Deutschland – wer will das schon?

Wo waren Sie am 9. November 1989? Erinnern Sie sich noch? Ans ungläubige Staunen? Den rauschhaften Freudentaumel? Der bald mit tausend »Wenns« und »Abers« in Katzenjammer überging? Cora Stephans Portrait der emotionalen Verfasstheit zur Vereinigung der beiden Deutschland verweist auf Spaltungen, die nach über 30 Jahren tiefer geworden zu sein scheinen …

Seltsame Tage in diesem Lande. Da erfüllt sich Axel Springers Lebenswerk, aber der richtige Jubel will nicht aufkommen. Keine nationale Euphorie, kein entgrenzter Taumel, kein Gefühl der Beglücktheit, nur klammes Kirchengeläut. Keine deutsch-deutschen Aufmärsche, keine Demos an der Oder-Neisse-Linie und noch nicht einmal ein ordentlicher Wille, dem Irak zu zeigen, wer wir wirklich sind. Kaum ist man darob froh, dass er sich angesichts der wiedergewonnenen Freiheit zur Vereinigung und der wiedererlangten politischen Verantwortlichkeit halbwegs manierlich verhält, der Deutsche, ist man schon wieder irritiert: Kann er sich denn nicht wenigstens, in Maßen zwar, aber immerhin: freuen?

Kann er nicht. Wirklich nicht. Denn Deutschland – wer will das schon? Schwerlich die Oberstudienrätin und der Kreative, die, frischwegs und gebräunt aus wohlverdientem Jahresurlaub in der Toskana zurückgekehrt, Bedenken tragen müssen, wie sie das neue Deutsche Dingsda ihren italienischen Nachbarn erklären sollen. Heuer gibt’s daher ausnahmsweise einmal nicht die Urlaubsvideoshow für die Freunde, dafür wird am Stammtisch in der Wohnküche gesessen und gehadert: Lieber hätte man sich mit den Niederlanden oder dem Urlaubsland vereinigt oder mit irgendwelchen anderen lebensfrohen südlichen Katholiken, nicht aber mit diesen preußischen Protestanten.

Verwahren muss man sich gegen den »Anschluss« der DDR durch die Bundesrepublik, gegen ihren »Ausverkauf«, gegen ihre »Kohlonialisierung«. Wehren muss man den neuen Anfängen, der Großmannssucht, dem nationalen Wahn, der Weltmachtskoketterie. Und vom Halse halten sollte man sich tunlichst jene Zonis, die ihre Revolution für den Kohlauflauf der sozialen Marktwirtschaft, geb. Monopolkapitalismus, verhökert haben, diese unkultivierten Gesellen, die uns mit ihrem ausländerfeindlichen Gehabe und ihrem schlechten Benehmen den ganzen kosmopolitischen Bonus, den wir uns im Ausland mit harten Devisen hart erkämpft haben, verwirken werden.

Nein nein, es ist nicht nur jene eine Frankfurter Kulturdezernentin, die sich heuer mutig zu Mailand statt zu Leipzig bekennt. Der gesammelte kritische und aufgeklärte Mittelstand führt Völkerschlacht gen Leipzig: Deutschland? Wer will das schon?

Allein die deutschen Greise stürzen sich kregel ins Geschehen, wie der Dichter Patrick Süskind so larmoyant wie selbstironisch anmerkt: die mittlere Generation aber der heute um die 40jährigen steht staunend und früh vollendet auf dem Frankfurter Kreuz und will das alles nicht. Deutschland – igitt.

Gefangene der Zeit
Die Spuren der Geschichte in der Gegenwart entdecken
In Zeiten des Umbruchs und der Veränderung sind ausgerechnet die Zeitgenossen der 68er-Rebellen auf der Seite des Status Quo und mögen keinen Abschied nehmen von ihrer, der Geschichte der Bundesrepublik. Aus der Gegenwart und Zukunft des entstehenden größeren Deutschland haben sie sich bereits jetzt verabschiedet.

Womit ich nun aufhören will, ihnen und mir auch noch Schmäh hinterherzurufen. Denn die Identitätskrise der ersten Nachkriegsgenerationen der Bundesrepublik hat etwas Tragisches, weil – ja, doch! – Notwendiges. Der Verweis auf Auschwitz, der vielen noch im letzten Herbst als Begründung dafür diente, die DDR in ihren Grenzen halten zu wollen, war zwar funktionalistisch und moralisierend auf Kosten anderer, basierte aber auf einem nachvollziehbaren Gefühl – mit dem man indes tunlichst keine Politik machen sollte. Denn mit dem Umbruch in der DDR geht tatsächlich die Nachkriegszeit zuende, hat das Provisorium Bundesrepublik seine Schuldigkeit getan, ist die Zeit der westdeutschen Demokratie unter Vorbehalt an ihr Ende gekommen.

»Die deutsche Frage« ist nicht mehr offen – und damit, fürchtet manch einer, die Tür hinter der deutschen Vergangenheit des Nationalsozialismus zugeknallt. Das »größere Deutschland« könne demnach nur »Grossdeutschland« sein, die »Wiedervereinigung« nur Auftakt zu Nationalismus und Revanchismus. Die antifaschistische Vorstellungswelt aber brauchte die deutsche Zweiteilung schon als Fluchtpunkt, an dem man sich vergewissern konnte, dass man nicht Deutschland, nicht deutsch war und deshalb nicht verantwortlich war für dessen Geschick.

Auch nicht, und das ist die Tücke der Dialektik der Abgrenzung, für dessen Vergangenheit. Die Bundesrepublik, schreibt der Historiker Christian Meier, habe versucht, sich »aus der Geschichte und damit aus der Nation zurückzuziehen« – man verurteilte die Verbrechen und schob sie zugleich den anderen, den Deutschen von damals zu.

Das gilt nicht minder für die antifaschistisch gesonnenen Nachgeborenen, die sich in Identifikation mit den Opfern selbst zum Opfer erklärten – und die schon deshalb nicht ohne Identitätsbedrohung auf die Idee kommen können, die Nachkriegssituation in eigener Regie und eigener Verantwortung beenden zu wollen. Weshalb sie ihren Einfluss auf das etwas größere Deutschland vorauseilend auf Null veranschlagen. So gesehen haben sie recht.

Das Ende der Nachkriegssituation hieße nämlich: das deutsche Erbe wirklich antreten zu müssen und zwar mit allem, was dazu gehört – Kaiserreichen. Weltkriegen. Nationalsozialismus. Menschenvernichtung. Sozialistische Kasernierung.

Denn das vereinte Deutschland kann sich aus seiner Geschichte nicht entfernen. Im Gegenteil: Jetzt erst muss sie wirklich ge- und ertragen werden, nicht nur, weil andere danach fragen werden.

Auszug aus:
Cora Stephan, Im Drüben fischen. Nachrichten von West nach Ost. Edition EXIL im Buchhaus Loschwitz, Englische Broschur, 120 Seiten, 17,00 €.


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Kommentare ( 12 )

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Waldorf
1 Jahr her

wer will das schon…? Wie vieles andere werden es viele dann wissen, wenn es nicht mehr da ist – woran gerade politisch kräftig gearbeitet wird. Politischer Patriotismus ist pfui-bäh und bei uns komplett den „Rechten/Nazis“ überlassen. Das Volk darf mal zu Fußball oder sonstigen WMs ein paar Fähnchen schwenken, aber auch nur wenn der Sportbezug jeden Augenblick zu 100% unzweifelhaft bleibt. Der Identitätsverlust ist insb politisch total, alles was national klingen könnte geht nur als EU-Verballhorung: „wir“ und unsere europäischen Partner. Deutschland findet nicht statt, hat keine deutsche Interessen u handelt entsprechend. Im Rückblick bleibt die Wiedervereinigung insb für alle… Mehr

Oneiroi
1 Jahr her

na die Teilung Deutschlands ist auf jeden Fall ein erstrebenswertes Ziel. Man müsste nur schauen das es politisch passt. Ich könnte mir ein Steuerparadies sachsen gut vorstellen….nach nordirischem Vorbild

merkelinfarkt
1 Jahr her

Die Deutschen und die von ihnen immer wieder gewählten Poliiker wollen von ihrer Nation und nationalen Interessen nichts wissen. Das ist Ihnen zu eng, zu kleinlich, zu schuldig und zu bescheiden. Statt dessen wird „Weltpolitik“ goutiert – und wenn es nur um übermäßige Zahlungen an UNO und EU geht oder es die absurde Weltklimareligion, oder das große Weltflüchtlingmimimi ist. Ja klar geht das schief; und mit Sicherheit werden „die Deutschen“ verarmen und von allen Seiten untergebuttert und zugleich verachtet werden. Das macht aber nichts! Wenn auch die vierte Republik nach Weimar, BRD und DDR sowie Kaiserreich und Staatenbund untergeht, dann… Mehr

Wilhelm Roepke
1 Jahr her

Der Kabarettist Django Asül hat die deutsche Frage für sein Bundesland Bayern erst so beantwortet: „Bayern bildet eine Union mit Österreich und schließt ein Assoziierungsabkommen mit dem Gardasee.“ Genau das war 1989 auch die Reaktion meiner bayerischen Großmutter: „Jetzt sind in den letzten Jahrzehnten schon so viele Preussen zu uns gekommen, jetzt werden es nach dem Mauerfall noch mehr werden. Ach Gott!“ Fairerweise muss man dazu sagen, dass sie den Ausdruck „Preussen“ vorher schon hemmungslos auch auf Emigranten aus Bundesländern wie Schleswig-Holstein oder Bremen anwendete…???

Marcel Seiler
1 Jahr her

Ich stehe zu Deutschland.

Aber die Verantwortung für die Nazi-Verbrechen lasse ich mir nicht in die Schuhe schieben. Dies taten die moralischen Autoritäten meiner Jugend, die uns, die Nachkriegs-Kinder Deutschlands, missbrauchten, um sich durch Schuldverschiebung selbst zu entlasten. Es taten die Linken (links sein war definitiv ein Schutzmechanismus gegen Nazi-Schuld) ebenso wie die Kirchen, denen ich das niemals verzeihen werde. Es passiert immer noch, wenn die Festredner meinen, sich entlasten zu können, indem sie alle (implizit: anderen) auffordern, sich doch bitte zu schämen.

Ohne mich, kann ich da nur sagen.

Oneiroi
1 Jahr her
Antworten an  Marcel Seiler

sehe ich auch so…die meisten westdeutschen scheinen nie gelernt zu haben, das nicht das label links rechts mitte oben unten oder die farben den nazi macht sondern die Methoden….daher glauben die linken sie seien antifaschistisch, sind defacto aber totalitär faschistisch. und Beispiele gibt es genug… angefangen von Hass und Hetze gegen Andersdenkende (ratten in Löcher zurück prügeln), zu den Kindern (Hoheit über die kinderbetten) bis hin zur staatlich geförderten „Israelkritik“ (kassel) usw…die liste ist lang…braucht sich keiner mehr fragen, wie das damals alles möglich war…jeder kann es heute live miterleben

EinBuerger
1 Jahr her

Mit Deutschland haben Sie absolut Recht. Aber dieser woke Hass auf das eigene Land ist doch im gesamten Westen vorhanden. Ohne Nazi-Vorgeschichte. Wie erklärt man sich das?

Fieselsteinchen
1 Jahr her
Antworten an  EinBuerger

Intensiviert in den letzten Jahrzehnten! Dieser „woke Hass“ wuchs als kleine Saatkörner in den USA, Dem-States, dort an den Universitäten, während des Kalten Krieges, psychologische Kriegsführung. Ich bin immer noch der Meinung, dass die heutigen Resultate eine Kombination aus dem langfristigen Ergebnis dieser Aktion sind, die unter Chrustschow Fahrt aufnahm, sowie sich modern, als Nutznießer von Totalitarismus, internationale Geldeliten und antidemokratische Gruppierungen (WEF, dazu auch bspw. König Charles III, der dezidiert die Aufklärung ablehnt) dieser Sache annehmen. Der alte Kampf zwischen „gut“ und „böse“ wurde zwischenzeitlich in die Familien hineingetragen und Deutschland bietet sich nach wie vor als guter Nährboden… Mehr

Kampfkater1969
1 Jahr her

Denn mit dem Umbruch in der DDR geht tatsächlich die Nachkriegszeit zuende, hat das Provisorium Bundesrepublik seine Schuldigkeit getan, ist die Zeit der westdeutschen Demokratie unter Vorbehalt an ihr Ende gekommen. Hmmm, sehe ich anders. Sicher kann man mit dem Jahre 1990 einen Schlussstrich ziehen unter die Nachkriegsordnung. Aber auch diesbezüglich ist Deutschland ja nur ein Anhängsel an die Weltpolitik, wie es immer war und immer noch ist. Die Bonner Republik war eine westliche Nachkriegsordnung, symbolisch hat Mario Thurnes dies meiner Meinung nach treffend am Beispiel der Schwarzwaldklinik abgehandelt. Die DDR-Bürger haben ja scharenweise ihr Land verlassen, um sich eben… Mehr

Oneiroi
1 Jahr her
Antworten an  Kampfkater1969

das Problem ist halt, das in Westdeutschland seit eh und je eine geringere Arbeitsmoral als in vielen Ländern Europas herrschte….siehe Stunden, urlaubstage usw..man ruhte sich Jahrzehntelang auf internationalen Geldgebern aus..und die holen sich das geld nun wieder….es war klar, das sich ein land wie Deutschland das auf Dauer nicht leisten kann. irgendwann kommt die Abrechnung…in sillicon valley steht sie gerade an, im Westen demnächst.

Marcel Seiler
1 Jahr her
Antworten an  Oneiroi

Sorry, aber Arbeitsmoral und -disziplin sind im traditionellen Deutschland verglichen mit anderen Ländern, etwa den USA, enorm hoch. An den Urlaubstagen lässt sich das nicht bemessen.

Deutschland hat aber schon immer, ganz schlimm seit 1990, eine Neidkultur und einen Hang zur Gleichmacherei. Wer gut ist, wird kleingemacht. Exzellente Leistungen entstehen höchstens im Verborgenen. Jetzt kommen Angstkultur („Klima“, „Atom“) und Weltrettungsphantasien dazu. Deutschland geht ein, weil es seine Kraft zur Selbstzerstörung nutzt.

alter weisser Mann
1 Jahr her

Tja, der Westen hat zwar gern gewohnheitsmäßig über die Einheit getönt und sie doch im Grunde nicht erwartet oder gewollt. Man hatte ja den bequemeren Teil. Das anzutretende deutsche Erbe allerdings mit den genannten Aspekten zu umreißen, dafür haben wir doch schon die Deutschland- und Einheitsverächter. Nicht nur wegen denen bin ich an Nachrichten aus dem Westen wenig interessiert, ich hab davon genug live gehört und weiß auf welch dünner Basis weiter getönt wurde und immer noch wird. Immerhin hatte ich die über 30 Jahre lang genug Sinnvolles zu tun, als mir von dort mein Leben vor 1989 erklären und… Mehr