Von der Diktatur des Postfaktischen

Mit dem Denken ist das so eine Sache. Da gibt es die Denkfetischisten, die Denkfaulen und die Denkverweigerer. Denken und Logik könnten eine segensreiche Verbindung eingehen, wären da nicht die Geister, deren Ideen und Ideologien im Irrgarten der Realitätsverleugnung aufblühen

Es ist stets das alte Lied: „Denn so ist der Mensch! Ein Glaubenssatz könnte ihm tausendfach widerlegt sein – gesetzt, er hätte ihn nötig, so würde er ihn immer wieder für wahr halten“ (Nietzsche). Und: „Was dem Herzen widerstrebt, lässt der Kopf nicht ein. Manche Irrtümer halten wir unser Leben hindurch fest, und hüten uns, jemals ihren Grund zu prüfen, bloß aus einer uns selber unbewussten Furcht, die Entdeckung machen zu können, dass wir so lange und so oft das Falsche geglaubt und behauptet haben“ (Schopenhauer).

Nietzsche und Schopenhauer werden erneut Recht behalten, und das gerade auch in einer angeblich ach so modernen, „woken“ Wissensgesellschaft. Aber wurde „Wissensgesellschaft“ nicht zu einem Euphemismus, der verschleiert (verschleiern soll), dass wir auf dem Weg in eine voraufklärerische Zeit sind?

Bemühen wir eine entscheidende Passage aus Immanuel Kants Essay „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ von 1784: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.“

Anleitung zum Selberdenken
(K)ein Volk von Untertanen, Flüsterern und Denunzianten
Kant kannte den Begriff und das Prinzip „postfaktisch“ noch nicht. Aber „postfaktisch“ könnte von ihm stammen. Denn große Teile der real existierenden öffentlichen, ja leider auch „wissenschaftlichen“ Debatte drehen sich nicht um Fakten und um Rationalität, sondern um das, was als „gut“ angesagt ist. Es geht kaum noch um „wahr“ versus „falsch“, sondern um „gut“ versus „nicht gut“.

Wahrscheinlich hätte Kant anstelle von „postfaktisch“ sogar die Begriffe „präfaktisch“ oder „parafaktisch“ geprägt. Denn vieles von dem, was heute politisch und medial „in“ ist, folgt nicht (post) auf die Fakten, sondern geht den Fakten (prä) voraus, um sie von Haus aus ignorieren zu können, um gegen sie immunisiert zu sein. Oder aber das, was angesagt ist, liegt weit neben (para) den Fakten. Paranoid eben, neben die Fakten gerückt; „verrückt“ sagt der Volksmund in seiner unbestechlichen diagnostischen Schärfe.

Der Mensch will es eben auch heute intellektuell einfach haben. Er will Simplifizierungen; Ideologien und Ideologen bieten sie ihm. Der Mensch ist auch kein rationales Wesen, sondern ein rationalisierendes (Leon Festinger). Weil er sich ungern im Zustand kognitiver Dissonanz befindet, ummantelt er sein Bauchgefühl, seine Emotionalität, sein Pathos gerne pseudo-rational (rationalisierend), quasilogisch, also ideologisierend.

Dabei gilt: „Von allen politischen Ideen ist der Wunsch, die Menschen vollkommen und glücklich zu machen, vielleicht am gefährlichsten. Der Versuch, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, produzierte stets die Hölle“, so Karl Popper. In seinem großen Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ beklagt er im 14. Kapitel einen „moralischen Futurismus“, einen „orakelnden Irrationalismus“, mit dem Gefühle und Leidenschaften über Denken und Erfahrung dominierten.

Zu diesem Buch: Die selbsternannten, „woken“ Intellektuellen sind auf das Gute geeicht, anderen, denen das (Nach-)Denken nicht abhandengekommen ist, geht es um Tatsachen. Heinrich Zettler ist so einer. Er schaut sich aus einer reichen Erfahrungsvita als Familienoberhaupt, als Unternehmer, als Naturwissenschaftler sowie als vielseitig gebildeter, polyglotter, historisch und philosophisch belesener Mann die Realitäten an, nicht als Kulturpessimist.

Geleitwort aus: Heinrich Zettler, Denkverbote. Die Diktatur des Postfaktischen. GHV, Hardcover, 492 Seiten, 24,90 €.


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Kommentare ( 18 )

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18 Comments
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Harry Charles
1 Jahr her

MAN MUSS 68 SEZIEREND ANALYSIEREN, denn hier liegt der Schlüssel zu unseren zeitgenössischen Problemen, die ja nun auch schon einige Jahre alt sind. Das scheint einerseits komplex, ist aber andererseits so mystisch nun auch nicht. 68 bestand vor allem in Deutschland aus ein paar linken Leithirschen (die allein noch nicht unbedingt hätten viel Schaden anrichten können), und – nachfolgend – aus einer Heerschar kleinbürgerlicher Spießer die vor allem durch eines motiviert waren: Eine in nicht wenigen Familien vorhandene braune Historie war zum Karrierehindernis aufgebaut worden. Die Linke (die ihrerseits kaum als menschenfreundlich angesehen werden konnte, denn der Kommunismus hat weltweit… Mehr

LadyGrilka55
1 Jahr her

>>Aber wurde „Wissensgesellschaft“ nicht zu einem Euphemismus, der verschleiert (verschleiern soll), dass wir auf dem Weg in eine voraufklärerische Zeit sind?<< Sind wir denn nicht schon längst mitten drin in einer voraufklärerischen Zeit? Wohin man schaut, nur noch Pseudoreligionen: die Zeugen Coronas und der „Impfung“ die Jünger der Klimakatastrophe, die in die Jahrzehnte entfernte Zukunft sehen können, aber nicht in der Lage sind, das Wetter für die nächste Woche zuverlässig vorherzusagen die Willkommensbesoffenen der Migration-ist-Bereicherung-Religion, die sich wundern, dass Deutschland noch immer nicht genügend Facharbeiter hat, und deshalb nach mehr Einwanderung rufen die Apostel des Bolschewokismus, die die Biologie abgeschafft… Mehr

Last edited 1 Jahr her by LadyGrilka55
bkkopp
1 Jahr her

Im Herkunftsland des „Wokeismus“ gibt es auch einen sehr lebendigen Gegenpol dazu. Dieser arbeitet nicht weniger mit alternativen Fakten, und “ was dem Herzen widerstrebt, das läßt der Kopf nicht rein “ als die “ woke crazies“. Auch der faschistoide Rechtspopulismus lebt von Emotionalisierungen. Die libertären und konservativen bis rechtspopulistischen Ideologen, und Wahlkämpfer mit entsprechenden Plakaten, arbeiten nicht weniger mit Mythen von “ God, Family and Country“. Die heutige Form von Kulturkampf hat, mehr oder weniger deutlich, ganz entschieden zwei Seiten mit Irrationalitäten dass einem die Haare zu Berge stehen. In Deutschland sind wir nur zu sehr links-progressiv (woke) dominiert,… Mehr

LadyGrilka55
1 Jahr her
Antworten an  bkkopp

„God“ mag ein Mythos ein.

„Family and Country“ sind es nicht.

Die Familie und das eigene Land sind Grundfesten der menschlichen Existenz und nicht „Irrationalitäten“. Und für Viele gehört auch Gott dazu.

Das hat nichts zu tun mit „faschistoidem Rechtspopulismus“.

Es ist im Gegenteil faschistoider Linkspopulismus, der durch seinen Dekonstruktivismus den Menschen die Einbindung in die Familie und ihr Volk zu nehmen versucht, um sie zu vereinzeln und damit zu schwächen und leichter regierbar und manipulierbar zu machen.

Last edited 1 Jahr her by LadyGrilka55
Albert Pflueger
1 Jahr her
Antworten an  bkkopp

Das Problem der Vernunftbegabten, der Rationalisten, ist es, daß in einer Demokratie die Zahl derer, die auf anstrengendes Selbstdenken gern verzichten, sehr groß ist. Sie sehen keinen persönlichen Anlaß, sich um die Richtung zu kümmern, die die Herde nimmt, sondern laufen einfach mit, im Vertrauen darauf, daß die Anderen sich ja wohl nicht alle irren können. Erfolg und Mißerfolg messen sie ausschließlich an ihrer relativen Stellung im eigenen Umfeld. Will man sie erreichen, um den Kurs zu ändern, muß man sie auf emotionaler Ebene ansprechen. So können sich die Selbstdenker entweder nicht durchsetzen, oder sie müssen die Methoden adaptieren, die… Mehr

LadyGrilka55
1 Jahr her
Antworten an  Albert Pflueger

„… sie [die Selberdenker] müssen die Methoden adaptieren, die ihnen eigentlich zuwider sind, sie müssen die Massen manipulieren und ihnen vernünftige Ideen emotionalisiert verkaufen.“ Leider steht zu befürchten, dass Sie damit Recht haben. Goethe schrieb einst: „Nichts ist widerwärtiger als die Majorität; denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen, die sich akkommodieren, aus Schwachen, die sich assimilieren, und der Masse, die nachtrollt, ohne nur im mindesten zu wissen, was sie will.“ Goethe lebte nicht in einer Demokratie, doch sah er dasselbe Problem, das wir heute beobachten. Es hat wohl eher etwas mit der menschlichen Natur als mit der… Mehr

Last edited 1 Jahr her by LadyGrilka55
luxlimbus
1 Jahr her
Antworten an  LadyGrilka55

Gute Worte! Ergänzend: der (neuerliche) Kulturbruch liegt in der Tendenz unserer Eliten jede Verbindlichkeit gegenüber dem Bürgersouverän frech aufzukündigen, – ihn „auf die Plätze zu verweisen“. Diese Form der (Re-)Feudalisierung ist geschichtlich ebenfalls bestens bekannt. Die Kenntlichkeit, das Selbstverständnis der Beteiligten leugnet hierüber jedoch, und täuscht so willentlich. Genau hier wird es kriminell.

Freiburger
1 Jahr her

Was für die Elite vernünftig ist, müssen die Schafe nicht wissen. Vielmehr wird den Schafen mittels Massenmedien das einprogrammiert, was für die Elite günstig ist.

BOESMENSCH
1 Jahr her

Nicht ohne Grund hielt Popper die (deutschen) Grünen für ein überflüssiges Übel.

LadyGrilka55
1 Jahr her
Antworten an  BOESMENSCH

Wobei anzumerken ist, dass – abgesehen von der AfD – die deutsche Parteienlandschaft mittlerweile von Grünen und Ergrünten nur so wimmelt.

Und da selbiges auch für die Mainstreammedienlandschaft gilt, hat man die AfD erfolgreich zur No-go-Partei diffamiert, um die zerstörerische grüne Agenda, die ALLE Altparteien infiziert hat, hemmungslos durchpeitschen zu können.

thinkSelf
1 Jahr her

„Der Versuch, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, produzierte stets die Hölle“ Hier irrt der von mir sehr geschätzte Popper. Und es handelt sich um denselben Irrtum, der auch in folgendem Satz steckt: „Die selbsternannten, „woken“ Intellektuellen sind auf das Gute geeicht, …“ So wie es den Höllenproduzenten tatsächlich von Anfang an darum geht exakt die Hölle zu schaffen die sich durch ihr Handeln einstellt, so sind die „woken Intellektuellen“ keineswegs auf das Gute geeicht. Ganz im Gegenteil. Das es ihnen um „das Gute“ geht ist Lüge, Propaganda und Camouflage für die nützlichen Idioten die man zur Umsetzung seiner Pläne… Mehr

LadyGrilka55
1 Jahr her
Antworten an  thinkSelf

„… das Böse … immer banal, klein, hinterhältig, gemein und fies …“ Zumindest zu diesem „Phänomenbereich“ des Bösen haben m.E. eine Menge Leute „mentalen Zugang“. Das haben sie im Umgang mit den Ungeimpften während der Corona-Zeit unwiderlegbar bewiesen. Sie sind wieder aus ihren Löchern gekrochen, die banalen, kleinen, hinterhältigen, gemeinen und fiesen Denunzianten und Blockwarte, heute eher rot und grün getüncht denn braun, und haben nach Kräften denen, die nicht wie sie sind, die Hölle bereitet. Die Gemeinheiten, die sie von sich gegeben haben und noch immer von sich geben, kann man auf ich-habe-mitgemacht.de nachlesen. Und einige Internettrolle gingen noch… Mehr

Last edited 1 Jahr her by LadyGrilka55
Susanne H.
1 Jahr her

Die Crux dieser Gut-Böse Differenzierung ist der Fakt, dass die woke- Gemeinde definiert und vorgibt was „gut“ zu sein hat. Dabei ist dies keineswegs immer so schlüssig, immer im Vorteil ist aber wer zwischen Sinn und Unsinn einer Sache unterscheidet. Und da sieht es woke-technisch düster aus.

giesemann
1 Jahr her

Denkverbote halte ich nicht für besonders kritisch – DenkGEbote wären eher hilfreich. Erstes Gebot: Du sollst nicht wie ein blindes Huhn nach jedem Körnchen picken. Zweites Gebot: Du sollst nicht blödsichtig sein. Drittes Gebot: Du sollst die Vernunft heiligen. Usw.

LadyGrilka55
1 Jahr her
Antworten an  giesemann

Denkverbote kann man (zumindest heute noch) nicht durchsetzen, denn man kann das Denken (noch) nicht kontrollieren. Mehrere DenkGEbote brauchen wir auch nicht. Kant hat uns alles zur Verfügung gestellt, was wir brauchen: „“Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes.ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern in der Entschliessung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines Anderen zu bedienen“ Wem also Verstand gegeben ist, soll sich seiner ohne „Vorbeter“ bedienen, dann kommt er schon auf die richtigen Deutungen und Lösungen. Mehr braucht es nicht. Leider scheint… Mehr

rainer erich
1 Jahr her

Und weil dem so ist und bis auf weiteres so sein wird, mit gewissen kulturellen Unterschieden, geht es nicht um Demokratie oder nicht, sondern um die Frage, wer hat die Macht. Aktuell bzw bereits seit ueber 16 Jahren ist diese Frage leider falsch beantwortet worden, aus exakt den Gruenden, die hier zutreffend skizziert wurden. Unter anderem deshalb sind zwei wichtige Aspekte aktueller denn je : Die Wahl der subjektiv, vermeintlich „Richtigen“, Objekt aber der Falschen und wie schafft man die Machtuebergabe an die realiter Richtigen, „richtig“ definiert als die politisch Verantwortlichen, welche die mehrheitlichen Interessen der Buerger vertreten, angefangen bei… Mehr

LadyGrilka55
1 Jahr her
Antworten an  rainer erich

„… die politisch Verantwortlichen …“ … bzw. deren Fehlen sind genau das, an dem das deutsche Staatswesen so erbärmlich krankt. Denn die heutigen Politiker ÜBERNEHMEN KEINE VERANTWORTUNG mehr. Kaum noch jemand tritt zurück, wenn er sich Fehlleistungen hat zuschulden kommen lassen. Und wenn dann unter massivem Druck doch zurückgetreten wird, dann nicht in Würde und angemessenem Schuldbewusstsein, sondern unter peinlichen Windungen und Ausreden, die als Erklärung herhalten sollen. Wir brauchen Politiker, die wissen, was Verantwortung überhaupt ist und vor wem sie sich zu verantworten haben – nämlich vor ihrem Volk. Wir brauchen also Leute, die Verantwortung tatsächlich übernehmen können und… Mehr

Last edited 1 Jahr her by LadyGrilka55
flo
1 Jahr her

Es geht kaum noch um „wahr“ versus „falsch“, sondern um „gut“ versus „nicht gut“ … „Da gibt es die Denkfetischisten, die Denkfaulen und die Denkverweigerer.“ Und Kreise, die evtl. nicht logisch stringent denken KÖNNEN (vermutlich auch in der Schule matheschwach waren). Nur deshalb können diese Personen Dinge zusammenpacken, die objektiv nicht zueinander passen und sich klar widersprechen. Da hat die Stadt als Seebrücke-Mitglied gaanz „viel Platz“, beklagt aber lautstark die schwindenden freien Unterbringungsmöglichkeiten für Flüchtlinge. Da wünscht man sich, dass der Staat am liebsten von Geburt an keine Geschlechter mehr unterscheidet, beharrt jedoch auf der Frauenquote, die genau auf der… Mehr