Ewige Schuld? 75 Jahre deutsch-jüdisch-israelische Beziehungen

Wenn einerseits Israel, die Juden und das Ausland die Deutschen vor dem Horizont deutscher Vergangenheit betrachten, die Deutschen sich selbst aber aus gegenwärtiger Perspektive sehen, dann leben zwar beide Seiten in derselben Zeit, denken aber in unterschiedlichen Zeitbezügen. Von Michael Wolffsohn

Ob schwarz oder rot, grün oder blau-gelb – die Parteien und ihre Spitzenpolitiker drücken mehr oder weniger geschickt und taktvoll das aus, was die Mehrheit der Deutschen laut Umfragen denkt: Dass vor allem die nach 1945 Geborenen an den nationalsozialistischen Verbrechen nicht schuldig und für diese Greueltaten nicht verantwortlich seien.

Bundespräsident von Weizsäcker hat am 8. Mai 1985 überzeugend erklärt, weswegen Schuld nicht kollektiv, sondern nur individuell sein könne. Er hat theoretisch recht. Praktisch, das heißt politisch, ist die Trennung von individueller und kollektiver Schuld reine Theorie. Sie ist überzeugend und ehrenwert, ja wünschenswert, aber sie ist akademisch, denn außenpolitisch tritt der Staat mit seinen Amtsträgern als Verkörperung der Allgemeinheit in Erscheinung, nicht der einzelne Bürger, sei er alt oder jung, schuldig oder unschuldig.

Die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands ist schon längst nicht mehr reine Geschichte; sie wurde zum politischen Instrument. Bei Bedarf bedienen sich Nichtdeutsche dieses Instruments, seien diese Nichtdeutschen nun Juden oder Nichtjuden.

Von dem realen Deutschen und vom realen Deutschland ist dieses Instrument längst abgelöst, aber gerade deswegen ist und bleibt es so wirksam – und wer lässt sich freiwillig ein bewährtes, weil erfolgversprechendes politisches Instrument aus der Hand schlagen?

"Ewige Schuld?"
Michael Wolffsohn – Über die Sehnsucht, nie wieder Täter sein zu wollen
Das Instrument des Antigermanismus ist ebenso wirksam wie das des Antijudaismus, der sich ebenfalls von seinem Objekt verselbstständigt hat. Der Antijudaismus hat mit dem realen Juden und dem realen Judentum, wenn überhaupt, nur sehr wenig gemein. Der Antigermanismus als Instrument zeichnet, verzeichnet und überzeichnet das heutige Deutschland ebenso wie einst der Jude nur als Fratze dargestellt wurde. Seit Jahrtausenden leben die Juden mit dem Antijudaismus, die Deutschen werden sich, wohl oder übel, an die Allgegenwart des Antigermanismus gewöhnen müssen. Er wird ihnen nicht nur die Israel- und Nahostpolitik, sondern jegliche Politik erschweren.

Als Neu-Kanzler Olaf Scholz (SPD) und Neu-Außenministerin Annalena Baerbock Polen ihren deutscherseits seit Jahrzehnten üblich frühen Antrittsbesuch abstatteten, empfingen sie zahlreiche Großplakate mit Hakenkreuzen und ähnlich freundlichen Willkommenszeichen.

Nachwelt reagiert wie Pawlows Hund

Überspitzt formuliert ließe sich aus der Geschichte der Juden für die Zukunft der Deutschen eine Art Analogie ableiten, die Ablauf und Wirkungsweise der politischen Mechanik kennzeichnet: Ähnlich wie die Juden rund zweitausend Jahre als Christusmörder gebrandmarkt wurden, bleibt der Holocaust, der Judenmord, für Jahrhunderte an den Deutschen haften.

In beiden Fällen waren die jeweiligen Zeitgenossen nicht kollektiv schuldig; in beiden Fällen tragen die nachfolgenden Generationen überhaupt keine Schuld  –  weder individuell noch kollektiv; doch in beiden Fällen bleibt das Kainszeichen ein übernommenes Instrument und Argument gegen ihre Vorfahren, sie selbst und ihre Nachfahren. Die Nachwelt reagiert im Bereich der Politik wie der Pawlowsche Hund: In bezug auf die Juden hieß der bedingte Reflex „Christusmörder“, in Bezug auf Deutschland heißt er – und das wird lange so bleiben – Auschwitz.

Offenbar ist historische Erinnerung ohne verfälschende Verallgemeinerung und kollektive Schuldzuweisung kaum möglich. Wir bezeichnen diese Art der Weitergabe historischer Erinnerungen an die folgenden Generationen als politische Mechanik. Hier haben wir die politische Mechanik des Antisemitismus und des Antigermanismus skizziert. Man muss sie kennen, will man ihre Wirkung abschwächen.

Dass die Deutschen, besonders die nach 1945 geborenen, heute auf diese politische Mechanik national-kollektiver Schuldzuweisung immer ärgerlicher reagieren und morgen noch ärgerlicher reagieren könnten, ist nicht unverständlich. Verständlich, weil sie eben nicht individuell schuldig wurden. Verständlich, weil es wirklich ernsthafte und aufrichtige Bemühungen gab und gibt, ein nicht-braunes Deutschland aufzubauen oder zu festigen. Verständlich wegen des biologischen und generationellen Wechsels und verständlich, weil der Antigermanismus letztlich, ebenso wie der Antisemitismus, eine politische Abart der Biologie darstellt.

Dieser politische Biologismus ordnet Menschen aufgrund ihrer geburtsbedingten nationalen und religiösen Herkunft, nicht aufgrund ihrer Eigenschaften oder Verhaltensweisen, den Mächten des Lichtes oder den Mächten des Dunkels zu – ein für allemal. Er ist damit radikal gegen die Tradition der Aufklärung gerichtet, die für den Einzelmenschen die Fesseln der Geburt sprengen wollte.

Ironie der Geschichte

Während Deutschland zwischen 1933 und 1945 den politischen Biologismus zur herrschenden Ideologie erhob, schlägt er heute gegen die Bundesrepublik zurück  – auch eine Ironie der Geschichte. Die nach 1945 geborenen Deutschen gehören ebensowenig automatisch zu den Mächten des Dunkels wie die nachgeborenen Juden, Israelis oder andere Ausländer zu den Mächten des Lichtes.

Antizionismus ist weit mehr als Israelkritik
Israel, Orthodoxie oder das jüdische Nichts
Wenn einerseits Israel, die Juden und das Ausland die Deutschen vor dem Horizont deutscher Vergangenheit betrachten, die Deutschen sich selbst aber aus der Perspektive der Gegenwart und Zukunft sehen, dann sollten wir von einer Ungleichzeitigkeit sprechen.

Mit anderen Worten: Beide Seiten leben in derselben Zeit und denken in unterschiedlichen Zeitbezügen. Das Wir-Gefühl der nachgeborenen Deutschen bezieht sich vor allem auf das Hier und Heute, das Wir-Gefühl der nachgeborenen Juden auf das Dort und Gestern. Das mag man vielleicht kritisieren, doch muss man es zunächst registrieren, um es dann korrigieren zu können.

Verstimmungen verstärken sich

Diese theoretische Feststellung über die Ungleichzeitigkeit ist praktischpolitisch außerordentlich brisant. Sie besagt nämlich, dass die Verstimmungen zwischen Deutschland und Israel, Deutschland und den Juden, zwischen Deutschland und dem Ausland generationsbedingt tendenziell immer heftiger werden müssen. Die nachgeborenen Generationen der Deutschen und Nicht-Deutschen, der Deutschen und Juden, bewegen sich geschichtspolitisch voneinander weg, nicht aufeinander zu.

Die politische Mechanik und der politische Biologismus des Antigermanismus werden Deutschlands geschichtspolitische Schwierigkeiten mit dem Ausland, natürlich auch mit Israel und den Diasporajuden, größer, nicht kleiner werden lassen.

Israel und die Juden sind allerdings Extremfälle der politischen Mechanik und des politischen Biologismus des Antigermanismus. Das (Fremd-)Bild von den Deutschen, auch das der Nachgeborenen, wird auf diese Weise durch den Holocaust negativ bestimmt. Jüdische Identität, weniger israelische, wird bei den Nachgeborenen ebenfalls durch den Holocaust entscheidend bestimmt, auch und gerade bei den nachgeborenen Juden.

In einer weitgehend unreligiösen Welt stiftet das Judentum als Religion bei der Mehrheit keine jüdische Identität mehr; die Geschichte, die Leidensgeschichte ihres Volkes, besonders der Holocaust, prägt die Identität der Juden, die sich an den Holocaust geradezu klammern müssen, um ihre religiös entjudaisierte Identität durch die jüdische Geschichte wieder zu judaisieren; sie brauchen hierfür nicht zuletzt ein Deutschland mit dem Kainszeichen des Holocaust – ganz abgesehen vom politischen Biologismus und der politischen Mechanik des Antigermanismus; sie sind an Deutschland ebenso gekettet, wie Deutschland an sie gekettet ist. Wir werden diesen Zusammenhang aus der Sicht Israels und des Diasporajudentums in den Kapiteln über die Funktion des Holocaust in Israel und über Deutschlands Juden noch näher erläutern.

Die einen, die meisten nachgeborenen Deutschen, wollen aus dieser zwangsläufigen Bindung fliehen, die anderen, die Juden, können sie nicht fliehen lassen, ohne ihr Judentum zu gefährden. Indem der Holocaust zunehmend oder sogar ausschließlich Symbol jüdischer Identität wird, „droht sich zugleich eine andere Schere aufzutun: zwischen den Nachfahren der Täter und denen der Opfer“ (der Althistoriker Christian Meier).

Auszug aus:
Michael Wolffsohn, Ewige Schuld? 75 Jahre deutsch-jüdisch-israelische Beziehungen. LMV, Klappenbroschur, 304 Seiten, 24,00 €


Empfohlen von Tichys Einblick. Erhältlich im Tichys Einblick Shop >>>

Unterstützung
oder

Kommentare ( 3 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

3 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
Marcel Seiler
1 Jahr her

„Die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands … Bei Bedarf bedienen sich Nichtdeutsche dieses Instruments, seien diese Nichtdeutschen nun Juden oder Nichtjuden.“ – Hier irrt Autor Wolffsohn.

Nicht Nichtdeutsche, sondern hauptsächlich Deutsche bedienen sich der nationalsozialistischen Vergangenheit („Auschwitz“), um die anderen Deutschen durch Scham niederzumachen, zu beherrschen und um sich selbst moralisch zu erhöhen. Jüdische Freunde haben mir niemals mein Deutschsein vorgehalten. Niemals. Deutsche linke Lehrer, deutsche Pastoren, Bundespräsidenten – sie tun es seit ich denken kann. Dieser deutsche „Antigermanismus“ macht mich wütend.

Last edited 1 Jahr her by Marcel Seiler
Styrian
1 Jahr her

Es gibt keinen einzigen Bundesdeutschen, der in sein Leben wirklich von Antigermanismus betroffen war. Wenn Sie ehrlich wären Herr Wolffsohn, dann würden Sie auch daran erinnern, dass es tatsächlich Deutsche gibt, die für Auschwitz, den Holocaust bezahlt haben und dass nicht, weil sie mehr oder weniger schuld an diese Verbrechen hätten. Sie heißen Banater Schwaben oder Siebenbürger Sachsen. Diese Volksgruppen wurden kollektiv für Verbrechen, die im deutschen Namen verübt wurden, nach Sibirien deportiert. Bis heute werden Deutsche, die in Rumänien leben müssen, als Hitleristen beschimpft. Ich lese auch immer öfter in den letzten Jahren, Juden würden sich in Deutschland nicht mehr… Mehr

Bernhardino
1 Jahr her

Ich habe kein Schuld, eine Erbschuld schon gleich gar nicht, lade keine Schuld auf mich und werde keine fremde Schuld annehmen. Israel samt Einwohnern ist für mich ein Land wie jedes andere.