wobei national hier die Sichtweise des offiziellen Berlin meint.

Mit größter Intensität und klarer Positionierung werden innenpolitische Konflikte in Washington oder den Visegrád-Staaten aufgegriffen. Dagegen gibt es wenig Aufmerksamkeit für Entwicklungen in den skandinavischen Staaten und den Niederlanden, aber auch in Frankreich und Italien – insbesondere was die Flüchtlings-/Migrationsfrage und die Klimapolitik angeht.

Sonst würde zum Beispiel deutlich, dass Deutschland in Europa politisch in den obigen Fragen recht allein dasteht. Über Staaten wie Polen oder Ungarn wird vor allem berichtet, wenn es um autoritäre Entwicklungen dort geht – was zwar korrekt ist, aber dennoch einseitig und tendenziös wird, wenn andere Themen wie Erfolge in der Wirtschaft oder der wachsende Rückhalt der jeweiligen Regierungen bei der Bevölkerung (vor allem in der Migrations-/Flüchtlingsfrage) weitgehend ausgeblendet werden.

Der Aufbau einer Nachricht ist seit Menschengedenken klar: Abgesehen von den sechs „W“ (wer, was, wo, wann, wie, warum) sowie dem eher neuen „Woher“ (Quelle) gilt, dass Überschrift und erster Satz in der Meldung die wichtigste(n) Information(en) transportieren sollen. Seit der Digitalisierung wurde dieses Prinzip klammheimlich verwässert beziehungsweise abgeschafft.

Um vor allem im Internet den User zum Anklicken eines Links zu bewegen („clickbait“), werden in Überschriften und vor allem in den modernen „Teasern“ (Vorschaltsätze zwischen Überschrift und Meldung) Fragen gestellt oder es wird unklar formuliert: „Aber was will die Partei wirklich?“ oder „Alle sind überrascht, wer der Täter wirklich ist“ oder „Niemand hätte mit diesem Ausgang gerechnet“ oder „Daraus ergibt sich eine unerwartete Rangfolge“. Nachrichten im Netz – durchaus aber auch in den Print-Fassungen – sollen nicht mehr wie früher informieren, son- dern vor allem zum Weiterlesen verführen. Cliffhanger statt Information.

Entscheidend bei der Nachrichtenauswahl sind gemäß journalistischem Handwerk die Aspekte Relevanz und öffentliches Interesse – daraus ergibt sich der Nachrichtenwert. In der redaktionellen Praxis mischten sich dabei schon immer objektive und subjektive Faktoren. Die Nachrichtenauswahl spiegelt gesellschaftliche und politische Prioritäten, verlegerische und redaktionelle Sichtweisen wider.

Neu aber ist eine wachsende Zahl von allgemein verbindlichen und strengen Regelungen, über was wie berichtet wird. Verallgemeinernd kann man sagen, dass politische Erwägungen inzwischen eine enorme Rolle spielen – bis hin zur Sprachregelung („political correctness“).

Strenge Vorgaben des Pressekodex, erstellt vom Presserat, einem Selbstkontrollorgan der deutschen Verlage zur Wahrung ethischer Standards in den Medien, haben zur fatalen Situation geführt, dass die Bürger in Deutschland heute, wie in undemokratischen und totalitären Systemen üblich, zwischen den Zeilen zu lesen gelernt haben.

Vor allem das Ausblenden der Nationalität von Verdächtigen oder Tätern, wenn es angeblich keinen „begründbaren Sachbezug“ zum beschriebenen Vorgang hat, empört viele Bürger. Geht es um Clan-Auseinandersetzungen, Gruppenvergewaltigungen oder Familiendramen, fehlt oft der Verweis auf die Herkunft. Wenn dann von „Jugendlicher“, „Mann“ oder „Familie“ die Rede ist, handelt es sich meistens um Personen mit Migrationshintergrund – denn bei Deutschen heben viele Redaktionen das gezielt heraus.

Hintergrund dieser Selbstzensur ist die toxische Fragestellung: „Wem nützt das?“, respektive „Welche Vorurteile könnten hier bestätigt, welche Emotionen angeheizt werden?“ Diese Frage hat bei den Entscheidungen, worüber, in welcher Ausführlichkeit und mit welchen Aspekten berichtet werden soll, eine immer größere Bedeutung gewonnen. Der Ansatz mag gut gemeint sein, er ist aber für die Glaubwürdigkeit der Medien sehr gefährlich.

Medienkrise auch inhaltlich

Hier bedarf es eines kleinen Exkurses in die jüngste Mediengeschichte: Vor der kulturellen Rebellion von 1968 wurde – in den damals oft sehr konservativen, wenn nicht sogar reaktionären Redaktionen – meist alles abgelehnt, was keine offizielle oder „seriöse“ Quelle hatte. Es gab in den Medien überwiegend gemäßigt-konservative, aber auch linke, rechte oder liberale Positionierungen. Doch früher waren Medien ein „closed shop“, die Redakteure waren privilegierte Gatekeeper des Zugangs zur Öffentlichkeit.

Damit waren viele sogenannte Nichtregierungsorganisationen, die NGOs, neue soziale Bewegungen und politische Randgruppen so gut wie ausgeschlossen. Ab den 1970er-Jahren eroberten zunehmend sendungsbewusste Journalisten die Redaktionen, die „aufklären“ und „entlarven“ wollten – durchaus oft mit großem Erfolg, zum Beispiel als Unterstützung der Gesellschaftsreformen in der Brandt-Ära oder der Aufdeckung von Skandalen.

Es gab mindestens bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts Medien verschiedener politischer Couleur mit teilweise gravierend unterschiedlichen Sichtweisen. Dann aber veränderten Digitalisierung, Globalisierung, Vernetzung und Beschleunigung sowie der damit einhergehende Strukturwandel die traditionellen Medien und damit auch die Situation in den Redaktionen.

Enormer Konkurrenz- und Innovationsdruck führte zu einer deutlichen Intensivierung von Boulevardisierung, Personalisierung, Visualisierung, Emotionalisierung und Skandalisierung. Die Berichterstattung über die Ereignisse lokal und in der Welt orientieren sich immer stärker an Auflage, Clicks und Quote.

Das hatte viele Konsequenzen, die oben genannten Trends entwickelten eine enorme Wucht, die auch in der nachrichtlichen Berichterstattung vor allem wegführten von den hohen Werten der Nüchternheit, Distanz, Fairness, Augenmaß, Differenziertheit und Ausgewogenheit.

Besonders fatal wirkte sich in dem immer schärfer werdenden Kampf um Aufmerksamkeit der Wunsch nach Aufsehen erregenden Berichten aus. Skandalisierung und Alarmismus wurden zum Normalfall. Dabei haben an der häufigen Hysterie alle Akteure eine Mitschuld.

Politiker, Wissenschaftler und Interessenvertreter suchen mit möglichst spektakulären Äußerungen nach Beachtung. Redaktionen blicken gebannt auf die messbare Resonanz ihrer Arbeit. Die Bürger wiederum goutieren das Spannende, Spektakuläre oder Skandalöse, das leicht und unterhaltsam zu Konsumierende. Vor allem aber scheint es auch den starken Wunsch zu geben, Gut und Böse gleich zu erkennen, zur moralisch einwandfreien Parteilichkeit eingeladen zu werden.

Die Folgen dieser Praxis in den Nachrichtenredaktionen sind gravierend. Nicht nur widmen sich Nachrichtenredaktionen immer stärker Boulevardthemen um Sex, Tiere, Kinder, Kriminalität und Showbusiness. Geraten Politiker oder andere Prominente in die Schlagzeilen, gelten immer weniger Augenmaß, Unschuldsvermutung und Respekt, sondern vielmehr die Sucht nach Schlagzeilen, Emotionen und schmutziger Wäsche.

Kaum noch eine Redaktion verweigert sich den Themen und den Skandalisierungen, für die früher nur die angeblichen Schmuddelblätter wie die „Bild“-Zeitung heftig kritisiert wurden. Heute unterscheiden sich bei Themenauswahl und Darstellung sogenannte seriöse Zeitungen nur noch unwesentlich von Boulevardblättern, öffentlich-rechtliche Sender kaum noch von den geschmähten Privatstationen.

Alarmismus und Vorverurteilung

Hier kann nur auf einige Aspekte dieser gefährlichen Entwicklung verwiesen werden. So dominieren mittlerweile in der Wissenschaftsberichterstattung alarmistische, industriefeindliche Meldungen. Die Auswahl der Themen und der Quellen produziert fast auf allen Gebieten – wie Klima, Luft, Ernährung oder Medizin – eine höchst einseitige Sicht. Inzwischen geht das so weit, dass Journalisten mehr oder minder offen auch als Aktivisten von ökologischen oder grünen Bewegungen auftreten. Es ist unbegreiflich, dass se­riöse Medienhäuser solche Mitarbeiter akzeptieren.

Ein anderes Beispiel: Die Unschulds­vermutung wird nur selektiv ange­wandt. Bei Migranten oder islamischen Gewalttätern wird oft mit größter Zu­rückhaltung berichtet. Das führt sogar so weit, dass in Frankreich landesweit mit Steckbrief gesuchte Terroristen in deutschen Medien anonymisiert ge­nannt werden.

Völlig anders ist es bei der Bericht­erstattung im Zusammenhang mit an­geblichen sexuellen Übergriffen und der Bewegung #Metoo: Ob Rainer Brü­derle oder Dieter Wedel, es genügen an­onyme, nicht belegte Anschuldigungen für eine ausufernde, den Ruf zerstören­de Berichterstattung. Das gilt auch für Missbrauchsvorwürfe gegen die katho­lische Kirche. Gerade weil es da eine schreckliche Tradition des Missbrauchs gibt, hätte der einzelne Beschuldigte das Grundrecht der vorläufigen Un­schuldsvermutung, das aber in den Me­dien oft völlig ignoriert wird. Gar nicht zu sprechen von den unsäglichen, por­nografischen Geschichten über Donald Trump, die völlig unbewiesen sind, es aber dennoch bis in alle Ausführlich­keit in seriöse deutsche Medien schaff­ten – wie in den USA natürlich auch.

Die Skandalisierung von Belanglosigkeiten wurde besonders krass am Fall des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff deutlich. Sein privates Geschäftsgebaren mag zuweilen be­fremdlich gewesen sein, aber keine sei­ner Handlungen war unmoralisch oder ungesetzlich. Ob der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans­Georg Maaßen sich tatsächlich skandalös verhalten hat, könnte man, distanziert betrachtet, ebenfalls bestreiten. Sicher aber ist, dass seine Sicht und seine Begründung für sein Verhalten nur mar­ginal in die deutsche Berichterstattung einflossen.

Die Skandalisierung des Alltags schreitet voran. „In Zukunft werden vor allem Missstände skandalisiert werden, die im Widerspruch zu nichtmateriel­len Werten stehen“, meint der emeri­tierte Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger. Also kämpft man im Interesse hehrer Ideale gegen neue Bahnhöfe, Flughäfen, Trassen oder Straßen ebenso wie gegen die mo­derne Landwirtschaft oder „ungesun­de“ Lebensmittel und für „Diversity“, für Windräder und Eisbären.

Kritikern der Marktwirtschaft und des Kapitalismus wird breiter Raum eingeräumt, in Meldungen und Berich­ten wird fast durchweg anklagend über Marktmechanismen, Gewinnstreben oder Profitsucht, Arbeitsplatzvernich­tung berichtet. Das wäre nicht zu be­mängeln, würden gleichzeitig Gegen­argumente nicht nur erwähnt, sondern auch erläutert. Das Grundrauschen in den meisten deutschen Medien ist zu­ tiefst antikapitalistisch.

Verantwortung der Ausbilder

Wir sollten Relotius dankbar sein. Eine Debatte über die Standards des Journa­lismus in Deutschland war längst über­fällig. Sie hat nun einen spektakulären Aufhänger. Inzwischen verbreitet sich die Einsicht, dass die Medien nicht nur ökonomisch, sondern auch journalis­tisch tief in einer Krise stecken.

Selbst wenn Medien versuchen, mehr Vielfalt in der Berichterstattung an­zustreben, begeben sie sich auf einen absurden Holzweg. Verstärkt werden beispielsweise Journalisten mit Migra­tionshintergrund gesucht (zu denen ich übrigens ja auch gehöre!). Die Ideo­logie des „Bunten“, „Vielfältigen“ und „Weltoffenen“ soll mit der Einstellung von Redakteuren ohne deutsche Wur­zeln vorangetrieben werden. Das Quo­tendenken hat ohnehin schon dazu geführt, dass in vielen Redaktionen nicht nach Leistung, sondern nach Ge­schlecht eingestellt und befördert wird.

Nun wird der Quoten­ und Emanzi­pationsgedanke weitergetrieben. Wann kommt die Frage, ob es auch bezüglich Religion, regionaler Herkunft oder se­xuellen Neigungen ausreichend Reprä­sentanten in den Redaktionen gibt? Das wäre nur konsequent, bemüht man sich doch gar nicht mehr, jedem Jour­nalisten das journalistische Ideal von Unabhängigkeit und Objektivität ein­zuimpfen, sondern geht einfach davon aus, dass die Fixiertheit auf Identität irgendwie eine Meinungs­- und Sicht­vielfalt herstellt.

Auch der Gedanke, dass es in einer gut funktionierenden, lebendigen Re­daktion mit hohem Anspruch nicht eine überwältigende Mehrheit für ir­gendeine politische Richtung geben sollte, scheint in den Chefetagen der Medien unbekannt zu sein.

Erhebliche Verantwortung für die­se Entwicklung in den deutschen Re­daktionen tragen auch Journalisten­schulen und Publizistikfakultäten der Universitäten. Als ich 2016 auch an der Mainzer Universität einen Vortrag über modernen Nachrichtenjournalismus halten durfte, brach eine Studentin bei der Schilderung ihrer journalistischen Arbeit über Flüchtlinge in Tränen aus. Naiverweise hatte ich die Verwandt­schaft von Wissenschaft und Journalis­mus betont, für die es immer in erster Linie um Daten und Fakten, um küh­le Distanz und akribische Arbeit, um höchstmögliche Objektivität und das Streben nach Wahrheit und Wahrhafti­gem geht.

Damit aber hatte ich sichtlich die Stu­denten irritiert und die anwesenden Professoren offenbar tief erschreckt. Sie griffen ein und betonten, wie wichtig erkennbare „Haltung“ bei der journa­listischen Arbeit sei. Einer der Wissen­schaftler schrieb mir später, sie würden nun Wochen brauchen, um die von mei­nem Vortrag ausgelösten Verunsiche­rungen bei den Journalismustudenten zu beseitigen.


Der Autor: Laszlo Trankovits ist Journalist, bis 2016 dpa­-Büroleiter in Tel Aviv, Rom, Frankfurt, Washing­ton, Kapstadt. Autor von Büchern wie „Die Obama­ Methode“, „Weniger Demokratie wagen“ und „Die Nachrichtenprofis“. Lehraufträge an Universi­täten und Akademien.


Dieser Beitrag ist in Ausgabe 04-2019 von Tichys Einblick erschienen >>>

Unterstützung
oder

Kommentare ( 50 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

50 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
Wolfgang Baumann
4 Jahre her

Es wäre wünschenswert, wenn die von Herrn Trankovits wunderbar treffend beschriebene Medienmisere wirklich zu einer professionellen und sachlichen Diskussion über oft zitierten „Qualitätsjournalismus“ führen würde. Ich habe da leider meine Zweifel. Der, wie der Autor es zutreffend formuliert, Virus des moralisierenden Haltungsjournalismus mit der Verletzung traditioneller Qualitätsstandards steht einer wirklich sachlichen und selbstkritischen Diskussion immer im Wege. Die gravierenden inhaltlichen Mängel des heutigen Journalismus wird es deshalb weiterhin geben: keine saubere Trennung von Meldung und Meinung, keine sorgfältige Auswahl der Recherchequellen mit erforderlicher Gegenrecherche bei zweifelhaften Informationen, keine Überparteilichkeit. Daraus folgt die einseitig gestrickte journalistische Bearbeitung der von ihm genannten… Mehr

brennnessel
4 Jahre her

Die Bildzeitung hat gewonnen. Bildzeitung sind jetzt alle. So genügt es letztlich die numerischen Ergebnisse der Auflagen aller meinungsbildend eingefärbten Pressehäuser zusammenzufassen um diesen großen Sieg zu kapieren. Für die Bildzeitung letztlich ein Pyrrhussieg aus wirtschaftlicher Sicht, denn heute genügt es eine einzige Zeitung zu kaufen, nachdem doch in allen die gleiche Meinung steht. Also kaufe man sich sein Lieblingsdruckwerk, in dem Meinung so dargeboten wird, wie es vom Leser geschätzt wird: Belehrend für Lehrer, Weisend für Weise, Anregend für Erregte, Charakterisierend für Unbeirrbare, Entwerfend für Ingenieure, illustrierend für Blender, manifestierend für Richter ………. Für jeden etwas, nur zu unterscheiden… Mehr

Hegauhenne
4 Jahre her

Ich glaube, Sie haben da was falsch verstanden, Herr Vogel.
Nicht nur die Mäuschen aus dem grün-linken Schreib-Kindergarten tanzen auf dem Tisch, die Chefredakteure und Herausgeber, die Fernsehräte, die Kontrollorgane, alle tanzen die Polonaise links rum. Sonst ginge das ja nicht.

Chloepfts
4 Jahre her

Haltungzeigen ist ein Anspruch, der sich ins Unbewußte eingeschlichen hat. Verschwörungstheoretiker vermuten dahinter noch den Einfluß unserer Befreier, die sich noch für 70 Jahre die Aufsicht über die Medien (u.a.) gesichert haben sollen, damals, 89/90, als sie auch dafür gesorgt hatten, daß der Geltungsbereich des Grundgesetzes aus dem Grundgesetz (nicht Verfassung) entfernt wurde. Jedenfalls ist das, was dem Unbewußten überantwortet wurde, erst einmal frei von Selbstkritik zu ertragen und somit ist Haltung oder auch der demokratische Reflex überwiegend als Reaktion zu verstehen. Bei einem relevanten Reiz wirkt das ins Unbewußte verschobene und bricht sich unhinterfragt Bahn. Wie das Sabbern beim… Mehr

Klaus Kabel
4 Jahre her

Ein bemerkenswerter Artikel. Höre ich mich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis um, kann ich identische Meinungen hören, immer begleitet mit der Frage „Aber wen soll ich wählen?“ Allein diese Fragestellung zeigt, dass die Gehirnwäsche trotz der differenten Einstellung zu den Medien greift. Konsequenz ist, dass viele meiner Bekannten nicht mehr zur Wahl geht. Das ist aber auch nicht die Lösung des Problems.

Cluny
4 Jahre her

Fantastisch!

Lotus
4 Jahre her

Ich weiß nicht, ob TE Anfang 2016 über die „Causa Claudia Zimmermann“ berichtete, aber die Story passt doch sehr gut zum Inhalt des Artikels von Laszlo Trankovits, deshalb hier ein Link: https://meedia.de/2016/01/22/wdr-journalistin-zimmermann-ich-habe-doch-nur-ausgedrueckt-was-alle-wussten/ Und auch dieses Video aus der 3sat-Kulturzeit von Anfang Januar 2016 spricht Bände: https://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=56423 Das Schlimmste ist, dass sich seither NICHTS geändert hat. Im Gegenteil, die „freiwillige Selbstkontrolle [der Medien] zum Schutz von Minderheiten“ wird knallhart als Vorwand für das Verschweigen von Wahrheiten genutzt. Dabei müsste eigentlich immer öfter die Mehrheit im Land vor diesen Minderheiten geschützt werden, denn die Zahl der „Einzelfälle“ steigt von Tag zu Tag.… Mehr

StefanB
4 Jahre her

„Journalisten: Alarmismus ist der Normalfall“

Es sind keine Journalisten, sondern – linksgrüne – Propagandisten. Es ist wichtig, diese Begriffe klar auseinanderzuhalten und eindeutig zu verwenden. Solange die Mainstreamschmierfinken noch als Journalisten bezeichnet werden, erschwert man es den Medienkonsumenten, die das System noch nicht durchschauen, der Wahrheit auf die Spur zu kommen.

Pete M.
4 Jahre her

Definition:
Ar·beits·ethos
/Árbeitsethos/
Substantiv, Neutrum [das]

Soviel zum hohen Niveau….

Cojo Tee
4 Jahre her

Wenn Journalisten der Wirklichkeit nicht stand halten können, dann sollten sie es mit Max Weber halten und in den Schoss der Kirche zurückkehren. Und sei es heutzutage nur die Klimakirche.