Houellebecq und die Nostalgie nach den Zeiten der Liebe

Michel Houellebecq stellt die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Liebe – um dann festzustellen, dass diese Bedingungen, nämlich Ehe und Familie, vom radikalindividualistischen Zeitgeist demontiert worden sind. „Elementarteilchen“ variiert sein Hauptthema: Endlichkeit. Von Norbert Bolz

Der Titel des Romans ist ein Begriff der modernen Naturwissenschaften. „Elementarteilchen“, das 1998 erschien, fügt sich also von vornherein in ein Deutungsschema ein, das der Soziologe Max Weber schon vor über hundert Jahren die „Entzauberung der Welt durch Wissenschaft“ genannt hat. Das Resultat dieses Prozesses, der bei Nietzsche so poetisch „Die Wüste wächst“ heißt, ist eine nihilistische Weltsicht. Aber Michel Houellebecqs Buch behandelt keinen aktiven Nihilismus wie Nietzsche, sondern es beschreibt einen unwiderstehlichen Sog, gegen den es keine Kräfte des Widerstands mehr gibt.

Die Welt der „Elementarteilchen“ ist die Welt nach dem Tod Gottes, in der der Bodensatz der Kultur wieder aufdringlich wird, und zwar in den Formen der Sexualität und Aggressivität. Die Aggressivität von Fanatismus und Terror wird von Houellebecqs Figuren resigniert-gleichgültig hingenommen.

Aber auch die 68er-Utopie der befreiten Sexualität ist längst in Fatalismus umgeschlagen. Obwohl es immer wieder pornografische Einschübe gibt, die die Möglichkeit von Glück suggerieren und den Leser bei Laune halten sollen, scheitern doch alle Figuren Houellebecqs auf dem Henry-­Miller-Weg in den sexuellen Existenzialismus.

Und dem entspricht präzise die Nostalgie nach den Zeiten der Liebe, die den ganzen Roman durchzieht. Er stellt die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Liebe – um dann festzustellen, dass diese Bedingungen, nämlich Ehe und Familie, vom radikalindividualistischen Zeitgeist dementiert und demontiert worden sind.

Houellebecq öffnet die Büchse der Pandora
Lass uns mit der Liebe beginnen, jetzt, wo alles zu Ende geht
Dass „Elementarteilchen“ ein philosophischer Roman ist, zeigt sich am deutlichsten an seinem Hauptthema: Endlichkeit. Der Tod ist für die Hauptfiguren die absolute Drohung, und ihr Leben erscheint ihnen nur als ein Warten auf den Tod. Dabei scheitern sie auch auf dem philosophischen Weg. Weder der epikureische noch der stoische Umgang mit dem Tod lässt sich länger plausibel machen.

Und auch das Heilmittel, das andere Pessimisten und Moralisten empfehlen, der Humor, führt in Houellebecqs Welt zu nichts. Täglich mehren sich die Spuren des körperlichen Zerfalls, der dann in einer Art geschichtsphilosophischer Projektion zum Sinnbild für den Zerfall der westlichen Kultur erhoben wird.

Auf diese Art werden die höchsten metaphysischen Fragen auf der Ebene der trivialsten Alltagswirklichkeit abgehandelt. Wenn Kant meinte, unsere praktische Vernunft könne nicht ohne die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit funktionieren, dann wird daraus in Houellebecqs Roman eine ontologische Leere, die Unvorhersehbarkeit von Synapsenschaltungen, das Warten auf den Tod – und ein kompensatorischer Jugendkult, der krampfhaft über die Leere hinwegtäuscht.

Nach dem Weltalter des Christentums kam der Materialismus der Neuzeit, und heute treten wir in ein neues Weltalter der Transhumanität. Ihr Ideal ist die gentechnische Konstruktion. Zu Deutsch: Der Mensch verschwindet und ersetzt sich selbst.

Nach wie vor relevant: „Unterwerfung“
Houellebecq ist für die Anamnese der europäischen Krankheit unverzichtbar
Nach diesem Ende des Menschen gibt es eigentlich nichts mehr zu sagen. Und deshalb wiederholen auch die anderen Romane Houellebecqs lediglich diese Leitmotive. Natürlich ist ihm mit „Unterwerfung“, einem Roman über die Islamisierung der westlichen Kultur und unsere geistige Kapitulation, dann noch einmal ein ganz großer Wurf gelungen. Aber im Grunde bleibt „Elementarteilchen“ sein bestes Werk.

Doch ist es auch ein gutes? Es klingt paradox, aber trifft doch wohl den Kern des Phänomens Houellebecq, wenn man sagt: Er ist ein faszinierender, aber kein guter Schriftsteller.

Es spricht für ihn, dass er das selbst erkannt und sehr gut auf den Begriff gebracht hat. Seine Hauptfigur Bruno sagt einmal: „Aldous Huxley ist ohne jeden Zweifel ein sehr schlechter Schriftsteller, seine Sätze sind schwerfällig und ohne jede Eleganz, seine Romanfiguren sind langweilig und didaktisch. Aber er hat die grundlegende Intuition gehabt, dass die Entwicklung der menschlichen Gesellschaften seit mehreren Jahrhunderten ausschließlich durch die wissenschaftliche und technologische Entwicklung gesteuert worden ist und immer mehr gesteuert werden wird.“

Man muss nur den Namen Huxley durch Houellebecq ersetzen, um zu einem etwas zu harten, aber letztlich gerechten Urteil über diesen Roman zu kommen.


NORBERT BOLZ ist Philosoph und Kommunikationswissenschaftler. Er lehrte bis zu seiner Pensionierung 2018 als Medienwissenschaftler an der TU Berlin. In vielen seiner Publikationen analysiert er die zunehmende Verunsicherung postmoderner Gesellschaften.

Michel Houellebecq, Elementarteilchen. Roman. DuMont Verlag, Taschenbuchausgabe, 357 Seiten, 12,00 €.


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Kommentare ( 1 )

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WandererX
11 Monate her

Dieser Transhumanismus ist, wie jeder -ismus, doch nur eine Variante dieses Paares Idealismus- Materialismus! In der liberalist- ischen Demokratie ist dessen Dominanz nur schwer zu brechen, weil nunmal Erwerb und Konsum da die Basis der uns äußeren oder offiz.- öffentl. Kultur darstellen und diese damit als Mainstream verflacht. Aber es gibt natürlich tausende Gegenbewegungen, weshalb es keinen Grund für den massiven Pessimismus von Houellebecq gibt.