„Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ – Teil 1: Migration und Integration

Andreas Rödders Buch empfehle ich zur Vorbeugung gegen Zukunftsangst und als Kontra-Indikation bei akuter Weltuntergangs-Stimmung.

Aus diesem Buch lugt zwischen den Seiten  immer wieder die erfrischende Zuversicht des Autors hervor. „Eine kleine Geschichte der Gegenwart“ empfehle ich zur Vorbeugung gegen Zukunftsangst und als Kontra-Indikation bei  akuter Weltuntergangs-Stimmung. Der Historiker Andreas Rödder hält unbeirrt am Mythos Fortschritt fest. Nichts ist sicher, das ist sicher. Rödder: „Was als Kompass hilft, ist Offenheit statt Selbstgewissheit. Das gilt für unvorhergesehene Gefahren, für neue Bedrohungen der Freiheit oder für unerwartete Konflikte.“

„Einwanderungsland aus Versehen“

So überschreibt der Autor die deutsche Entwicklung nach 1945. 40 Millionen kamen in „drei Flutwellen … aus den deutschen Ostgebieten und dem Gebiet der DDR nach Westdeutschland, eine erste vor der roten Armee am Ende des Krieges, eine zweite aus der sowjetischen Besatzungszone und eine dritte vor der kommunistischen Herrschaft in der DDR.“

Rödder erinnert, in den 1960-ern fehlten in der Bundesrepublik, in Großbritannien, Frankreich und  und Belgien Arbeitskräfte, alle begannen welche anzuwerben: aus Südeuropa, Jugoslawien. Griechenland und dann aus Marokko, Tunesien und der Türkei, „die seit 1971 mit einem Drittel aller Ausländer die stärkste Einwanderergruppe in Deutschland stellte.“

Und nun zum Mitschreiben, weil es öfter anders kommt als beabsichtigt, weshalb die Rezepte zur Migration von heute nicht zu kurz denken sollten: Alle Beteiligten gingen davon aus, dass die Gastarbeiter (!) „für eine befristete Zeit in Deutschland bleiben und dann zurückkehren würden. Da aber die deutschen Arbeitgeber kein Interesse daran hatten, immer wieder neue Arbeitskräfte anzulernen, wurden die ursprünglichen Befristungen der Aufenthaltserlaubnis und das Rotationssystem … zunehmend aufgegeben.“ Merke: Vorsicht bei Arbeitskräfte-Wünschen der Industrie, der Anfangsverdacht von Kurzsichtigkeit ist systemisch – wie in der Politik.

Die Gastarbeiter im Nachkriegsboom waren für gering qualifizierte manuelle Tätigkeiten geholt worden, die im Wandel der Arbeitsstruktur als erste überflüssig wurden. Migranten sind wie alle Menschen keine Verfügungsmasse der Obrigkeit. Ihr „Anwerbestopp“ 1973 verstärkte nämlich die Zuwanderung. Rödder: „Denn insbesondere die Arbeitsmigranten aus Nordafrika und der Türkei holten nun ihre Familien nach, wobei türkische Frauen oftmals ohne Sprachkenntnisse und berufliche Qualifikationen nach Deutschland kamen und dort in Isolation lebten. Durch Familiennachzug und hohe Geburtenraten stieg die ausländische Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik zwischen 1973 und 1989 von 4 auf 4,9 Millionen, während die ausländische Erwerbsbevölkerung von 2,6 auf 1,6 Millionen zurückging.“

Rödder konstatiert: „Die Anwerbung der ‚Gastarbeiter‘ erwies sich somit als doppeltes Versehen: Erstens wurden ungelernte Arbeitskräfte angeworben, die bald nicht mehr gebraucht wurden. Zweitens ging ihre zeitlich befristet geplante Anwerbung in dauerhafte Masseneinwanderung mit Integrationsproblemen über.“ Merke: Aus welchen Gründen immer Zuwanderer kommen, niemand kalkuliere mit Rückkehr in ihre Heimatländer.

Die alten Fronten: Homogenität versus Multikulti

Was der Autor über den Status 1982 sagt, führt uns unverändert in die heutige Realität: „Die christlich-liberale Regierung versuchte nach 1982 zunächst, Zuzug zu begrenzen, Rückkehr zu fördern und Dagebliebene zu integrieren. Als insbesondere die Rückkehrförderung nicht die erwarteten Ergebnisse erbrachte, war man hilflos. Die Aussage ‚Deutschland ist kein Einwanderungsland‘ widersprach nicht nur den offensichtlichen Realitäten, sondern auch dem regierungsseitig geförderten Zuzug von Spätaussiedlern, vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion, d.h. Deutschen qua Abstammung samt nicht deutschstämmigen Angehörigen. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums lehnten die Grünen eine auf Abstammung  gegründete Ausländerpolitik ab und traten zugleich für eine uneingeschränkte Aufnahme von Asylbewerbern ein, obwohl das Asylrecht offenkundig nicht nur aus den im Grundgesetz vorgesehenen Gründen politischer Verfolgung in Anspruch genommen wurde. Die politische Diskussion fuhr sich zwischen überkommenen nationalen Homogenitätsvorstellungen und idealisiertem Multikulturalismus fest.“

Obwohl das seit 2000 gültige Staatsangehörigkeitsgesetz Deutschland zum Einwanderungsland erklärt und das Abstammungsprinzip um das Geburtsortprinzip ergänzt, hat sich an Homogenität versus Multikulti in den Einstellungen der Bevölkerung nichts geändert. Fragen, die Rödder nennt, sind nach wie vor offen und werden sich mit den 1-X Millionen, die hinzukommen, weiter oder erst recht stellen – nicht nur in Deutschland, sondern ganz Europa:

  • „Muss ein Muslim die Schmähung des Propheten als Ausdruck pluralistischer Meinungsfreiheit akzeptieren?“
  • „Muss die muslimische Jugendliche am koedukativen Schwimmunterricht teilnehmen?“
  • „Sind Kopftuch oder Burka ein Symbol für die Unterdrückung der Frau oder Gegenstand kultureller Selbstbestimmung?“
  • „Ist Homophobie von Deutschtürken Gegenstand von multikultureller Diversität oder ein Fall für das Antidiskriminierungsgesetz?“
  • „Sollen Imame auf gender mainstreaming verpflichtet werden?“
  • „Ist die Erinnerung an den Holocaust Teil des kulturellen Erbes und des Selbstverständnisses einer eingewanderten Afghanin?“

Seit dem Mikrozensus 2005 gibt es das Wortungetüm „Migrationshintergrund“: Den hat jeder mit mindestens einem nach 1949 zugewanderten oder ausländischem Elternteil. 2013 waren das 15,9 Millionen (19,7 Prozent der Bevölkerung): 9,1 Millionen mit deutscher Staatsbürgerschaft, 6,8 ohne. Rödder: „Ein ‚nationaler Integrationsplan‘, Integrationskurse und die ‚Islamkonferenz‘ strebten eine Verbindung von Integration und Multikulturalismus an. Die hartnäckige Verbindung von sozialer Randständigkeit sowie ethnisch-kultureller und religiöser Fremdheit insbesondere  von  Türken oder Türkischstämmigen blieb jedoch bestehen. Auflösen könnte diese mehrfache Marginalisierung ein breiter sozialer Aufstieg in die deutschen Mittelschichten, und der Weg dorthin führt, so wie die Bildungsreformen der sechziger Jahre die ‚Begabungsreserven‘ in der bundesdeutschen Bevölkerung gehoben haben, über verstärkte Bildung.“

Dass eine große Investition in Bildung und Ausbildung weder zu den erkennbaren Prioritäten der Politik wie der Wirtschaft zählt und nicht längst im Gange ist, lässt mich neben anderem befürchten, dass sich hinter dem Pulverdampf CSU gegen CDU und so weiter in Wahrheit 1982 wiederholt: Man ist hilflos. Von einer Lösung der Asyl- und Zuwanderungsfrage sind Deutschland und die EU noch weit entfernt. Die Debatte beginnt erst. Inzwischen wird weiter improvisiert.

Andreas Rödder: 21.0 Eine kurze Gechichte der Gegenwart. C. H. Beck 2015.

Teil 2 der Rezension beschäftigt sich morgen mit der demographischen Herausforderung.

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