Über einen seltenen Fall von Tourette

Über Jahrhunderte strebten die Menschen danach, als möglichst normal zu gelten. Total gestrig. Kaum etwas gilt mittlerweile als so stigmatisierend wie die Zugehörigkeit zur Mehrheit - meint Jan Fleischhauer.

Ich habe ein Interview mit einem Tourette-Forscher gelesen. Tourette ist diese eigenartige Krankheit, bei der die Betroffenen den unkontrollierbaren Zwang verspüren, Beleidigungen von sich zu geben oder anzügliche Gesten zu machen. Sie stehen im Supermarkt und rufen unvermittelt »Arschloch« oder »Wichser«. Manche zucken auch mit dem Kopf oder mit den Armen, was ebenfalls sehr unangenehm sein kann.

In der Öffentlichkeit führten Tourette-Kranke lange eine Randexistenz. Das hat sich geändert. Auf der Bühne, im Fernsehen und in den sozialen Medien begegnet man immer öfter Menschen, die an dieser Störung leiden. Oder das jedenfalls von sich behaupten. Der Tourette-Experte Professor Alexander Münchau von der Universität Lübeck berichtete in dem Interview, dass die öffentliche Präsenz auch deshalb zugenommen habe, weil es immer mehr Fälle von »Pseudo-Tourette« gebe. Eine wachsende Zahl von Menschen würde so tun, als ob sie unter dem Syndrom litten.

Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass man Tourette vortäuschen könnte. Was bezwecken die Leute damit? Wenn man Mitleid erregen will, finden sich einfachere Wege, sollte man meinen. Man kann zum Beispiel so tun, als ob man an einem seltenen Gendefekt leidet oder an einer Krebserkrankung. Falscher Krebs hat zumindest den Vorteil, dass man nicht dauernd in peinliche Situationen gerät. Ich stelle es mir auch furchtbar anstrengend vor, den ganzen Tag zwanghaft Beschimpfungen ausstoßen zu müssen. Das ist wie Tinnitus, nur dass ihn alle hören. Aber wenn man Professor Münchau glauben kann, finden es manche Menschen so attraktiv, dass sie sogar Videos davon drehen und auf YouTube stellen.

Ich glaube, der eigentliche Kick besteht darin, einer Minderheit anzugehören, in diesem Fall einer sehr exklusiven. Je ausgefallener die Krankheit, desto größer die Anteilnahme. Irgendein Leiden hat heute jeder. Aber eine Störung, bei der man von außergewöhnlichen Tics heimgesucht wird? Da ist einem die Aufmerksamkeit sicher.

Wir leben in minderheitsbewussten Zeiten. Oder sollte man besser sagen: minderheitsbesessenen?

How dare you!
Jan Fleischhauer ist so frei, sich unbeliebt zu machen
Über Jahrhunderte strebten die Menschen danach, als möglichst normal zu gelten. Total gestrig. Kaum etwas gilt mittlerweile als so stigmatisierend wie die Zugehörigkeit zur Mehrheit. Wer Durchschnitt ist, also weiß, etwas älter und ohne Vorfahren, die aus fremden Ländern nach Deutschland gekommen sind, sitzt schnell auf der Anklagebank. Es heißt dann, man sei »privilegiert«. Als »privilegiert« gilt im Prinzip jeder, der nicht mindestens ein Minderheitenmerkmal geltend machen kann. Zur Not geht das weibliche Geschlecht als Ausweis durch, auch wenn Frauen in der Bevölkerung rechnerisch immer noch die Mehrheit stellen. Darüber wird zum Glück hinweggesehen.

Schwer zu sagen, wann der Aufstieg der Minderheit von der Randgruppe zur kulturellen Leitinstanz begonnen hat. Ich erinnere mich noch gut, wie wir in meiner Schulzeit Anfang der Achtzigerjahre rosa Winkel an den Parka steckten, um Solidarität mit der gerade erwachenden Schwulenbewegung zu zeigen. Schon als 17-Jährige hatten wir ein klares Gefühl, dass es nicht besonders heroisch ist, wenn man aus einem Mittelschichtshaushalt in Hamburg-Wellingsbüttel stammt. Da konnte ein Flirt mit dem Leben am Rande der Gesellschaft nicht schaden, auch wenn man selbst nie auf die Idee gekommen wäre, diesem Leben über die Koketterie hinaus näherzutreten.

Eine Minderheit, die heute besonders entschieden auftritt, sind junge, aktivistisch veranlagte Migrant*innen. Der Durchschnittsdeutsche firmiert in diesem Milieu als »Kartoffel«, was man als Kartoffeldeutscher aber nicht persönlich nehmen sollte. Wie bei allen sozialen Gruppen gibt es Unterschiede. Auch die Minderheit hat ihre Aristokratie. Die Stellung innerhalb der Gruppenhierarchie bemisst sich nach dem Grad der Exotik. Wer aus Polen stammt, steht eher am unteren Ende der Minderheitenleiter. Polen ist migrationstechnisch das, was der Discounter im Handel ist: ehrlich, aber unsexy. Deutlich besser sieht es aus, wenn man auf einen türkischen oder arabischen Elternteil verweisen kann. Die Stars der Bewegung hingegen sind die PoC.

Ich fürchte, nicht wenige Leser werden das für ein exotisches Gemüse halten, wie man es in der asiatischen Küche verwendet. Da sich diese Kolumne der Aufklärung verpflichtet fühlt, deshalb der Hinweis: PoC steht für »People of Color«. Ich weiß, was der eine oder andere jetzt einwenden will: Der Verweis auf die »Farbe« von Menschen klingt fragwürdig, nur sehr alte Menschen sprechen heute noch von »Farbigen«. Aber so ist es jetzt entschieden. Wer ganz korrekt ist, sagt übrigens PoCI – People of Color and Indigenous Origin, also Personen von Farbe und ursprünglicher Herkunft.

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Um als Minderheitenfeind zu gelten, ist es völlig unerheblich, für wie aufgeschlossen man sich selbst hält. Als wegweisend kann hier ein Buch der Journalistin Alice Hasters gelten, das in der Szene gerade gefeiert wird und den Titel »Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen« trägt. Die Lösung, die die Autorin darin anbietet, ist so einfach wie naheliegend: Erst wenn alle weißen Deutschen anerkennen, dass sie Teil eines rassistischen Systems sind, wird der Weg frei zu einer Welt ohne Rassismus.

Theoretisch strebt jede Minderheit danach, Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft zu finden. Der Grundgedanke der Emanzipation ist ja, dass man seine Sonderexistenz aufgibt und im wahrsten Sinne Mainstream wird. Leider verliert man damit auch die Vorteile, die der Minderheitenstatus mit sich bringt.

Ein Kollege von mir ist knallschwul. Er hat nie ein Hehl aus seiner sexuellen Orientierung gemacht. Trotzdem würde er nie sagen, er sei deshalb nicht Ressortleiter geworden, weil er schwul ist. Das ist für mich Emanzipation: Wer sich als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft empfindet, wird den Grund für Rückschläge oder Karriereenttäuschungen in der Gemeinheit seiner Vorgesetzten sehen, vielleicht auch in persönlichen Defiziten, aber jedenfalls nicht in der Vorurteilsstruktur des Systems, das ihn nicht hochkommen ließ, weil er anders ist.

Es ist sicher kein Zufall, dass sich das Bild der Schwulen in der linken Szene verändert hat. Viele Schwule sind wie mein Kollege: weiß, relativ gut verdienend, körperbewusst und, was die Masseneinwanderung junger Männer aus extrem schwulenfeindlichen Gesellschaften angeht, eher skeptisch. Auf die Solidarität der linken Mitstreiter von einst kann mein Kollege nicht mehr setzen. Tatsächlich gelten Leute wie er als Verräter.

Es gibt für Schwule wie ihn ein neues Schimpfwort. Man spricht im progressiven Milieu vom »Homonationalismus«. Klingt noch schlimmer als Nationalismus. Wie gut, dass ich nur weiß und privilegiert bin.

Der Originaltitel dieser Kolumne lautet vollständig: »Über einen seltenen Fall von Tourette und die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen«. Sie erscheint als vom Autor und Verlag genehmigter Auszug aus:

Jan Fleischhauer, How dare you! Vom Vorteil eine eigene Meinung zu haben, wenn alle dasselbe denken. Siedler, Hardcover mit Schutzumschlag, 304 Seiten, 20,00 €


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Kommentare ( 13 )

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StefanB
3 Jahre her

Eine wahnsinnige, aber gar nicht so kleine Minderheit oktroyiert der Mehrheit, wer Rassist oder Homonationalist ist und wer zu den „unterdrückten Minderheiten“ gehört (= sogenannte Opfergruppenindustrie). Eine Mehrheit die sich das gefallen lässt, hat nichts besseres verdient, als dafür in mehrfacher Hinsicht zu zahlen.

Karsten Paulsen
3 Jahre her

„Über Jahrhunderte strebten die Menschen danach, als möglichst normal zu gelten.“ Darauf konnte ich als Kind noch setzten. Wenn ich mit unserer Mutter von der Insel aufs festland übesetzten und nach einem unendlich langen Tag endlich mit allen Besorgungen fertig waren ging meine Mutter mit mir an der Hand Schmuck den sie sich nicht leisten konnte anschauen. Total langweilig für mich 5 jährigen Jungen, mein Ziel war die Wartestattion bis zur Abfahrt der Fähre, Café ten Cate mit Kuchen und Limonade. Also legte ich an ihrer Hand hängend meinen Körper schief, den Kopf noch mehr, streckte die Zunge raus bis… Mehr

giesemann
3 Jahre her

Deshalb guckt er auch so bübisch aus’m Foto. Ein netter Lausbub, leicht gealtert.

giesemann
3 Jahre her

Wieso, die Mehrheit will das doch: Invasion, Coronamaßnahmen, Coronarinfarkt dank CO2. Populus vult, wer hat ein Problem damit? Außer der Minderheit, die Menschewiki – den Bolschewiki geht’s doch gut.

Thorsten
3 Jahre her
Antworten an  giesemann

uns steht „eine Runde Sowjetunion“ bevor. Am Ende bekommen wir einen „Euro-Putin“ also einen Franco, Napoleon oder noch schlimmer ..

Johann Thiel
3 Jahre her
Antworten an  Thorsten

„eine Runde Sowjetunion“
Der war richtig klasse und vor allem treffend.

Nachdenkerin X
3 Jahre her

„People of Color and Indigenous Origin, also Personen von Farbe und ursprünglicher Herkunft“.
Na, mit der Bezeichung haben die sich aber ein Kuckucksei ins Nest gelegt. In den USA (oder auch in Südamerika) haben die weißen Amerikaner eindeutig die schlechteren Karten, denn da gibt es ja tatsächlich die Indigenen Indianer. (Darf man die überhaupt noch so nennen, oder gibt es da auch einen Sprachpolizisten??) Aber hier in Europa sind doch wir Deutschen oder Franzosen oder Schweden (beliebig ergänzbar) die UREINWOHNER. Indigener geht doch gar nicht.

Montgelas
3 Jahre her
Antworten an  Nachdenkerin X

Rothaut darf man wohl nicht mehr sagen?

Montgelas
3 Jahre her

Ich selbst leide an Tourette. Es handelt sich um die TV-induzierte Form, die in der Regel zu bestimmten Uhrzeiten auftritt und nur nach dem Betätigen des Einschaltknopfes. Die Anfälle kommen regelmäßig dann, wenn ich im Heute-Journal ein gewisses Moderatorenpaar sehe oder nach dem Tatort nicht schnell genug bin, um eine gewisse Talkshow-Moderatorin wegzudrücken. Politisch korrekt geframte Krimis haben denselben Effekt, ebenso Interviews mit gewissen Virologen… Eigentlich stellen diese Anfälle für mich selbst kein Problem dar, im Gegenteil – solange nicht meine Frau daneben sitzt, die für mein temporäres Tourette leider nur wenig Verständnis hat.

Andreas Stueve
3 Jahre her
Antworten an  Montgelas

Guter Kommentar. Leider kann ich den “ Daumen runter „, den ich versehentlich gedrückt habe, nicht löschen. Verzeihung.

G Koerner
3 Jahre her
Antworten an  Montgelas

Wenn Sie heute abend unbedingt wieder einen Tourette-Anfall bekommen wollen, dann müssen Sie sich unbedingt „den Schuß in der Nacht“ antun. Allerbestes links-pädagogisches Gesinnungsfernsehen vom aller Feinsten.

Gerro Medicus
3 Jahre her

Ich glaube, es ist viel einfacher. Mit Tourette kann man andere aufs übelste beleidigen, ohne ndass man dafür dann strafrechtlich belangt werden kann. Aus meiner Sicht: genau darum geht es!

EDELSACHSE 57
3 Jahre her
Antworten an  Gerro Medicus

Genauso ist es.Sich dann als Opfer darstellen.Auf die böse intolerante Gesellschaft schimpfen.Möglichst dabei noch ein Video vom Kollegen drehen lassen und auf den soz.Medien hochladen.